Härter, Franz Heinrich - Das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner
1. Joh. 1,7-9
Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde. - So wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns; so wir aber unsre Sünde bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünde vergibt, und reiniget uns von aller Untugend.
Text: Lucas 18, 3. 9-14.
Die Tücken des menschlichen Herzens, seine Schleichwege, rein Selbstbetrug, zeigen sich sogar beim Lesen und Auslegen der Bibel. Das allbekannte Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner gibt uns einen deutlichen Beleg zu dieser Behauptung. Wer hat nicht schon das selbstgefällige Vergnügen bemerkt, womit das Bild des Pharisäers jedes unbußfertige Herz erfüllt. Der Pharisäer steht in seiner ganzen Blöße da, vor aller Augen; seine unnütze Werkheiligkeit, seine heuchlerische Prahlerei machen ihn verächtlich und verwerflich, und zeigen in ihm das Bild der gleisnerischen Frömmelei, über welche Jesus Christus so oft das Wehe ausgerufen hat. Bei diesem Bilde verweilt man, führt es aus, deutet es auf andere, die man kennt oder zu kennen meint und regt als Nutzanwendung den Grundsatz fest, dass alle, die sich selbst vermessen, dass sie fromm wären und die Andern verachten, dem stolzen Pharisäer gleich erniedrigt werden müssen. Dies scheint denn auch ganz schriftgemäß, und was ist nun natürlicher, als dass man noch einen Schritt weiter geht, und sich selbst zum Vollstrecker seines Urteils macht, und indem man alle Frommseinwollenden herzlich verachtet und verhöhnt, sich noch einbildet ein Wert der Gerechtigkeit zu üben? Gott, welche Gerechtigkeit! sich über den Pharisäer zu stellen und zu sagen: Ich danke dir Gott, dass ich nicht bin wie andere Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Pharisäer da! Aber wo bleibt denn der Zöllner? - Ach, der wird meist nur als eine Nebenperson behandelt, die dastehen muss, um durch den Abstich den Frömmler noch gehässiger zu machen; an seine Stelle zu treten fällt nicht leicht Einem ein, denn wer möchte sich wohl mit einem offenbaren Sünder zusammenstellen? Höchstens denken manche dabei, der Zöllner sei vielleicht doch kein so arger Sünder gewesen, als er sich einbildete, und um seiner Tugenden willen, von denen er selbst nichts wusste, habe er die Rechtfertigung vor Gott gefunden.
Was dünkt euch, meine Freunde, von solchen Ansichten? Sind sie nicht unter uns sehr gewöhnlich? Findet nicht jeder in seinem eigenen Herzen einen Anklang davon? O Menschenherz! o mein Herz! wer kann deine finstern Tiefen ergründen? - Herr, öffne uns die Augen, dass wir in den Abgrund unsers eignen Elendes sehen! Nicht um Andere zu beurteilen, nicht um in allgemeinen Betrachtungen uns umherzutreiben, ist uns aus dem Munde des Heilandes der Sünder dieses bedeutungsschwere Gleichnis gegeben. Der Zöllner, der gebeugte, an die Brust schlagende Zöllner, ist hier die wichtigere Person, auf welcher das Wohlgefallen Gottes ruht auf welche wir auch unsere ganze Aufmerksamkeit richten wollen. Die Pharisäer gehen uns nichts mehr an, sobald wir dem Zöllner gleich in die Ferne zurücktreten, und mit gesenktem Blicke in unserm Innersten die ernste Wahrheit erwägen:
dass wir alle Sünder sind.
Diese Wahrheit in ihrer Bedeutung und ihren Folgerungen zu erfassen sei der Zweck unserer Betrachtung.
Was bedeutet das, wenn wir sagen, dass wir Sünder sind? - Es ist nicht so schwer von den Menschen das Geständnis einer gewissen dem ganzen Menschengeschlechte anhängenden Fehlerhaftigkeit zu erhalten, und sehr oft werden die Worte des Apostels: „wir fehlen alle mannigfaltiglich!“1) und das Sprichwort: „Irren ist menschlich“ sogar als Entschuldigungen gehört; denn dies ist auch ein Beweis von der Torheit des Menschenherzens, dass es einen Trost, ja, unsinniger Weise, sogar eine Rechtfertigung darin zu finden meinet, wenn es seine eigenen Sünden an Andern aufsuchet und seine eigene Schuld auf das ganze Geschlecht wälzet. - Ein Hauptkunstgriff, dessen sich die Menschen bedienen, um bei allen Vergehungen, deren sie sich im Innern bewusst sind, dennoch ungehindert fortsündigen zu können, besteht darin, dass sie allerlei gelinde Namen erdenken, womit sie ihre lasterhaften Gewohnheiten andeuten und sich so vor der Welt das Recht zusichern, unter dem Schleier der feineren Lebensart ihre Untaten zu treiben. O reißet die Binde von dem inneren Auge hinweg, ihr Menschenkinder!
Lasst uns uns selber betrachten, nicht wie wir scheinen vor Andern, die uns schmeicheln, weil sie uns nicht kennen, sondern wie wir sind, vor dem allsehenden Blicke dessen, der die Herzen prüfet, und der einst uns richten wird, wenn wir nicht uns selber richten! Es wird also eingestanden, dass wir alle fehlerhaft sind. Was heißt aber das? Etwa nur, dass wir zuweilen aus Unwissenheit einen Missgriff tun oder aus Übereilung ausgleiten, welches Beides durch bessere Belehrung und Vorsicht ein andermal vermieden und durch Ersatz und Abbitte wieder gut gemacht werden kann? Ach nein, nein! es ist etwas ganz anderes. Der Ausdruck: Fehler, ist gar nicht das rechte Wort, welches wir brauchen sollen, wenn wir von dem reden, was der Mensch tut wider Gottes Gebot. Fehler sind unverschuldete Übertretungen; unsere Vergehungen aber sind verschuldet und bedürfen der Sühne oder Versöhnung, darum müssen wir sie Sünden nennen. - Die Strafbarkeit und Verdammungswürdigkeit der Sünde liegt jedoch nicht sowohl in dem was wir tun, als vielmehr in dem Grunde, aus welchem die Tat hervorgehet; dieser Grund unsers Thuns und Lassens ist unsere Gesinnung. Hier, in unserer Gesinnung, in dem Innersten unseres Herzens, müssen wir also die eigentliche Sünde suchen, denn „aus dem Herzen kommen arge Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse, Lästerung und Alles was den Menschen verunreiniget.“2)
Wenn wir nun sagen, dass wir. Alle von Natur Sünder sind, so bedeutet das nicht mehr und nicht weniger, als dass in unser Aller Herzen von Natur die Sünde wohnt und dieselben verunreiniget. Da ist kein Unterschied, mag Einer vor der Welt so oder anders dastehen, ehrbar oder nicht, gepriesen oder getadelt, er ist ein Sünder, und mangelt alles Ruhms vor Gott dem Heiligen und Gerechten. - Dies ist nun die bittere Wahrheit, die unserm verwöhnten Gaumen nicht mundet, dass wir uns keiner Tugend rühmen dürfen, und dass Jeder, der sich vor Gott besser dünkt als Andere, und seine guten Werke für etwas Verdienstliches ansieht, dem verworfenen Pharisäer gleichet; aber sie ist und bleibt dennoch Wahrheit, wenn schon sehr Viele davor zurückweichen, weil sie sich fürchten sie zu untersuchen. Wollen wir auch dem heilsamen Kelch entfliehen? wollen wir den finstern Grund unserer Herzen von dem Strahle des göttlichen Lichtes abwenden? Nicht doch, meine Mitchristen, meine Mitsünder; wir wollen den heilsamen Kelch nehmen, und im Lichte des Evangeliums Jesu Christi sagen lernen: Gott sei mir Sünder gnädig! Hört die Beichte des Reumütigen, der zur Erkenntnis seines Elendes gekommen ist, und wer Ohren gehabt hat zu hören, frage sich dann, ob es sein eigenes Bekenntnis war.
Ich bin mit Allem was ich habe ein Schuldner Gottes; mein Vermögen ist sein, meine Kraft ist sein, meine guten Anlagen sind sein, die Gelegenheit sie zu benutzen ist sein; nichts, nichts ist mein, das Gott nicht angehöre, Doch betrachte ich mich denn auch, wie ich soll, als Gottes Eigentum, und, verwalte ich das anvertraute Gut nach seinem Willen und ihm zur Ehre? was soll ich sagen? Ich vergesse fast immer meinen Gott und Herrn, schreibe mir zu was ihm angehört, rühme mich dessen was er durch mich und in mir wirkte, verderbe seine Güter, verderbe mich selbst, trotze frevelnd auf seine Langmut und verschiebe die Buße auf die ungewisse Zukunft. o ich undankbares Geschöpf, ich treuloser unnützer Knecht! wenn der Herr jetzt vor mich träte und spräche: tue Rechnung von deinem Haushalten! wie musste ich in mir zusammenbeben! Gott sei mir Sünder gnädig!
Ich weiß die Heiligen Gebote Gottes von Jugend auf: ich soll keine Abgötterei treiben, den Namen Gottes nicht missbrauchen, den Feiertag heiligen, die Eltern ehren, nicht töten, nicht unkeusch sein, nicht stehlen, nicht lügen, keiner bösen Lust Raum geben in meinem Herzen. Wie habe ich das alles gehalten von Jugend auf? Was soll ich sagen? Ich habe das Gesetz als gut anerkannt, aber… nicht gehalten!
Zwar habe ich nicht in allen diesen Stücken grob gesündigt vor den Augen der Welt, und kein Mensch wird jetzt auftreten und mich verklagen, denn ich bin versichert, dass die Mitwisser meiner Vergehungen schweigen aus Schonung oder eigenem inneren Vorwurf; allein mein Gewissen schweigt nicht; es schreit laut und klagt vor Gott mich an, dass ich jedes seiner Gebote übertreten habe. Ich habe Abgötterei getrieben, indem ich meinen bösen Willen an der Stelle des göttlichen Willens zur Richtschnur meines Verhaltens machte und mein eigener Gott sein wollte; ich habe Abgötterei getrieben, indem ich öfters und lange Zeit das Geschöpf mehr liebte als den Schöpfer. Ich habe den Namen Gottes durch leichtsinnigen frevelnden Missbrauch entweihet und oft bei Gottes Namen und Jesu Namen weniger gedacht und empfunden, als bei der Nennung meines eigenen Namens oder sonst eines gleichgiltigen Wortes. - Ich habe den Feiertag nicht selten durch unnötige Arbeit und öfters noch durch törichte Belustigungen entheiligt, und mich dabei sogar auf die evangelische Freiheit zu berufen erfrechet, so dass ich die Freiheit des Christen zum Deckmantel des Bösen machte. - Ich habe meine Eltern in meiner Jugend schon nicht genug geehrt, und ihnen auch später nicht die zarte Schonung, die Geduld, die aufopfernde Liebe bewiesen, die ich ihnen vor Gott schuldig war. - Ich habe zwar noch niemand mit Gewalt getötet, aber in meinem Herzen habe ich schon jenen Zorn gehegt, den mein Heiland dem Totschlag gleich stellt, wenn er sagt: wer mit seinem Bruder zürnet, der ist als ein Totschläger des Gerichtes schuldig vor Gott. - Ich habe die unkeuschen Regungen meines Herzens nicht immer bekämpft wie ich sollte, und wenn ich auch kein Ehebrecher bin in des Pharisäers Sinne, so bin ich es doch in meines Heilandes Sinne, welcher sagt: wer ein Weib ansieht ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. - Ich habe in meiner Jugend das fremde Eigentum nicht genug geachtet, und wenn ich auch kein Dieb bin, den die menschlichen Gerichte bestrafen könnten, so war ich doch nicht immer bereit einem Jeden zu geben was ich ihm vor Gott schuldig bin, und mein selbstsüchtiges Herz hängt immer noch zu sehr an dem ungerechten Mammon. Ich habe nicht immer die Wahrheit geredet gegen meinen Nächsten, und manchmal mit abscheulichem Vergnügen Böses von ihm gesagt, wovon ich nicht einmal wusste, ob es auch ganz gegründet sei.
Und was die verbotene Lust betrifft, so fühle ich leider, dass sie sich täglich regt in meinem sündlichen Herzen; denn das Verbot schärft die Lust, und wenn die Gelegenheit sich immer sogleich gezeigt und Gottes gnädige Hand mich nicht zur rechten Zeit noch gewarnt und zurückgehalten hätte, wer weiß was schon aus mir geworden wäre? - Wo bleibet nun mein Ruhm vor Gott? Ist nicht meine ganze Erinnerung eine fortlaufende Kette von Übertretungen? Und wie viele Fehltritte habe ich getan ohne es zu bemerken? wie viele sündenschwere Stunden und Tage verlebte ich wie im Traume! Und du, mein treuer Gott, hast in der Zeit meiner Verblendung mich mit großer Geduld getragen, mich, der ich ein Gefäß des Zornes zur Verdammnis zugerichtet war. Jetzt erst, da mir die Augen aufgetan sind, fange ich an die Tiefe deiner Barmherzigkeit zu ahnen, in welche du die Berge meiner Sündenschulden versenken willst, wenn ich mit demutvollem Glauben rufe: Gott, sei mir Sünder gnädig!
Mit demutvollem Glauben, an wen? an was? - An wen anders als an Jesus Christus, den Tilger unserer Schuld? An was anders, als an das große Wunder der Gnade, welches nötig ist, um uns elende, verdammungswürdige Sünder zu retten von dem ewigen Tode, der als Fluch des Gesetzes auf der Sünde lastet?
Lasst uns, um dies deutlicher einzusehen, die beiden Folgerungen noch erwägen, welche aus der Wahrheit hervorgehen: dass wir alle Sünder sind.
Die erste Folgerung besteht darin, dass wir eingestehen müssen: wir können uns selber nicht helfen. Wer seine Sündhaftigkeit noch gar nicht erkennt, der ist in der Sünde völlig tot, und an eine Rettung ist bei einem Solchen noch gar nicht zu denken. - Der Anfang des Lebens muss allemal ein Wert der zuvorkommenden Gnade sein. Der Geist Gottes wehet überall, er ist an keine Regel gebunden; aus dem Worte Gottes geht sein belebender Hauch hervor und erwecket die Seelen, indem er sie überweist von der Sünde, von der Gerechtigkeit und dem Gerichte3). - Das erste Aufwachen aus dem Todesschlafe ist also die Erkenntnis der Sünde, das ist eine selige, wiewohl gar nicht beseligende Erkenntnis. Der Erweckte sieht und fühlt seinen bejammernswerten gefährlichen Zustand mit tiefer Wehmut; je mehr er über sich selbst nachdenkt, desto lebhafter durchdringt ihn jene göttliche Traurigkeit, welche zur Seligkeit wirket eine Reue, die Niemand gereuet. Er sehnt sich nach Hilfe, wie ein Kranker nach dem Arzte; seine Sündhaftigkeit erscheint ihm nun als ein peinliches Uebel, als ein Aussatz, der ihn gegen sich selbst mit Abscheu erfüllt, und den er doch nicht los werden kann, denn alle menschliche Mittel sind unkräftig, und wenn sie auch auf einer Seite eine scheinbare Heilung bewirken, so bricht der Schaden auf einer andern Seite nur desto schrecklicher aus. Allein dies ist noch nicht die ganze Noth des Erweckten, zu dem Gefühle der Krankheit gesellt sich auch noch das beklemmende Bewusstsein der Schuld. Was geschehen ist, ist geschehen, ich kann es nicht mehr zurücknehmen. Um eine Schuld der Vergangenheit zu tilgen müsste ich in der Gegenwart noch mehr tun können als mir befohlen ist; und das vermag ich nicht, denn, wenn ich alles Gute getan habe, das mir möglich war (und wenn tue ich es je?) so habe ich doch nur meine Schuldigkeit getan.
Die ganze Schuld des verflossenen sündlichen Zustandes, eine ungeheure Schuld, liegt also auf einem Jeden von uns, und zeuget wider ihn im Gerichte. Auf die Barmherzigkeit Gottes darf ich mich nicht berufen, weil die Gerechtigkeit das Verdammungsurteil aussprechen muss. Zwischen dem Heiligen Gott und dem schuldbeladenen Sünder steht das ewige unverletzbare Gesetz als undurchdringliche Scheidewand; und darin besteht eben die Verdammnis, dass ich als Sünder von Gott, der Quelle des Lebens, geschieden und im Tode gebunden bleibe. Der Stachel des Todes ist die Sünde, die Kraft aber der Sünde ist das Gesetz4). Das Gesetz, das die höchsten Geister verpflichtet, kann nicht den Menschen zu Gunsten abgeschafft werden, und wollte Gottes Güte eine Ausnahme machen, so wäre das Willkür, die sich nicht mit seiner Helligkeit vertrüge. O! wenn dies doch Alle recht begriffen und Alle zugleich einsähen, wie unmöglich es den Menschen ist, sich vor Gott zu rechtfertigen, und wie uns nichts übrig bleibt als mit dem Zöllner zu sagen: Gott sei mir armen Sünder gnädig! Heile Du meine Krankheit, denn ich vermag es nicht; tilge Du meine Schulden, denn ich habe nichts, das ich dir geben könnte! Wenn wir so sprechen, und es uns mit diesen Worten ein rechter Ernst ist, dann werden wir durch eine innere Nötigung zur zweiten Folgerung hingetrieben, die aus der Wahrheit hervorgeht, dass alle Menschen Sünder sind. Diese zweite Folgerung heißt:
Die Menschheit bedarf eines Versöhners.
Vergebens bemüht sich der Hochmuth des alten Menschen dieses Bedürfnis zu leugnen; es drängt sich uns willkürlich aus der Tiefe der jammernden Seele hervor, und alle Völker, die von dem Evangelium der Welterlösung nichts wissen, bezeugen durch ihre Opfer, ihre Büßungen, ihre Selbstpeinigungen, dass dem stolzen Verstande zum Trotz die Sehnsucht nach der Erlösung von dem Uebel und nach der Versöhnung mit der ewigwaltenden Gerechtigkeit, etwas Unvertilgbares ist in unserem Wesen.
Freilich greifet diese Sehnsucht, wenn sie nicht vom Geiste Gottes erleuchtet wird, nach lauter falschen Mitteln. Der natürliche Mensch, der in der Finsternis wandelt, weiß nicht wo er hingehet; er drehet sich im Kreise, trachtet immer wieder aufs neue seine eigene Gerechtigkeit aufzurichten, und mühet sich vergeblich ab, bis endlich das Licht der Wahrheit die Todesschatten um ihn her zerteilt, und ihm den Weg des Lebens zeigt. Die Erleuchtung wird aber einem jeden Menschen einmal eine Zeitlang gegeben. Uns leuchtet jetzt das göttliche Licht in voller Klarheit, und der Herr ruft uns zu: „Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch; wandelt dieweil ihr das Licht habt, dass euch die Finsternis nicht überfalle!5)“
O! wandelt, ihr Sünder! stehet nicht zweifelnd stille; raffet euch auf aus der Trägheit des Unglaubens, und gehet hin zu dem, der euch zur Versöhnung für eure Sünden gegeben ist! Er heißet Jesus Christus; seht wie er euch liebend seine durchbohrten Hände entgegenstrecket, höret seine Stimme, er sagt: Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken und euch Ruhe geben für eure Seelen! Warum zaudert ihr noch? - Trauet ihr ihm denn nicht? Ach, er hat euch ja das heiligste Unterpfand, sein eigenes Blut gegeben. Er, der heilige Gottessohn, der nie eine Sünde getan hat, ist für euch Sünder in den Tod gegangen, auf dass ihr der Sünde abgestorben im Glauben an ihn lebet durch seine Gerechtigkeit, und heil werdet durch seine Wunden! Das ist das Wunder der göttlichen Gnade, die eine Anstalt getroffen hat das tiefste Bedürfnis unserer Seele zu befriedigen, und Gerechtigkeit mit Barmherzigkeit so gut vereinigen, dass beide in der ewigen Versöhnung6) sich vor unsern staunenden Blicken verklären.
Fordert über diese feierliche Zusicherung keine weitläufige Erläuterung mehr. Kommt nur und erfahret es selbst; kommt zu unserm Herrn Jesu in demutvollem Glauben, mit zerschlagenem Herzen und wandelt in seinem Lichte auf seinem Kreuzeswege, und wenn eure Sünde gleich blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, denn das Blut Jesu Christi des Sohnes Gottes macht uns rein von aller Sünde! Amen.
Jesaja 53.
Bekümmert sitz' ich da und weine:
Ich les' in des Propheten Buch.
Der Freund vom Himmel, den ich meine,
Der mir zum Segen ward ein Fluch;
Der meine Krankheit trug und Schmerzen
Auf dem die Last der Strafe lag,
Dass meine Nacht sich kehrt in Tag,
Dass Friede würd' in meinem Herzen:
Den ahn' ich wohl in dunkler Ferne,
Doch trübt noch Nebel mein Gesicht.
Wohl freundlich gleich dem Morgensterne,
Blickt er hindurch in blut'gem Licht;
Allein es trifft der Strahl der Liebe
Gebrochen nur mein krankes Herz;
Es seufzt in mir ein stummer Schmerz:
!Ach Er! Dass Er mir würd' und bliebe!„
Verstehst du, was du liesest? schallet
Es plötzlich tief in mich hinein,
„Zu wem dein Herz in Sehnsucht wallet?“
Ein Schwert durchbohrt mir Mark und Bein:
Lebendig, kräftig, herzdurchdringend
Durchweht des Geistes Sausen mich:
Der Mann der Schmerzen nahet sich
Blass, blutig, regnend, ruhebringend.
Der Sünde Wolken sind verschwunden;
Ich steh' im warmen Sonnenglanz.
Ich seh', ich zähle seine Wunden;
Mein Auge hängt am Dornenkranz.
Sein ist die Strafe, mein der Friede.
„Seht welch ein Mensch!“ für mich! für mich!
O selig Herz! wer ist, der dich
Von deines Heilands Liebe schiede?
Wohlan! Die Ketten sind zerbrochen!
Wer wehrt dem heil'gen Sakrament,
Dass über dir werd' ausgesprochen
Der Name, den sonst niemand kennt?
Geschehen ist die Feuertaufe.
Ergreife nun in Geistes Kraft
Getrost den Stab der Pilgerschaft;
Zieh' deine Straß' in frohem Laufe!
Jesaja 60, 1-2.
Wie eitel, wie eilig ist alles hienieden!
Gottlob! Meine Seele hat dauernden Frieden.
Sie mögen entfliehen, die Räume, die Stunden:
Mein Heil ist gefunden!