Harms, Claus - Das Vater Unser in 11 Predigten - Die zweite Predigt.
Vater unser, der du bist im Himmel.
Gesang 147. Ich singe meiner Seele Lust. V. 8-16.
Wir sind darin, liebe Christen, im Beten, und wollen bleiben darin, im Beten. Oder ließe, was wir jetzt beginnen, dieses doch nicht zu? Allerdings predigen und predigen hören heißt nicht beten. Indes, wenn wir das Gebet lassen den Inhalt der Predigt sein und aus ihr lernen, was, wie, zu wem, mit welchen Gesinnungen gebetet werden soll, wir halten davon, dass Solches nicht fern bleibe vom Beten, dass jeweilen solche Rede sogar in ein Beten übergehe zum Wenigsten innerlich, in daneben gehenden Gedanken beider, des Redenden und der Hörenden. Ein gegebenes Gebet, das heilige Vaterunser soll uns, wie vorigen Sonntag angekündigt worden und angefangen schon, einige Sonntage in der gegenwärtigen Trinitatiszeit hier beschäftigen. Den Namen dieses Gebets, seine Herkunft, seine Einrichtung, seinen Brauch haben wir bereits vor uns vorübergeführt oder, nach dem gebrauchten Ausdruck, den Rahmen des Spiegels haben wir betrachtet, heute fangen wir denn an ihn selbst zu betrachten. Sei, der uns das Vaterunser gegeben hat, bei diesem Werk mit uns!
Was wir neulich hörten vom Brauch dieses Gebets, wir gehen mit darauf aus, dass der Brauch noch allgemeiner werde. Nach dem öffentlichen Brauch eben nicht, da hat und hält das Vaterunser seine Stellen besetzt, und in Betracht dessen ists bloß unser Absehen, dass es mit mehr Verstand und infolgedessen mit mehr Herz gebetet werde. Hingegen der Privatgebrauch muss allgemeiner und fleißiger werden. Da sind zwei Gründe dafür, der eine: Weil Jesus der Geber dieser Gebetes ist, der andere Grund: Weil dasselbige einen Inhalt hat, wie es hat, einen so herrlichen Inhalt. Unbekannt mit dem Vaterunser ist kein Christenmensch, sollte wohl? Wir wissen ja und sagen es heute in Freude, dass wir es können sagen: Auch die Kinder der Armen und Ärmsten in unserer Stadt wird das Vaterunser gelehrt. Aber wir hören anders gefragt, und darnach wollen wir hören: ob es für Christen ein rechtes Gebet sei, dieweil so wenig Christentum, gar keines darin sei? Es muss doch wohl! antworten wir, es muss doch wohl Christentum darin sein, ob auch in Ausdrücken, im Klang der Worte eben nicht. Dieses räumen wir ein und räumen damit ein, dass freilich Israel auch so beten könne, wenn es möchte und vergessen könnte des Vaterunsers Herkunft, nämlich von dem Manne, den Israels Väter ans Kreuz geschlagen. Aber hier, Geliebte, hier schon stoßen wir auf ein Christliches, welches darin ist, wenn auch sonst nichts, dieses: der Geber des Gebets, der Befehler, dass wir es beten sollen, der ist doch darin, diese hohe heilige Person, Jesus Christus, mit einer Anordnung, die wir mit der angeordneten Predigt, mit der angeordneten Taufe, mit dem angeordneten Abendmahl in dem: Solches tut! frei zusammenstellen, ob in anderer Weise auch, ebenso wohl wie im Evangelio und im Sakrament ist Christus in dem angeordneten Vaterunser. Und dann, - Herr, Du wusstest wohl, was Du zu beten befahlst! wer spricht die zweite Bitte mit Verstand, und denkt bei derselben nicht an Christum, den Stifter des Gottesreichs! wer die fünfte Bitte, und denkt bei derselben nicht an Christum, der sein Leben gegeben hat zur Bezahlung für Viele! Marci 10. Wir werden zu seiner Zeit, wenn die Reihe kommt an diese Bitten, das Christliche darin näher sehen. Aber auch des Vaterunsers Anfang schon, die heutige Predigt, enthält wohl eine Erinnerung an 1 Joh. 2, 23: Wer den Sohn leugnet, der hat auch den Vater nicht, und an Gesang 662 V. 4, wer denn weiß: Den Vater hab'. ich, Sohn, in Dir. Das sei heute genug wider den Einwurf, im Vaterunser mangle das Christentum. Darnach lasst uns den Anfang dieses Gebets erwägen und vorher an Textes Stelle ein Vaterunser beten.
Bereitet so, geweiht, ja geheiligt so treten wir denn in Betrachtungen über das heilige Gebet selbst ein und nehmen in dieser Rede den Anfang.
Vater unser, der du bist im Himmel. Ein Anfang ist das, sagen wir davon, der allem Gebet und insonderheit dem Vaterunser recht ist, indem dass dieser Anfang alles Gebet und das Vaterunser bemisst 1) nach der Höhe, 2) nach der Tiefe, 3) nach der Breite, 4) nach der Länge. Gleichwie Epheser 3, 18 die Liebe Christi zum Begreifen vorgehalten wird nach diesen vier Richtungen oder Messungen, so lasst uns bei dem Anfang des Vaterunsers auch tun, dass wir es betrachten, begreifen und ergreifen.
I.
Dürfen wir das? Verträgt ein Gebet das, eine solche Behandlung? vollends ein Gebet, welches den Urheber hat? Dies wäre noch ein Stein vor der Pforte. Wie sollten wir nicht so dürfen! Es kommt gewiss nur auf die Weise an, wie wir's tun. Eine Erklärung hat der Herr zwar selbst nicht gegeben, wie er sie von einigen Gleichnissen gegeben hat, aber den Geist hat er gegeben, durch Hilfe des wir auch manches Wort anders wann geredet, in Anleitung des wir unerklärt gebliebenes Wort erklären und irren nicht, gleichwie auch das Vaterunser von Luther im kleinen und großen Katechismus und von wie vielen Männern in Büchern und Predigten erklärt worden ist. Sei nur das gebrachte Licht niemals von hier und von dort genommen sondern jederzeit bei dem ewigen Licht der Gotteswahrheit selbst angesteckt.
Vater unser, der du bist im Himmel, ein rechter Anfang alles Gebets, denn es weist in die Höhe oder, wie wir sprechen, dies Wort hat eine Höhe. Ob auch der Blick eben nicht allemal, der Gedanke doch, der bei diesem Worte ist, geht jedes Mal in die Höhe hinauf, angemessen auch schon der Gestalt, die uns der Schöpfer gegeben hat, in die Höh'. Es ist die erste Erinnerung, die in jedem gegebenen Gebete liegt, ausgedrückt in einer anderswo noch gebräuchlichen kirchlichen Unstimmung: „Die Herzen aufwärts!“ mit der Erwiderung darauf: „Wir haben die Herzen bei Gott,“ darnach beginnt das Andachtswort, ebenso hat das Vaterunser eine solche Anstimmung in sich selbst aufgenommen, den Weg zeigend und den Ort, wohin nun, und ein Losmachen zeigend von dem, was hienieden ist, in demselben Augenblick. Ach, wir wissen Alle, was uns unten hält und beschwert, bindet den in uns oder das in uns, was da sollte ungebunden sein und unbeschwert und sich nicht sollte halten, an und festhalten lassen, der Geist, den Gott nach seinem Bilde erschaffen hat, der, wie im Gesange 874 es heißt, seinen Ursprung wieder sucht, suchen sollte, der es aber zu oft vergisst und selber seinen Ursprung vergessend nicht daran denkt, was er könnte holen von da und sollt es tun. Warum tut er's nicht? Weil er so lange herabgezogen ist von seinem Fleisch, der Geist von dem Fleisch, darin er wohnt, und von der Erde, darauf er wohnt, und von ihren Gütern, wie sie ihm zuwachsen, wie sie ihm auf den Wassern zuströmen, wie sie aus den Tiefen der Erde für ihn aufgegraben werden, welche Güter, er habe sie oder müsse sie entbehren, den Geist beschweren und geben ihm eine Richtung nach unten. Er nehme seinen Lauf nach oben, erinnert das Vaterunser ihn, und mache sich von der Erde los. Trachtet nach dem, was droben ist. Kol. 3. Spricht jemand, wie werd' ich's los, was mich danieder hält? ich möchte ja gerne! Du möchtest? nun so bete ein Vaterunser und nimm es mit, was dich beschwert, in die Höhe, in den Himmel hinauf. Es wird fallen, während du steigest, und der betende Geist wird noch nicht im Himmel sein, das Vaterunser noch nicht zu Ende gebetet sein, so bist du schon entledigt. Oder, was du von der Erde mitgenommen hast, gleichviel, Erdenleid, Erdenfreud' wird mitgenommen in den Himmel hinein, so nimmt es daselbst eine andere Gestalt, ein anderes Wesen an, als es hatte auf der Erde, bleibt irdisch nicht, wird himmlisch selbst, verklärt, wenn du damit ein Vaterunserlang vor Gott stehst, im Himmel, da er ist. Dann kannst du auch alles wieder mitnehmen in dein Erdenleben zurück, und wirst keine Bindung mehr daran haben und keine Fesselung, kein Daniederhalten mehr darin spüren. Und nähme es ja seine alte Natur wieder an, nachdem du wieder in den alten Kreisen dich bewegt hast damit, was ist's denn weiter? Du kannst ja in jedem Augenblick auch wieder beten und eine Himmelfahrt halten. In der Grundsprache heißt es: der in den Himmeln. Unterscheiden wir nicht, als würde Kinderlehre gehalten, den Wolkenhimmel, den Sternenhimmel und etwa noch einen darüber, sondern lasst uns den Himmel unterscheiden, je nachdem uns ist, wenn wir darin sind mit unserm betenden Geiste, was uns zu Teil werde da. Unterscheiden wir den Himmel des Glaubens, in den wir steigen aus unsern Zweifeln heraus und durch die Wolken des Unglaubens hindurch, da uns Alles vorliegt in hellem Licht, wie wenn das leibliche Auge schaut. Unterscheiden wir den Himmel des Friedens, in den wir uns erheben aus Kampf und Streit und finden da eine selige Einigkeit, ja Einheit, und unsere Zerrissenheit auf der Erde wird da selber zerrissen in kleine Stücke, die der sanfte West jenes Landes alle weghaucht und sind nicht mehr vorhanden. Unterscheiden wir den Himmel der Kraft, in welchem wir aufgehen und lassen unsere Schwachheit zurück, fühlen dort uns an allen Gliedern unserer irdischen Natur gestärkt und scheuen den Rückweg nicht, um zu tragen, um zu tun, was bis dahin uns schwer hieß und gar zu schwer, nun ist es leicht. Unterscheiden wir den Himmel einer seligen Gemeinschaft. Ach, was ist unsere Gemeinschaft hier? Unter den Frommen eine so mangelhafte Mitteilung, da das Beste des Gemüts meistens dahinten bleibt, und dann die Mischung, ebenso viele Spötter als Verehrer, und manche Seel' ist umgeben von lauter Spöttern oder von solchen doch, welche aller Kenntnisse geistlicher Ding' ermangeln, daher es nicht Steg, nicht Brücke gibt zwischen ihr und ihnen. In die Höh', in den Himmel hinauf, da wirst du verstanden von Allen, die da sind, von den frommen Verstorbenen, von denen, welche du nicht gekannt aber doch geliebt hast, und triffst zusammen dort, betende Seele, mit Allen, die auch beten wie du und haben auch den Himmel des Glaubens, des Friedens, der Kraft und Gemeinschaft gesucht wie du, da Gott auch ist und Jesus Christus.
II.
Vater unser, der du bist im Himmel, der rechte Anfang für alles Gebet und für das Vaterunser insonderheit, es bringt uns mit seinem Wort in die Höhe, selbst eine Höh' im Wort, aber es führt uns auch in die Tiefe, eine Tiefe selbst im Wort. Die Tiefe tut sich in dem Gottesnamen Vater auf. Ihr, die ihr eben habt mit dem Redenden den Flug genommen, seid auch bereit, jetzt mit ihm in die Tiefe hinabzusteigen. Wir drücken uns so aus, Höhe, Tiefe, und es ist, wie auch im irdischen Raume beides eins. Nur in den Räumen, da wir uns im Vaterunser bewegen, sind es diesen Bewegungen sich zugesellende Betrachtungen und Empfindungen, die uns eines die Höhe, andres die Tiefe benennen lassen, wie auch ja von Gottes Eigenschaften Eine, die Barmherzigkeit, im Gesang 191, ein Abgrund heißt. Nun das Wort Vater tut diesen Abgrund, wir sprechen diese Tiefe als vor unsern Augen auf. Gottes eignes Wort Jes. 57: „Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum.“ Wo mehr? wo sonst? erhebt sich in uns Niedriggestellten, in uns, die wir uns versunken fühlen, eine Frage, wo mehr als in der Höh' und im Heiligtum? Gott fährt fort: und bei denen, die zerschlagenen und gedemütigten Geistes sind, auf dass ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen. Das ist sehr tief. Wir machen Stiegen dahinab, die eine Stiege: Bey uns also, bei uns. Wo Gott ist, da muss ja der Himmel sein, daher ein Himmel wie über uns, so ein Himmel auch um uns, ja in uns sein, den er aufschlägt in uns und wohnt darin mit uns. Das ist viel. Sonach mag's wohl recht gesagt sein, dass wenn wir beten, so lässt Gott sich eigentlich zu uns herab, mehr als wir zu ihm uns hinaufschwingen. In der Tat so. Wer gedemütigt betet, in dessen Geist ist Gott, lehrt und hilft ihm so beten. welche Tiefe tut sich auf hiermit, und das Licht, bei welchem wir hinabsehen, das ist der Vatername, den er sich geben lässt in dem uns gegebenen Vaterunser. Der Schöpfer ist uns bekannt und der Herr auch, an letzteren erinnert uns Leben und Sterben, Krankheit und Genesung, Wohlstand und Dürftigkeit, Wohlgeraten und Misslingen und all' unser Werk, das wir anfassen, hier aber, mit dem Vaternamen, den er sich geben lässt, tritt er in ein näheres Verhältnis zu uns, und gibt er zugleich uns, der Schöpfer seinen Geschöpfen, einen andern Namen, dass wir nicht sollen heißen Geschöpfe seiner Hand, Kreaturen seiner Hand, sondern, was denn? es liegt im Vaternamen, damit nennt er uns zugleich Kinder. Das kommt ja noch wohl her aus der Stunde, der frühsten einer, in den Tagen der Schöpfung, da Gott sprach: Lasst uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, und schuf den Menschen sich zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. Dessen gedenkt er also und will denn, dass wir auch dessen gedenken sollen, so oft wir Vaterunser beten. Das ist auch ja der teuerste Name und die süßeste Anrede, die es auf Erden gibt, die braucht Gott im Himmel? - und bezeichnet das Verhältnis der innigsten Lieb' und Zugetanheit, in das Verhältnis mit uns will der Hohe und Erhabene eingehen? Das will er? Begreift es jemand? Es streift ans Unglaubliche. Er will unser Vater sein, das heißt ja doch zugleich, wir sollen seine Kinder sein. Vermögen wir's nicht zu begreifen, so können wir es doch ergreifen und tun' es mit jedem gläubigen Vaterunser, fahren in diese Tiefe hinab! Tue so, tue so, du, des Seele selten den Blick ehrender Anerkennung erfährt und nicht häufig die Miene herzlicher Zugetanheit, oder das Gegenteil von beiden noch öfter, Geringschätzung und Kaltsinn selbst unter deinen Nächsten, die deshalb die Wehsten, sage du zu Gott: Vater! wie er heißt und lockt dich mit dem Namen, dass du dich sollst für sein Kind halten. Tut so, ihr von Vater und Mutter Verlassenen, oder von denen, die so heißen, nichts Habenden und von ihnen mit nichts zu Labenden, ihr Kinder in einer gewissen Zahl mit in unserm Gottesdienste, so habt ihr doch einen Vater im Himmel, ob auch keinen auf der Erde, aber den im Himmel auch bei euch auf der Erde, da es euch bei eurem Anfang minder wohl als vielen andern Kindern geht. O lernt, wie euch gelehrt wird, lernt inwendig das Vaterunser, um euch zu halten daran und in eurer Gedrücktheit euch zu erheben Kraft eines andächtigen Vaterunsers! Als ihr Alle tun solltet, die ihr mit schwerem Kummer einhergeht, als wir Alle tun wollen in Stunden, da uns der Mut ausgehen will zu leiden und zu leben ferner. Vater im Himmel! Aber dürfen wir? Ich sprach von Stiegen. Ein Gedanke kommt, der stürzt uns hinab. Es ist der Gedanke daran, welche wir sind. Nein, es ist nicht so, kann nicht so sein! Wie kann Gott unser Vater sein, da wir so wenig seine Kinder sind? Die Redensart ist bekannt: „Jemand klagt Gottesklage,“ das wird verstanden von einer Klage, die vor Gott gebracht wird, aber es möchte der bessere Verstand sein von einer Klage, wie sie Gott selbst erhebt. Denn Gott klagt stärker als ein Mensch, wer Ohren dafür hat. Jesajas 1 findet sich eine solche : „Ich habe Kinder auferzogen und erhöhet und sie sind von mir abgefallen.“ Dort über Israel, was sagt er von uns? was klagt er über mich und dich? Ist's nicht also, wenn Sohn oder Tochter sich so sehr und lang und schwer an dem leiblichen Vater vergangen, als wir an Gott uns versündigt haben, dass alsdann mit der Vateranrede es stockt? Erkenntnis und Schmerz legen sich auf die Zunge, sie kann nicht sprechen: Vater. Das ist eine tiefe Tiefe, dass Gott dennoch sich vor uns nicht verleugnen will, vielmehr uns locken will und legt selber den Namen, mit welchem er genannt sein will, uns in den Mund, sich uns zum Vater gebend, dass wir seine Kinder werden, wiederum werden, ob wir auch sein Vatersein und unser Kindersein noch so lange, noch so früh mit Tat und Leben geleugnet, und ob er klagte seine Gottesklage über unser Tun, uns nicht kehrten daran und zogen aus unserm Verhältnis zu ihm den letzten Nagel heraus, er doch hat an seiner Seite das Verhältnis bestehen lassen und keine Niete gelöst, ist Vater nach wie vor, so lang das Vaterunser ein in der Christenheit vorhandenes Gebet ist und Christus noch nicht ausgerottet ist, der das Gebet gegeben und mit dieser Gabe einen Wink gegeben auf sein Entsündigungs- und Versöhnungswerk, Kraft welches wir und Wegs welches wir zu einem freien frohen Vaterunser kommen.
III.
Wir wollen auch nur vom Christentum die Schwelle betreten haben hiermit, wenn gleich hier eben sich die Tiefe des Vaternamens recht hell darlegt. Wir sollen noch vor die Breite treten und vor die Länge, wie sie uns des Vaterunsers Anfang zeigt. Das heißen wir die Breite: unser Vater unser, d. h. nicht: mein oder dein oder ihr, einiger Menschen Vater, eine Breite wahrlich groß genug, dass wir die ganze Menschheit stellen auf sie. Denn Gott selbst hat die ganze Menschheit dahin gestellt. Hat er?
Jawohl hat er. Kommt nicht mit den Heiden, als hätte Gott die einmal für allemal verworfen! kommt nicht mit Israel, als hätte Gott dieses Volk einmal für ewig ausgeschlossen! kommt nicht mit einer Schar Gott und Christum verleugnender Christen, als wäre kein Vater und kein Vaterhaus mehr für sie vorhanden und kein Vaterherz! Es ist, sag' ich, es ist. Hier ist; - was dort, weiß ich nicht, und soll ich ja etwas sagen, ist es das: Die hier zu ihm kommen, - wir kennen aber einmal keinen andern Weg als Christum und Christi bestimmtes Wort Joh. 14: „Niemand kommt zum Vater denn durch mich,“ - hingegen in dem andern Leben weiß ich für keinen in Unbußfertigkeit des Lebens und in der Verstocktheit wider den ihm gepredigten Glauben Dahingefahrenen noch Rat; wohl zum Richter kommt er, allein zum Vater kommt er nicht, zum Vater kommt er dort nicht. Aber hier, die hier, aber jetzt, die jetzt zu Gott kommen, denen ist Gott nach Sinn und Suchen und Erbarmen Vater, ihrer Aller Vater, so wahr unser Gebet nicht Vater mein, Vater dein, sein, sondern Vater unser lautet. Weiter noch die Breite, wir sprechen von der Breite, die des Gebetes Anfang hat, da ist das Weitere dies, dass wir alle Menschen als die mit uns einen Vater haben, als unsre Brüder anzusehen haben, die mit ebenso viel Recht als jemand das Vaterunser beten. Ach, Liebe, hieran haben wir alle zu lernen recht viel noch. Denn sind's die nicht, so sind es die doch, für welche wir nicht Brudersinn und Brudernamen bei uns tragen; für den einen nicht, weil er so hoch steht, für den andern nicht, weil er so niedrig steht, für den nicht, weil er uns zu tugendhaft ist, für den andern nicht, weil er uns zu lasterhaft ist, für den nicht, weil er doch gar zu sehr unser Feind ist. Was Unterschied! Gott macht keinen, so dürfen wir nicht. Und wenn wir allerdings näherhin zu den Bessern uns gezogen fühlen als zu den Schlechteren, zu den Gleichgültigen, den Unerweckten, den wie es scheint durchaus Unerweckbaren, so entfernt muss niemand uns sein, für welchen nicht immer ein Funken noch von Bruderlieb' in uns läge. Denn Gott verstößt keinen, Gott schämt sich keines und lässt sich Vater nennen von jedem, der nur noch kommen will zu ihm und die zugestandene Anred' Vater in seinen Mund nehmen, von da in sein Herz nehmen will, Geduld habend, bis der Abgewandte es tut und eine Lockung es zu tun folgen lassend auf die andre, darin sollten wir nun dem Vater nicht gleichen? Die Armenanstalt in dieser Stadt erinnert sich heute ihres Anfangs, ihrer Stiftung. Nun die ist ein Zeugnis auch, dass in Kiel die Vermögenden sich nicht vor den Unvermögenden, die Vornehmen sich nicht vor den Geringen verleugnet haben. Worauf ist's abgesehen gewesen von Anfang bis jetzt? Freilich hierauf und darauf, allein wahrlich darauf auch, dass in leiblicher Not seines Lebens kein Mensch möge an Gott verzweifeln und zu glauben aufhören, Gott sei ein Vater, welcher, was er nicht unmittelbar aus seiner Hand, mittelbar durch Menschenhände ließe zukommen, wobei der Dürftige noch frommen Muts ein Vaterunser beten könnte. Und wie viele Hunderte mögen wohl im Lauf der Jahre bei Glauben und Vaterunser erhalten oder wieder zurückgeführt worden sein! An die Jugend vornehmlich zu denken.
IV.
Wir betrachten das Vaterunser heute in seinem Anfang, nach seinem Anfang, diesen Anfang zeigend nach seiner Höh' und Tiefe, nach seiner Breite, - und zuletzt nach seiner Länge. Was ich die Länge heiße daran? Einmal die Länge des Gedankenfadens, welcher aus diesem Anfang herauszuziehen ist. Probe dessen ist auch ja bereits in dem soweit gepredigten Wort gegeben worden. Andre Prediger anders, und ich selbst wäre wohl vermögend, wenn wieder das Vaterunser mein Vortrag sein sollte, einen ganz andern zu halten über diesen Anfang. Ja die ganze christliche Religionslehre könnte wohl hierauf als auf einen Grundsatz gestellt werden, das Eine Wort Vater könnte wohl für die ganze Christenheit Bundeswort werden, mit welchem sie ginge die Zeit hindurch in die Ewigkeit, kommend auf Alles, was im Himmel und auf Erden und unter der Erden ist, dann wenn befähigtere, glaubensreichere, dem Schauen näher gekommene Prediger auf den Kanzeln stehen werden, dann wenn auch unter den Kanzeln wird gepredigt werden, da Gottes Geist auf Jünglinge und Älteste fällt und alles Volk weissagt, von Gott gelehrt. Die besseren Prediger mögen jetzt schon hier und anderswo unter der Kanzel stehen. O gewiss, teure Zuhörer, ist Mancher von euch hier während des Hörens weitere Wege gegangen in seinen Gedanken mit dem Work, als auf welche Gedanken mein Wort seinen Geist gebracht hat. Das heiße ich des Wortes Länge. Aber es gibt noch eine andre Länge mehr, die des Vaterunsers Anfang hat: Die Länge des inneren Bedürfnisses so zu beten. Denn, aus welchen Bedürfnissen wir uns auch herausleben und herausbeten, so werden lebenslang neue sich auftun, deretwegen wir Gott anzugehen Ursache haben, leibliche, geistliche, eigene, fremde Not, in welcher, und braucht's ja doch auch die Not nicht zu sein sondern Rettung aus ihr, Bewahrung vor ihr ebenso wohl, die das ganze Gebet oder diesen Anfang doch auf unsre Lippen bringt. Zu welcher Höh' eines inneren gottseligen Lebens hinauf wir auch gelangen, so sind wir ja immer unter dem Himmel noch und hinein nicht, wie sollten wir denn jemals dies Betwort schweigen dürfen und nicht mehr brauchen, das allem Gebet den Weg weist und auf den Wagen seht, dass er gen Himmel fahre, will sagen: Hoffnung erhört zu werden in die betende Seel' bringt! Wenn alle sieben Bitten nicht mehr werden zu beten sein, da wir kein Brot mehr essen, in keine Schuld mehr fallen, in keine Versuchung mehr geraten, von keinerlei Übel mehr werden gedrückt sein, ja wenn auch der Wille Gottes überall wird geschehen, das Reich Gottes überall wird gekommen sein, und der Name Gottes seine Heiligung erhalten hat, wieweit die Schöpfung geht, so werden noch Schluss und Anfang des Vaterunsers zu beten sein und das einzige Gebet sein. Das ist seine Länge. Und noch diese. Wenn alle Verhältnisse werden aufhören, in denen wir mit Menschen und mit der Welt stehen, wenn selbst unser Verhältnis mit Gott, unserm Richter, nicht mehr bestehen wird, ein Verhältnis doch, dies, dessen der Anfang des Vaterunsers gedenkt, dass er unser Vater ist, das bleibt ewig, und dass wir seine Kinder sind, das bleibt ewig, seine Vaterlieb' und unsre Kinderlieb', die bleiben ewig. Der Anfang des Vaterunsers heißt hier nach dem Schluss desselben greifen und die Predigt beenden mit diesem Schluss: Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.