Heliand - 60 - Barrabas.
Die Entscheidung nahte
Durch die hehre Macht Gottes, die Mitte des Tags,
Da sie die Todesqual ertheilen sollten.
Nun lag in Banden dort in der Burg
Ein beschrieener Schächer, der schon in den Landen
Manchen hatt ermordet, viel Menschen erschlage,
Der berüchtigte Räuber; im Reich war seines Gleichen nicht.
Seiner Sünden wegen saß er in Banden dort,
Barrabas geheißen, in den Burgen rings
Durch seine Meinthaten Männiglich bekannt.
Nun war es Landesbrauch den Leuten der Juden,
Daß sie jegliches Jahr um Gotteswillen
An dem heiligen Tage der Verhafteten Einem
Erbitten durften, daß ihm der Burgwart,
Der Lenker der Leute, das Leben schenke.
Da begann der Herzog in der Juden Versammlung
Das Volk zu fragen, das da vor ihm stand,
Welchen von beiden sie ihn bitten wollten
Ihnen freizugeben, die da gefeßelt waren
In harten Haften. Die Häupter der Juden
Hatten die Aermern alle beredet,
daß sie dem Landschächer das Leben erbäten,
Den Dieb sich bedingten, der in düsterer Nacht
Manchen gemeuchelt; den mächtigen Christ jedoch
Am Kreuz quälten. Da ward das kund überall,
Welch Urtheil gefällt war. Nun sollt es vollführt werden,
Erhängt das heilige Kind. Das ward dem Herzog noch
Zu schweren Sorgen, daß er selber wohl wuste,
Wie nur aus Neid den Nothhelfer Christ
Die Herrschenden haßten, und ihnen Gehör gab,
Ihren Willen gewährte. Darum ward ihm Wehe
Zu Lohn in diesem Licht; aber viel längeres
Wehe gewann er, als er die Welt verließ.