Hagenbach, Karl Rudolf - Daß der Weg der Erfahrung in geistlichen Dingen der beste sei.
(Advents-Predigt.)
Text: Joh. 7, 16.17
Jesus antwortete ihnen und sprach: Meine Lehre ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat. So jemand will des Willen thun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei oder ob ich von mir selbst rede.
Wir haben vor acht Tagen ein neues Kirchenjahr angetreten und stehen somit wieder in der heiligen Adventzeit. Unsre Vorältern waren so sehr an diesen Wechsel der kirchlichen Zeiten gewöhnt, so ganz in denselben eingelebt, daß ihr geistiger, ihr innerer Mensch nicht weniger davon berührt und bestimmt wurde, als nur immer unser äußerer Mensch noch jetzt es wird, bei dem Wechsel der natürlichen Jahreszeiten. Wie die veränderte Luft im Frühling oder im Spätjahre, wie der Wechsel von Wärme und Kälte, von Licht und Dunkel auf unser körperliches Wesen und Befinden seinen unverkennbaren Einfluß behauptet, so theilte sich auch in jenen frühern Zeiten die Stimmung, die einer festlichen Zeit des Jahres zum Grunde liegt, der eigenthümliche Festcharakter derselben, unwillkürlich allen Gliedern der Kirche mit; sie athmeten gleichsam die herannahende Weihnachts- und Osterluft von selbst ein, ohne erst von außen daran erinnert zu werden; denn sie hingen eben viel enger mit der Kirche zusammen und waren viel tiefer in ihre Angelegenheiten verflochten, als wir es sind. Gelingt es doch jetzt höchstens noch dem betreffenden Feiertage selbst, uns einen Augenblick stille stehn zu machen in dem wogenden Gedränge, das uns umgiebt und mit sich forttreibt, einen Augenblick unsre Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was er uns bringen, was er uns verkünden will. Aber die wochenlange Zeit, die dem Feste vorangeht, die es vorbereitet, die ihm gleichsam den Weg bahnen will durch das weltliche Treiben hindurch, die wird von den Wenigsten mehr beachtet und verstanden, und wohl möchten die zu den Ausnahmen gehören, welche außer dem Weihnachtssegen auch von einem Adventsegen zu rühmen wüßten; für welche die ganze Reihe von Tagen und Wochen noch immer eine höhere als alltägliche Bedeutung hätte, die es sich zur heiligen Angelegenheit des Herzens machten, ihre Kinder und ihre Angehörigen, ihr ganzes Haus auf das hinzuweisen, was eben diese Zeit in ihrem Schooße birgt, was still in ihr keimen und wachsen und reifen soll, damit es am Weihnachtsfeste selbst als eine liebliche Frucht, als eine bescheidene Gabe zum Vorschein komme.
Um so mehr aber ist es die Pflicht der Kirche und ihrer Diener an den Eintritt solcher heiliger Zeiten zu erinnern und die Stimmung der Gemeinden frühzeitig auf das vorzubereiten, was da kommen soll, und darum möchte denn auch die heutige Betrachtung eine Adventsbetrachtung werden, die uns hinweist auf den, der gekommen ist und der da kommen soll, die alles Störende und Fremdartige beseitigt, was seiner Aufnahme im Wege stehen könnte und dagegen das in uns aufs Neue hervorruft, was dazu dienen kann, uns beides froh und ernst zu stimmen, wie eben das heilige Christfest uns haben will.
Diese Vorbereitung aber, meine Freunde, ist keine so leichte Aufgabe. Oder wie? stände jene Gleichgültigkeit gegen die festlichen Zeiten nicht vielleicht in Verbindung mit einer größern oder geringern Gleichgültigkeit gegen den Herrn und seine Sache, mit einer Gleichgültigkeit, die man sich nur nicht immer eingesteht, die aber am Ende tiefer wurzelt als man glaubt; stände sie nicht vielleicht in Verbindung mit dem mehr und mehr überhandnehmenden Weltsinn und dem Unglauben an das Höhere und Göttliche, und fände sie nicht ihre Nahrung in dem schwankenden und unstäten Wesen, das auch die beschleicht, die wohl gerne glauben möchten, gerne die Festfreude mit uns theilen möchten, wenn nur der immer sich aufdringende Zweifel an den Lehren und Geschichten, an den Wundern und Geheimnissen des Christenthums es ihnen zuließe? - Ja, gestehen wir es uns doch nur offen ein: unsre Vorältern waren darin glücklicher und unbefangener als wir. Für sie hatte die Wiederkehr der festlichen Zeiten dieselbe Wirklichkeit wie die Wiederkehr der natürlichen Jahreszeiten, eben darum, weil ihnen auch mit wenigen Ausnahmen, die Gegenstände, auf welche diese Feste sich beziehen, unbestrittene, unbezweifelte Thatsachen und Wirklichkeiten waren, die man ihnen nicht erst zu beweisen brauchte, weil sie unbedingt daran glaubten, in ihnen lebten, ihren Segen unmittelbar an sich erfuhren. So ist es jetzt nicht mehr, und es wäre gefährlicher Selbstbetrug, wenn wir uns überreden wollten, es stehe mit der Glaubensfestigkeit und Glaubenseinigkeit noch wie damals. Es wäre aber auch ungerecht, darum unsre Zeit zum voraus verdammen zu wollen und die Einzelnen, die ihrem Einflusse vielleicht zu sehr sich hingeben, lieblos zu beurtheilen. Auch die Entwicklung, welche das Reich Gottes in unsern Tagen durchzumachen hat, steht in Gottes Hand und auch aus dem Kampfe der Zweifel und dem Widerstreite der Meinungen soll die Wahrheit nur um so siegreicher hervorgehen. Darauf aber hinzuwirken, daß diese eine ewige, nie zu unterdrückende Wahrheit auch mitten unter dem Ringen der Geister an den Herzen sich bewähre, das, sollte ich meinen, sei die schönste, die würdigste Aufgabe, die sich ein Advents-Prediger in diesen Tagen zu stellen hat. Und hier kommt alles darauf an, gleich den rechten Standpunkt einzunehmen, von dem allein aus gewirkt werden kann. wollten wir auf alle Zweifel antworten, die seit dem Bestehen des Christenthums gegen dasselbe sind ausgeheckt worden und die besonders in unsern Zeiten sich mit verstärkter Gewalt geltend machen, es würde weder die Zeit noch die Kraft dazu ausreichen. Und darum kann es auch mein Vorsatz nicht sein, den hierin ins Unendliche gehenden Anforderungen genügen zu wollen. Aber wie? wenn es einen Weg gäbe, der uns kürzer und sichrer, als eine noch so gründliche Beweisführung zum Ziele führte oder wenigstens dieses Ziel selbst uns näher rückte? wenn es mir gelänge auf diesen Weg durch einige Winke euch hinzuleiten? O lohnte sich nicht das schon der Mühe? - Und es giebt einen solchen Weg. Christus selbst bezeichnet ihn uns in unserm Texte, wenn er sagt: „Meine Lehre ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat. So jemand will des Willen thun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei, oder ob ich von mir selber rede.“ - Der Weg der eignen That, der Weg der Ausübung und der Erfahrung ist es, auf den der Herr uns hinweist, und daß eben dieser Weg der Erfahrung in geistlichen Dingen der beste sei, weil er der kürzeste, weil er der sicherste und weil er bei allen Schwierigkeiten, die er darbietet, dennoch der leichteste und befriedigendste Weg ist, das möchte ich euch statt allem Beweise in dieser Stunde ans Herz legen, und dazu möge mir der Gott der Liebe und der Wahrheit auch jetzt seinen Segen verleihen. Amen.
l. Der Weg der Erfahrung ist in geistlichen Dingen der kürzeste Weg.
Ist er es doch auch schon auf andern Gebieten des Lebens! Wie manche irdische Vortheile, wie manche nützliche Erfindungen eignen wir uns an aus dem reichen Schatze der Erfahrungen Anderer und aus der eignen Erfahrung, die wir machen, ohne daß wir abwarten, bis wir eine nach allen Seiten hin genügende Einsicht in deren Beschaffenheit und Zweckmäßigkeit erlangt haben, indem wir vielmehr hoffen, daß die Einsicht mit der Erfahrung komme, und durch sie geleitet werde. Solange die Erde steht, vertraut ihr der Landmann den Samen und freut sich des Sonnenscheines und des Regens auf eine gesegnete Erndte hin, ohne daß er die Gesetze, wonach das Samenkorn unter den Einflüssen von Himmel und Erde sich entwickelt, sich hinlänglich zu erklären wüßte. Wollte er warten mit Säen und Erndten bis die Geheimnisse der Natur seinem grübelnden Verstande klar geworden, er müßte wohl lange des täglichen Brotes entbehren und wir mit ihm. Der Kranke vertraut sich seinem Arzte und erfährt an sich die heilsame Kraft der verordneten Mittel, ohne zu warten, bis ihm diese Wirkungen durch eine vorangegangene Beweisführung einleuchtend geworden sind. Der beste Beweis ist ihm die Wiederkehr der Gesundheit. Eltern erziehen ihre Kinder, und die Kinder gehorchen ihnen, ohne daß beide Theile sich über die vernünftigsten Grundsätze der Erziehung miteinander verständigt hätten; vielmehr ist es ausgemacht, daß wo die Kinder mit den Eltern auf diesem Fuße der gegenseitigen Erörterungen, der Gründe und der Gegengründe stehen, die Erziehung leicht ihren Zweck verfehlen kann. Thun aber die Kinder, was die Eltern sie heissen, so werden sie bald einsehn, wie wohl es die Eltern mit ihnen gemeint haben, auch da wo sie die Gründe ihres Verfahrens noch nicht begreifen. Staaten befinden sich wohl unter dem Zepter weiser Regenten und bei einem guten frommen Sinne des Volkes, auch ohne daß man zuvor über die bestmögliche Staatsverfassung aufs Reine gekommen wäre; denn wollte man warten bis die gefunden, längst hätte sich alles in Gesetzlosigkeit und Unordnung aufgelöst, und die neueste Zeit hat es uns gelehrt, wohin die Luftgebilde einer von der Geschichte und dem Leben getrennten Staatsweisheit führen. Das alles sage ich nicht als ob nicht auf allen diesen Gebieten auch die verständige wissenschaftliche Forschung ihr Verdienst hätte. Im Gegentheil ist diese nöthig, wo die Erfahrung nicht in einen blinden Dienst der Gewohnheit ausarten soll, und sie ist überhaupt des denkenden Menschen würdig. Aber einmal ist diese nähere Erforschung und Ergründung der Wahrheit nicht Jedermanns Sache, sondern es sind immer nur Einzelne, die von Berufs wegen sich damit abzugeben haben, und auch diese müssen von der Erfahrung unterstützt sein, denn in jedem Falle geht die Erfahrung der Erkenntniß und das thätige Leben der Beobachtung und dem weitern Nachdenken voraus. So, und nicht anders ist es auch auf dem geistlichen Gebiete. Auch hier ist es nicht Allen gegeben, den ganzen Umfang der christlichen Glaubenswahrheiten auf dem Wege des Nachdenkens und des gründlichen Forschens sich anzueignen, und selbst die, welche nun einmal diesen Beruf haben, würden nur auf großen Umwegen, ja wohl gar nie zu ihrem Ziel gelangen, dürften sie nicht auch zugleich mit den kürzern Weg der Erfahrung betreten, der ihnen wie allen andern Christen, zum Heil ihrer Seele, offen steht. Haben es doch die größten, die weisesten Gottesgelehrten zu allen Zeiten bekannt, daß sie den Schatz des innern Lebens, den auch sie, wie wir alle, in irdenen Gefässen tragen, daß sie den eigentlichen Grund der Seligkeit nicht ihren Büchern verdanken, nicht den Beweisen der Schule, nicht den Anstrengungen ihres Kopfes, sondern eben der Erfahrung des Herzens und des Lebens, in die sie Gott, als in die rechte Schule der Weisheit, hinein geführt hat, ja daß manches, was bei allem Lichte der Wissenschaft ihnen dunkel geblieben wäre, erst dann ihnen klar geworden ist, nachdem sie angefangen hatten, die Lehre selbst zu üben, die sie erforschten und verkündeten. Und wenn je die Weisesten dieß bekannt haben, sollten Dir der eignen Weisheit mehr vertrauen als der Erfahrung aller Zeiten, ja als der eignen Erfahrung, die auch wir machen können, sobald wir nur wollen? Zwar sollen auch wir nicht unsre Vernunft in dem Sinne gefangen nehmen, daß wir blindlings glauben, auch wir sollen als evangelische Christen fortfahren alles zu prüfen und in der Schrift zu forschen, ob es sich also verhalte; aber nur muß dieses Forschen und Prüfen beständig unterstützt und getragen sein von dem guten redlichen Willen, das zu thun, was Gott will und was zu unserm Heile dient, und erst wo diese Empfänglichkeit für das Gute, diese heilsame Uebung in der Gottseligkeit vorausgeht, erst da können wir erwarten, daß auch das Licht der Erkenntniß allmählig uns aufgehen und statt mit falschem Schimmer uns zu blenden, mit wohlthätigem Strahle uns erleuchten werde.
Unser Heiland selbst hat uns in seinem Worte beide Wege bezeichnet, den der redlichen Forschung, wie den der eigenen Uebung; wenn er das einemal sagt: suchet in der Schrift, denn sie ist's, die von mir zeuget, und das anderemal: so jemand will den Willen dessen thun, der mich gesandt hat, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sey oder ob ich von mir selbst rede. Auf das willige Thun der Lehre also, auf das Ausüben dessen, was sie uns empfiehlt, (worunter sowohl die äußere Ausübung der christlichen Tugenden im Leben, als vorzüglich auch die innere Uebung, die Zucht des Geistes und die sorgfältige Bewachung des Herzens verstanden ist) legt er den meisten Nachdruck, so daß es auch hier heißen kann: „trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird auch das Andere (Weisheit und Erkenntniß) euch zufallen.“ Und in eben diesem Sinne sprach auch ein berühmter Kirchenlehrer1): „Nicht darum will ich erkennen, damit ich glaube sondern ich glaube, damit ich erkenne, denn wer nichts glaubt der erfährt nichts, und ohne Erfahrung gibt es keine Erkenntniß.“ - Willst du also zur Wahrheit gelangen, l. Freund! und durch die Wahrheit zur Ruhe und zum Frieden der Seele, so betritt diesen Weg der Erfahrung und der Uebung. Laß einstweilen dahin gestellt so manches, was dich noch irren kann und was dir Gedanken macht in Beziehung auf die Wunder und Geheimnisse des Christenthums. Wolle nur erst thun, was diese Lehre befiehlt und dich in das finden, was dich zunächst und dein Herz angeht, und du wirst Wunder genug erfahren an diesem deinem eigenen Herzen, und von allen Geheimnissen, die es gibt im Himmel und auf Erden, wird das mächtigste Geheimniß dir aufgehen in der eigenen Brust, das Geheimniß der Gottseligkeit und des Gottesfriedens. So wirst du glaubend erfahren und die Erfahrung, die That des Herzens und die Geneigtheit des Willens, sie werden dich einführen in die Erkenntniß des Heils und du wirst inne werden, daß diese Lehre bei all' dem Dunkel, das sie im Einzelnen umgiebt, in ihrem innersten Kern und Wesen, eine göttliche Lehre ist und daß der, der uns diese Lehre gebracht hat, sie uns nicht bringen konnte und wollte als irgend eine menschliche willkürliche Erfindung, als eine Satzung von gestern her, sondern daß er sie uns bringen wollte und bringen mußte als die Lehre dessen, der ihn gesandt hat, als die Offenbarung der Wahrheit, die bei allem Wechsel der Formen, die Eine Nothwendige bleibt für Alle in Zeit und Ewigkeit.
2. Wie aber der Weg der Erfahrung in geistlichen Dingen der kürzeste ist, so auch der sicherste.
Ist er es doch gleichfalls schon auf den Gebieten des äußern Lebens. Nicht nur geht die gelehrte, die wissenschaftliche Forschung in allen Dingen einen langsamen Weg, sondern oft widersprechen sich auch die Ansichten der Weisesten und Gelehrtesten, so daß wir in den meisten Fällen übel berathen wären, wenn wir nicht auf dem Wege der eigenen Erfahrung uns Gewißheit verschaffen könnten über das was wir zunächst brauchen im Leben und was uns weiter fördern soll in unserm äußern Wohlbefinden und Wohlstande. Und so ist es auch im Geistlichen. So lange das Christenthum besteht, so lange gab es verschiedene Meinungen über die Person des Erlösers, über das Wesen Gottes, über die Natur des Menschen, über den Ursprung der Sünde und das Geheimniß der Erlösung, über die Gnadenmittel und deren Gebrauch und über das Ende aller Dinge. So viele Beweise die Einen aufbrachten, so viele Gegenbeweise die Andern, und eben auf diesen Widerstreit der Meinungen beruft man sich, um den christlichen Glauben selbst als etwas unsicheres, von dem Wechsel der menschlichen Bestimmungen abhängiges darzustellen. Und allerdings würde sich der einem unsichern Wege anvertrauen, der vermittelst äußerer Verstandesbeweise allein zur Ruhe des Herzens- und zur festen unerschütterlichen Ueberzeugung seines Innern gelangen wollte. Aber Gottlob! wir kennen einen sicherern Weg, als diesen, den Weg der Erfahrung, der eigenen Uebung. Wer Gottes Willen thun will, der wird inne werden ob meine Lehre von Gott sey, oder ob ich von mir selber rede. Wer einmal angefangen hat, das Christenthum nicht nur mit dem Verstand, sondern vor allem mit dem Herzen zu erfassen und ihm Einfluß auf das eigene Leben, auf das Thun und Lassen zu gestatten, wer es einmal lebendig und thatsächlich in sich aufgenommen und verarbeitet hat, an dem wird es sich bald als eine Kraft Gottes und als eine Macht beweisen, die über jedes menschliche Bedenken, über jeden Zweifel und jeden möglichen Irrthum des Verstandes siegt. Wer einmal in das innerste Mark des Christenthums eingedrungen, sich hier gleichsam eingelebt und eingewurzelt hat, den vermag keine noch so fein gesponnene Weisheit der Menschen aus seiner festen Burg herauszutreiben. Dieses unmittelbare Haben und Besitzen der Wahrheit, im innersten Grunde des Gemüths, dieser tägliche vertraute Umgang mit dem Göttlichen, das ist, wie selbst die Gegner es gestehn, „das unersteigliche Bollwerk des Christenthums,“2) das der Fels, an dem alle Wogen der Zweifel sich brechen, das die sicherste Waffe gegen jeden Angriff von innen und von außen. Ja, wer einmal es zur That gebracht hat mit seinem Christenthum, wem Christus nicht mehr der fremde Lehrer und Prophet ist, von dem nur Andere ihm Wunderbares berichten, wem er vielmehr durch eigene Erfahrung näher getreten, wem er Freund und Meister, Vorbild und Führer, wem er so sehr Lebensstifter, Lebensbringer und Lebensvermittler geworden, daß er ohne ihn nichts thun kann, der wird aus dieser Lebens- und Liebesgemeinschaft mit dem Erlöser auch nie mehr sich herausreißen lassen, so wenig das Kind vom Vater, der Freund vom Freunde sich trennen läßt, um einer verschiedenen Meinung oder eines vorübergehenden Zweifels willen; denn stärker als die Meinung ist die That, mächtiger als jeder Zweifel der Glaube, und sicherer als jeder Beweis die gemachte Erfahrung. - Schon viele Beweise sind für die Wahrheit und Göttlichkeit des Christenthums geführt worden und manche edle Geister haben Kraft und Zeit darauf verwandt, diese Wahrheit und Göttlichkeit gegen die Trugschlüsse des menschlichen Verstandes sicher zu stellen. Manches davon hat gewiß auch seine Frucht getragen. Aber wie viele von den Beweisen, die vielleicht zu ihrer Zeit gute Dienste geleistet haben, sind dennoch wieder verschwunden, wie gewisse Waffen verschwinden vom Kampfplatze, wenn die Art den Kampf zu führen, von beiden Seiten sich geändert hat. Nur ein Beweis ist immer geblieben, es ist der, den schon der Apostel führte, ohne alle Kunst der menschlichen Rede, der Beweis des Geistes und der Kraft (l. Cor. 2, 4.). Auf diese Erweisungen des Geistes und der Kraft, auf die Früchte des Glaubens, auf die Thaten wiesen schon die ersten und ältesten Vertheidiger des Christenthums mit einer Zuversicht hin, wie keine Schule der Welt sie geben konnte. „Wir, so spricht einer von den neubekehrten Weisen des Alterthums,3) wir, die wir einst der Wollust dienten, haben jetzt allein unsre Freude an einem ordentlichen Lebenswandel, wir, die wir einst den Geldgewinn mehr als alles liebten, geben jetzt was wir haben für das gemeine Beste her und theilen jedem Dürftigen mit, wir, die wir einst einander haßten und mordeten, beten für unsre Feinde und suchen auch die, die uns hassen, desselben Glückes theilhaft zumachen, das wir genießen“ Und wie jene ersten Christen, so können auch wir noch heute hinweisen auf die größten Wunderwirkungen im Gebiete der geistigen und sittlichen Welt, auf die Umwandlungen der rohesten und wildesten Gemüther in bessere und edlere Naturen, auf die großartigen Anstalten der Menschenliebe, wie nur der christliche Sinn sie zu gründen und zu erhalten vermag, auf die stille Entfaltung so mancher bescheidenen Tugend mitten im Dunkel und Drucke des Lebens, auf so manchen wiedergebrachten Verirrten, der nur im Glauben an die erlösende Macht des Christenthums Herr geworden über seine Leidenschaften und bösen Gewohnheiten, und wohl uns, wenn wir diesen Beweis nicht nur an Andern führen, wenn wir auch aus dem Schatze unsrer eigenen Erfahrung, unser Scherflein dazu beitragen können, um uns und Andere zu überzeugen, daß eben dieser Weg der eignen Erfahrung und der eignen Uebung nicht allein der kürzeste, sondern auch von allen der sicherste sei.
Aber wenn er denn der kürzeste und der sicherste ist, warum wandeln gleichwohl so Wenige diesen Weg? Sollte er vielleicht auch der schwierigste seyn? Allerdings ist er das, nach einer Seite hin. Gesetzt aber auch, er wäre der schwierigste unter allen, sollte dieß uns abhalten, ihn zu gehen, wenn wir einmal gewiß sind, auf ihm am kürzesten und sichersten zu unserm Ziele zu gelangen? Aber nun getrauen wir uns über. dieß zu behaupten, daß eben dieser Weg der Erfahrung bei all den großen Schwierigkeiten, die er darbietet, auch wieder der leichteste und befriedigendste ist, den wir betreten können, und das laßt uns noch in Kürze betrachten.
3. Leicht ohne Weiteres ist freilich der Weg der Erfahrung in geistlichen Dingen so wenig zu nennen,
als in irdischen und leiblichen; denn Anstrengung, Uebung, Ausdauer, Kampf und Mühe wird hier wie dort gefordert. Der Weg ist schmal und die Pforte ist eng sagt unser Heiland, die zum Leben führen, und Wenige sind, die darauf wandeln. (Math. 7, 13.) Wenn es schon in den Dingen dieses irdischen Lebens leichter ist, mit zu reden, zu meinen, zu streiten, zu tadeln, als selber Hand ans Werk zu legen, so zeigt sich dieß noch viel mehr im geistlichen Gebiete. Leichter und wohlfeiler läßt sich heut zu Tage der Ruhm eines aufgeklärten witzigen Kopfes, eines gewandten Denkers erreichen, als das Zeugniß eines durch und durch guten Gewissens, einer rechtschaffen bewährten Gesinnung, eines christlichen Wandels vor Gott und Menschen. Süßer mag es scheinen von jedem Wind der Lehre auf den Wellen des Zweifels sich schaukeln und wiegen zu lassen und dabei wohl auch von einem gewissen Schmerze zu träumen und in diesem Zweifelsschmerz sich zu gefallen, als ernstlich anzukämpfen wider die eigene Lust, und wider die geheimen Feinde unseres Herzens Tag und Nacht auf der Hut zu seyn. Aber wie auch in irdischen Dingen immer der Anfang das schwerste, so auch hier. Vor diesem Anfang, vor dem ersten ernstlichen Versuche beben die Meisten zurück. Würden sie einmal diesen Versuch wagen, einmal sich zu dem Wege der eigenen Erfahrung entschließen, gewiß sie würden trotz der Schwierigkeiten auch das Lohnende und Befriedigende desselben an sich erfahren. Wer den Willen dessen, der mich gesandt hat, thun will, der wird inne werden ob meine Lehre von Gott sei oder ob ich von mir selber rede. - Und eben dieses Innewerden der Wahrheit, diese von Tage zu Tage sich mehrende Zuversicht zu ihr, dieses stille und doch so gedeihliche Wachsthum an Erkenntniß, an Weisheit, an Liebe - alles unter dem Einflüsse der göttlichen Gnade, der wir nun gänzlich vertrauen - o sagt, bringt uns dies nicht den höchsten, den süßesten Genuß, den wir uns zu denken vermögen, ja den wir kaum einen Genuß nennen möchten, aus Furcht ihn zu entwürdigen - bringt es uns nicht eben dies, was der Apostel den Frieden Gottes nennt, der höher ist als alle Vernunft (Phil. 4, 7.) und der unsere Herzen immer fester macht in Gott, immer geduldiger, immer stiller, immer folgsamer und ergebener. - Wahrlich, wenn schon in irdischen Dingen die Ausübung einer Kunst oder eines Berufes bei allen Schwierigkeiten, die sie darbietet, auch wieder eine eigene Befriedigung mit sich führt, die eben in der Ueberwindung der Schwierigkeiten liegt, so ist dieß bei der treuen Ausübung des Christenberufes doppelt der Fall. Darum konnte auch der Erlöser von seiner Lehre an einem andern Orte sagen: mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht (Matth. 11, 30.) und der Apostel konnte es bezeugen, seine Gebote sind nicht schwer (Joh. 5, 2.). Und in der That, wer es einmal durch redliche Anstrengung seiner Kräfte durch Wachsamkeit und Gebet, durch Uebung und Kampf zu der seligen Erfahrung eines Christen gebracht hat, der wird nicht nur auf die kürzeste und sicherste, sondern auch auf die leichteste und befriedigendste Weise zu einer immer deutlichern und immer festern Erkenntniß von der Wahrheit und Göttlichkeit einer Religion gelangen, die dieses höchste Gut der Seele allein zu geben vermag. Da, wo andere zweifeln und zagen, wird er das glaubensvolle Auge zu dem Himmel erheben, von dem ihm nur gute, nur vollkommene Gabe kommt. Geduldig in Leiden, fröhlich in Trübsal, dankbar im Glücke wird er zu den schon gemachten Erfahrungen immer neue und immer reichere und schönere sammeln, und auch in den ernsten und entscheidenden Augenblicken, in welchen sonst die Weisheit der Welt mit ihren morschen Stützen zusammenbricht, wird er sich mächtig erhoben fühlen über die Schrecken des Todes und Grabes und über alles Erdenleiden zu dem Gott, der in Christo unser Vater ist, und der die Seinen nicht verläßt. Aber wenn wir denn so auf diesem Wege der Erfahrung und der eignen Uebung in der Gottseligkeit am kürzesten und sichersten, ja zugleich trotz allen Schwierigkeiten am leichtesten und befriedigendsten zur Erkenntniß der höchsten Heilswahrheiten und zu dem Frieden der Seele gelangen können, der gewiß nie zu theuer erkauft wird, warum wollen wir länger damit zögern? O saget nicht, wir haben ja diesen Weg auch schon versucht, aber er hat uns nicht weiter geführt als die übrigen. Wir sind ja ehrbarlich einhergewandelt auf dem Pfade der Tugend, ohne dadurch zu höherer Erkenntniß geführt worden zu sein. Ja, wenn dieser ehrbare Wandel schon das wäre, was der Herr meint mit dem Thun des göttlichen Willens, dann hättet ihr recht; aber euer eigenes Gewissen wird euch antworten, was es heiße den Willen Gottes thun. Darum gebt Euch doch nicht zufrieden mit dem äußern Schein, sondern thut rechtschaffene Früchte der Buße. Oder wollt ihr wirklich noch länger zuwarten und zaudern und zweifeln, bis ihr mit euerm Verstande einen Beweis euch ausgeklügelt, der allen Anforderungen eines nie ersättlichen Fürwitzes genüge, der alle Zweifel beseitige, alles Dunkel aufhelle und keine Räthsel mehr übrig lasse in dieser räthselhaften Welt? Nun so grübelt und staunet und fraget und lernet ohne je auszulernen (2. Tim. 3, 7.), indeß die christliche Gemeinde im Frohgefühl dessen was sie hat, ihre Feste feiert und ihr Hosianna singt dem der da kommt im Namen des Herrn. Hungert und dürstet im stolzen Bewußtsein eures Reichthums, während dort die im Geiste Armen herbei kommen, sich zu sättigen am Brote des Lebens, das vom Himmel kommt. Grabet euch löchrichte Brunnen, die kein Wasser geben, während diese sich lagern an den Quellen des Lebens!
Doch nein! auch ihr fühlt in euch dasselbe Bedürfniß, das die ganze Christenschaar in diesen Tagen wieder dem kommenden Herrn und König entgegenführt, und wir Alle fühlen es mit Euch, und wir Alle haben nöthig aufs Neue uns zu demüthigen und uns zu beugen unter das Zepter dieses Königs. Sind wir doch alle abgewichen von dem guten, dem sichern, dem freudenreichen Wege, den er uns führen will; müssen wir uns doch alle gestehen, daß wir eben den Willen Gottes noch nicht in dem Maaße erfüllt haben, in dem wir ihn erfüllen sollten, und daß eben darum auch unser Glaube noch oft ein schwankender, unsere Erfahrung noch eine so sparsame und daher auch unsere Erkenntniß noch eine so mangelhafte ist. - Darum achten wir doch Alle auf den ernsten Ruf zur Buße und zur Sinnesänderung, der der Erscheinung des Herrn noch immer wie damals vorangeht, damit wenn er kommt, er den Weg bereitet finde und damit wenn er auch uns auf seinem Leidenswege fragt: wollt ihr auch von mir weggehen wie diese? wir ihm antworten können: Herr wo sollen wir hin gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens und wir haben erkannt, daß du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes (Joh. 6, 6. 8.) Amen.