Gundert, Ernst - Predigt am Sonntag Exaudi
von
Seminarrektor Gundert in Nürtingen.
Ev. Joh. 7, 33-39. (II. Jahrgang.)
Da sprach Jesus zu ihnen: Ich bin noch eine kleine Zeit bei euch, und dann gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat. Ihr werdet mich suchen und nicht finden; und da ich bin, könnt ihr nicht hinkommen. Da sprachen die Juden unter einander: Wo will dieser hingehen, dass wir ihn nicht finden sollen? Will er zu den Zerstreuten unter den Griechen gehen und die Griechen lehren? Was ist das für eine Rede, dass er sagt: Ihr werdet mich suchen, und nicht finden, und wo ich bin, da könnt ihr nicht hinkommen? Aber am letzten Tage des Festes, der am herrlichsten war, trat Jesus auf, rief und sprach: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke. Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen. Das sagte er aber von dem Geist, welchen empfangen sollten, die an ihn glaubten. Denn der Heilige Geist war noch nicht da, denn Jesus war noch nicht verklärt.
Geliebte in dem Herrn! Das fröhliche Laubhüttenfest ging seinem feierlichen Abschluss am großen Sabbat entgegen. Das Volk, welches diese Tage in Hütten unter Blumengewinden zugebracht hatte, strömte in den Tempel zurück. Während der ganzen Festzeit hatte ein Priester zum Trankopfer des täglichen Morgen- und Abendopfers Wasser aus der Quelle Siloah in goldener Kanne gebracht, und es war dann unter dem Rufe der Anwesenden „ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus dem Heilsbrunnen“ mit dem Trankopferwein ausgegossen worden. Man erinnerte sich dabei an die alten Weissagungen von der Segensquelle, die vom Haufe des Herrn ausgehen und zu einem mächtigen Strome anschwellend weit umher das Land befruchten werde. Und hier an heiliger Stätte sammelte man sich noch einmal, ehe man in den gewohnten Kreis des Alltagslebens zurücktrat; hier ertönten die Lobgesänge der Leviten, hier stieg der Opferrauch zum Himmel empor, hier empfing die harrende Menge den Segen aus priesterlichem Munde. Aber diesmal öffnete sich ein höherer Mund. „Am letzten Tage des Festes, der am herrlichsten war, trat Jesus auf, rief und sprach: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!“
Meine Lieben! Hier wollen wir stille halten. An diesem Prediger können wir nicht vorübergehen. Hier ist Gottes Stimme. Und sie klingt wie ein machtvolles Schöpfungswort, welches die kühnsten Hoffnungen der Vorzeit in Erfüllung ruft, welches wirklich und wahrhaftig den Tempel in eine Stätte unversiegbaren Segens umwandelt und in dem Heiligtum des auserwählten Volkes eine Quelle des Lebens für alle Geschlechter der Erde eröffnet. Hört
den Ruf unseres Herrn Jesu Christi: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!
Wir fragen I. Wer ist geladen? und erhalten die Antwort: Jeder, den da dürstet.
Wir fragen II. Was fordert er von dem Dürstenden? und erhalten die Antwort: Er komme zu mir!
Wir fragen III. Was verheißt er dem kommenden? und erhalten die Antwort: Er trinke!
I.
Geliebte in dem Herrn! Der Herr lädt Alle ein, die da dürsten. Es hat unter den damaligen Juden viele gegeben, von denen dies nicht gesagt werden konnte, deren Gedanken sich eher in die Worte zusammenfassen ließen: „Ich bin reich und habe gar satt und bedarf nichts.“ Eben zu jener Zeit hatten die Pharisäer und Hohenpriester Knechte ausgesandt, die sich unter die versammelte Menge mischen und nur auf eine günstige Gelegenheit warten sollten, ihn zu greifen. Es waren entscheidungsvolle Augenblicke. Neben der Herrschsucht der geistlichen Oberen, die sich den Führerstab nicht aus der Hand winden lassen wollten, und neben dem Kaltsinn des großen Haufens, der nur für irdische Güter Sinn hatte, machte sich vielfach doch auch ein tieferes Bedürfnis geltend. Die ganz einzigartige Persönlichkeit des Herrn mit ihrer stillen, großen Herrlichkeit voll Gnade und Wahrheit hatte unverkennbaren Eindruck hervorgebracht. Es war unter dem Volke ein Gegeneinanderwogen verschiedenartiger Gesinnungen. Man konnte nicht vorausberechnen, wie diese Gärung endigen sollte. Da wirft er das entscheidende Wort in die Mitte. Er wendet sich an diejenigen, die da dürften. Die ruft er herbei. Sein freundliches Wort durchbricht die trüben Dunstmassen der verwirrten Urteile und Gemütserregungen wie der reinste, mildeste Sonnenstrahl; es lockt alle suchenden Seelen, alle, die sich unbefriedigt abwenden von den Leckerbissen dieser Welt, alle, denen das Irdische nicht genügt. Wer sollte sich demselben verschließen, wer die dargebotene Gabe nicht annehmen wollen! Schon ein Sänger des Alten Bundes hatte einst gebetet: Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir, meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?“ Ein solches Dürsten ging auch damals durch weite Kreise der alttestamentlichen Gemeinde. Ach, der treue Herr kannte sein Volk wohl. Es jammerte ihn desselbigen, weil sie verschmachtet und zerstreut waren, wie die Schafe, die keinen Hirten haben. Da war von außen der, Druck einer stolzen Fremdherrschaft, die für die Vorzüge des Volkes Israel kein Verständnis, für seine Leiden kein Herz, für seine volkstümliche Eigenart nur Spott und Verachtung hatte. Da war von innen der Druck einer starren Gesetzlichkeit, die das ganze Leben mit einem Netz der kleinlichsten Gebote umstrickte und dabei vom Geiste des göttlichen Gesetzes immer weiter abkam. Da war vielfach auch der lähmende Druck einer geistigen Dede und Leerheit, die sich über alle Gebiete des Lebens und der Sitte wie ein schleichendes Gift verbreitete und jeden Aufschwung, jede Erhebung des Gemütes über das Getriebe der sichtbaren Welt niederhielt.
Aber, meine Lieben, die Frage richtet sich jetzt an uns: Sind auch wir unter den Eingeladenen, unter denen, von welchen gehofft werden darf, dass sie zu dem Herrn kommen und bei ihm bleiben und bei ihm finden werden, was sie suchen? Verstehen wir es wohl! Das Wort „Wen da dürstet“ leidet keine Einschränkung. Der Herr schließt keine Partei aus, keinen Pharisäer und keinen Sadduzäer, keinen Priester und keinen Schriftgelehrten. Auch Kaiphas darf kommen, wenn ihn dürstet. Ob du für fromm oder für einen Weltmenschen gegolten hast, das ändert an der Einladung nichts; ob dir der Glaube der Väter unerschüttert und ganz geblieben, oder von Zweifeln zerfressen worden ist - der Herr wendet sich an dich, sobald dich „dürstet“. Ja, auch nicht die Schwere deiner Schuld, die Größe deiner Sünden versperrt dir den Zugang. Ob du in offenbare grobe Laster hineingeraten, oder insgeheim durch das Bewusstsein arger Schuld gequält oder bei äußerlich vorwurfsfreiem Leben durch die Erkenntnis deiner mannigfaltigen sittlichen Mängel und Gebrechen niedergedrückt bist - es kommt nur darauf an, dass du dich nach Heilung sehnst, und du bist unter den Eingeladenen. Jesus sagt nicht einmal: Wen nach mir dürstet, der komme zu mir. Er beschränkt seinen Zuruf nicht auf diejenigen, welche schon erkennen, was sie an ihm gewinnen. Aber die notwendige Voraussetzung, ohne welche es gar nicht denkbar ist, dass man sich überhaupt in Bewegung setze, um Labung und Erquickung zu finden, ist das Dürsten. Der Dürstende hat das marternde Gefühl, dass ihm etwas fehlt, was er zum Leben bedarf. Es fehlt ihm etwas, und zwar nicht etwas, das er entbehren könnte, nicht nur ein äußeres Gut, dessen Besitz oder Verlust nur einen vorübergehenden Einfluss auf ihn hätte, sondern etwas Notwendiges, ohne das er nicht leben kann, ohne das er elendiglich verschmachten und verderben muss. Sein Blut vertrocknet ihm im Leibe, eine unerträgliche Glut gießt sich über seinen Körper aus, und diese lechzende Empfindung teilt sich jedem Nerv und jedem Muskel mit. Er muss Erfrischung haben; sonst ist er verloren. Das ganze Elend dieses Hinschmachtens hat der Herr selbst am Kreuze gefühlt, da er rief: „Mich dürstet!“ Man kann es aber auch bei Kranken, insbesondere bei Schwerverwundeten beobachten, mit welcher Fieberhaft sie den dargebotenen Trunk Wassers ergreifen, welche dankbaren Blicke sie dem Geber zuwerfen. Sie haben Leben getrunken, und Leben war es, was sie bisher entbehren mussten. Nun, meine Lieben, haben wir auch das Gefühl, dass uns, so wie wir von Natur und durch unser eigenes Tun sind, etwas fehlt? Nicht eine bloße Nebensache, deren Besitz zwar schön und gut, aber doch nicht gerade notwendig wäre, sondern etwas, ohne das wir nicht leben können, das wir haben müssen, wenn wir nicht zu Grunde gehen sollen? Oder sind wir mit uns selbst wohl zufrieden und finden uns in der Welt ganz behaglich auch ohne Christum zurecht? Sie hat ja so vielerlei Güter und Dinge, mit denen man hoffen kann die innere Leere auszufüllen. Man braucht nicht grober Sinnenluft ergeben zu sein, um im weltlichen Treiben aufzugehen. Es ist doch nichts Geringes, sich in ernster, gewissenhafter Berufsarbeit für sich und die Seinigen den nötigen Lebensunterhalt zu erwerben. Wie leicht kann es da geschehen, dass alle Kräfte nur auf diesen einen Zweck hin gerichtet sind, und das Sinnen und Trachten des Herzens ganz und ausschließlich von demselben in Anspruch genommen wird! Und welcher Reichtum von edlen Genüssen eröffnet sich denen, die ihr Streben über die Fragen des bloßen Erwerbs hinaus nach den ausgebreiteten Gebieten der Kunst und der Wissenschaft hinlenken, sei's, um ihr eigenes Leben damit zu schmücken, sei's, um Anderen mit den Ergebnissen ihrer Arbeit zu dienen! Und das alles sollte nicht ausreichen? Seht, meine Lieben, da liegt eine Versuchung, durch welche sich Viele zu Fall bringen lassen. Gott hat, wie die Schrift sagt, die Ewigkeit in des Menschen Herz gelegt, und er kann deshalb von den zeitlichen Dingen gar nicht satt werden. Nur in der Gemeinschaft mit Gott, nur als ein Spiegel, der die Strahlen der göttlichen Gnade und Wahrheit in sich aufnimmt, kann er seine Bestimmung und eben daher auch seine Seligkeit erreichen, denn er ist zum Bilde Gottes erschaffen. So trägt jeder Mensch den inneren Mahner, die Stimme in sich, die das Geschöpf zu seinem Schöpfer, das Abbild zu seinem Urbild, den gewordenen Geist zu dem Vater der Geister hinruft. Aber wenn man diese Stimme fortwährend ans Schweigen gewöhnt und so oft sie laut werden will, zur Ruhe verweist, dann bringt man es zuletzt dahin, dass sie von dem geräuschvollen Treiben der Welt in und außer uns ganz übertäubt wird. Und da entsteht dann jene verhängnisvolle Sicherheit, da man meint, man sei mit der Erde zufriedenzustellen und könne des Himmels entraten.
Am stärksten wird diese Täuschung, wo man vom Christentum einen Schein, ein wesenloses Schattenbild erhascht hat. Die Macht der Gewohnheit kann ja auch das Heilige zu etwas Alltäglichem machen. Die äußere Lebenssitte trägt oft noch lange jene tiefere Färbung, während im Herzen der Zug zu Gott ohnmächtig geworden ist. Lässt sich der ernste Mahner je wieder hören, so kann man ihn mit Nachdruck zurechtweisen: Gehe ich nicht in die Kirche? Lese ich nicht in frommen Büchern? Findet man mich nicht in der Gesellschaft guter Christen? Führe ich nicht einen ehrbaren Wandel? Was willst du noch weiter, du Stimme aus dem Grunde meiner Seele? Du bist nur die Ausgeburt einer krankhaften Überreizung, wie sie gerade bei den Besten einzutreten pflegt. Also schweig, zurück! Du sollst mich nicht weiter stören! Geliebte in dem Herrn! Wenn es so bei uns aussieht, dass wir leben können und uns befriedigt fühlen, auch ohne mit dem Herrn in Gemeinschaft zu stehen, dann ist alle Einladung vergeblich; dann gilt von uns das Wort: „Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.“ Leiden wir dagegen unter der schmerzlichen Empfindung, dass uns fehlt, was wir zu unserem bleibenden Glücke, zu unserem wahren Leben nötig haben, dass unsere unsterbliche Seele von den Dingen dieser Welt allein nicht leben kann und einer Nahrung bedarf, die ihr kein Gut und keine Lust der Erde zu reichen vermag, erfüllt uns die Sehnsucht nach Deckung dieses Mangels, nach Heilung unseres Schadens, nach Rettung aus dem Elend der Sünde und des Todes; dann, meine Lieben, sind wir unter denen, zu welchen der Herr spricht: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!“
II.
Geliebte in dem Herrn! Dieses Wort unseres Heilandes sagt uns zugleich, was wir in der Pein solchen Dürstens zu tun haben. Wen da dürstet, spricht er, der komme zu mir! Das Dürsten ist zunächst nur die Empfindung des Mangels, das Gefühl des Schadens und die daraus entstehende Ruhelosigkeit, die sich nicht heben lässt, bis das rechte Heilmittel gefunden ist. Aber das Dürsten für sich allein zeigt uns noch nicht den Weg, den wir einschlagen müssen, um zur Quelle zu gelangen. Man kann dürsten und dabei an gar vielen Orten vergeblich nach Wasser suchen. Ein Teil der Juden in unserem Texte hatte die spöttische Frage hingeworfen: „Will er unter die Griechen gehen, die hin und her zerstreut liegen, und die Griechen lehren?“
Nun, eben unter den Griechen gab es solche Suchende in Menge, und ihr sehnsüchtiges Verlangen verkörperte sich dem Apostel Paulus in dem nächtlichen Gesicht von einem Mann aus Makedonien, der stand und bat ihn und sprach: Komm herüber in Makedoniern und hilf uns!“ Jenes brennende Verlangen war zuvor nach allerlei Seiten hin umhergeirrt, bis es vor dem Sendboten des erhöhten Weltheilandes zum Stehen kam. Wie mancher edle Grieche oder Römer hat sich in solchem Suchen müde gelaufen! Der Prokonsul Sergius Paulus in der Apostelgeschichte kann uns ein Beispiel sein. Wohin sollte er sich in seinem Durst nach Wahrheit wenden? Vielleicht hat er zuerst bei seinen Göttern angeklopft, aber den Steinen war kein Wasser zu entlocken; dann bei den Weltweisen angefragt, es half wieder nichts; jetzt trieb ihn sein unbefriedigtes Sehnen zu den geheimnisvollen Religionen des Morgenlands; er hatte eine Ahnung davon, dass das Volk Israel im Besitze von wesenhaften geistigen Gütern sei, und nun fiel er einem jüdischen Zauberer in die Hände, bis der Apostel Paulus vor ihm erschien und es plötzlich wie von hellem Morgenglanze in seiner Seele Licht wurde. Hat sich diese Geschichte schon ausgelebt? Wiederholt sie sich nicht auch in unseren Tagen? Das Herz, dieses unberechenbare, trotzige und verzagte Ding, ist der Weltlust hingegeben; aber ein geheimer Stachel lässt es nicht zur Ruhe kommen. Jetzt wendet man sich dahin, dorthin, um Heilung zu suchen. Man möchte dem alten Wesen nicht entsagen und doch den Schaden los werden. Man hört hohe Redensarten von der Weisheit des 19. Jahrhunderts und möchte des Wassers trinken. Vielleicht gelingt es da, sich mit einem Mal von all den unbequemen Gedanken zu befreien. Man macht einen Strich durch den alten Glauben und spricht zu all den drohenden Mächten einfach: Ihr seid nicht! Allein sie sind doch da; das Gewissen ist doch da; der Richter der Welt ist doch da; die Ewigkeit ist doch da. Die Unruhe wächst. Man versuchts mit Leuten anderer Art. Man hört von irgendeinem Namen, der Heilung verspricht, und wendet sich dahin, möchte Zeichen und Wunder sehen. Und die Einen rufen: Komm zu uns, wir haben den Weg der Seligkeit! Nein, rufen Andere, die sind ganz auf unrechter Fährte; aber bei uns wirst du finden, was du suchst! Wie, ruft ein dritter Chor, hast du denn gar kein Urteil in geistlichen Dingen? Jene Leute sind, die Einen wie die Andern, für Heiden und Zöllner zu achten, wir allein stehen im Besitze des rechten Kleinods. Wie wirst du dich so selig fühlen, wie wirst du ein neuer Mensch werden, wenn du dich an uns anschließt! Und Jeder preist seine Eigenart oder die der Genossenschaft, welcher er angehört, und die Menge und das Gewicht ihrer Anhänger, und Alle rufen mit lauter Stimme, der Eine da, der Andere dorther: Komm zu mir! zu mir! Da klingt wohl dem armen Sucher der Warnungsruf des Apostels in die Ohren: „Werdet nicht der Menschen Knechte!“ und er vernimmt die Stimme derer, welche, Gott sei Dank! noch immer in reicher Zahl mit besserer Auskunft am Wege stehen und zu den Dürstenden sprechen: Komm nicht zu mir! aber komm zu Christo! komm zu dem großen Meister, dessen weltumfassender Geist sich nicht in das enge Gehäuse selbstgefasster menschlicher Meinungen und Satzungen sperren lässt! Komm zu deinem Herrn, der dich mit seinem Blute zu seinem Eigentum erworben hat! Komm zu dem eingeborenen Sohne des Vaters und nimm aus seiner Fülle Gnade um Gnade! Der will dich ganz allein haben und sich nicht mit Menschen in deine Seele teilen. Halte dich ganz an ihn und lerne von ihm; denn er ist sanftmütig und von Herzen demütig, so wirst du Ruhe finden für deine Seele! Zwar hat er wie kein Zweiter der ganzen Weltgeschichte sein Siegel aufgedrückt und die Christenheit allerorten trägt etwas von den Spuren seines Geistes an sich. Aber am Klarsten findest du ihn in seinem Wort. Da siehst du ihm ins Herz. Und so, wie er sich da offenbart hat, so ist er noch heute, so lebt er fort in die Ewigkeiten als ein Herr aller Herren und König aller Könige. Also komm zu ihm durch heilsbegierige Aufnahme seines Wortes! Hier ist dauernde Erquickung. Komm zu ihm im Gebet und huldige ihm als deinem Herrn, dass er sich unzertrennlich mit dir als seinem Eigentume verbinde! Komm zu ihm mit herzlichem Glauben und Vertrauen, wie man zum Vater zurückkehrt aus der Fremde, um in seinen Armen auszuruhen.
Meine Lieben! Die freundliche, holdselige Einladung unseres Herrn Jesu Christi hat ihre sehr ernste Seite. Er bittet und ruft nicht immerfort; es kommt eine Zeit, da die Gnadenfrist verstrichen ist für diejenigen, welche seine Worte nicht haben hören wollen. Da heißt es dann: „Ihr werdet mich suchen und nicht finden.“ Welch eine Drohung! Die Juden an jenem Laubhüttenfest hatten sie mit Spott aufgenommen. An sein Wort von seinem Hingang zu dem, der ihn gesandt habe, und von ihrem vergeblichen Suchen knüpften sie das leichte Gerede: „Wo will dieser hingehen, dass wir ihn nicht finden sollen? Will er unter die Griechen gehen, die hin und her zerstreut liegen und die Griechen lehren?“ Auf alle diese Fragen war zu der Zeit, als diese Worte geschrieben wurden, die Antwort schon gegeben. Der Herr war hingegangen. Er hatte sich von seinem Volk verschmähen, verwerfen, kreuzigen lassen und so das Werk vollbracht, zu dem er gesandt war. Mit der vollständigen Erfüllung seiner Aufgabe war er zu seinem Auftraggeber zurückgekehrt. Die Juden hatten ihn gesucht. Es waren die Tage gekommen, da sie in der Angst ihrer Seele nach einem Helfer und Retter, wie sie ihn an Jesu hätten haben können, verzweiflungsvoll ausschauten, nicht dass sie hätten Buße tun wollen, nicht dass sie ihre Schuld erkannt und bereut hätten; aber die Folgen, das furchtbare Todesgericht, das über das ganze Volk hereinbrach, hätten sie gerne um jeden Preis abgewandt. Sie hatten ihn nicht gefunden. Das Blut dessen, der ihnen allein hätte helfen können, war ihrer eigenen Verwünschung gemäß über sie und ihre Kinder gekommen. Der erhöhte Herr war zu den Griechen gegangen. Von Land zu Land war seine Friedensbotschaft gedrungen. Über das Weltreich jener Zeit breitete sich ein Netz hin und her zerstreuter Gemeinden aus, unter denen Jesus Christus seine Wohnstatt hatte. „Wen da dürstet,“ spricht der Herr, „der komme zu mir!“ O wohl dem Land, wohl der Gemeinde, da er zu finden ist, da sein seligmachendes Wort frei im Schwange geht! Man kann es ja durch Missbrauch und Verachtung vertreiben. Es gleicht, wie Luther sagt, einem fahrenden Platzregen, wo es gilt, das Wasser zu sammeln, so lange es sich ergießt. Sowohl im Leben der einzelnen Menschen als in dem der Völker gibt es Gnadenzeiten, in denen der Herr die Fülle seiner Wahrheit und seines Lebens besonders reichlich darbietet, und die in solcher Weise nicht wiederkehren, wenn man sie unbenützt an sich vorübergehen lässt. Bleiben wir nicht zurück, wo der Herr ruft! Kommen wir mit aufrichtiger Buße und gläubigem Vertrauen zu ihm!
III.
Wer so zu ihm kommt, dem gibt er die Verheißung mit dem dritten Worte seines Einladungsrufs: Er trinke! Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Meine Lieben! In diesem schlichten Worte liegt das Bewusstsein eines unerschöpflichen Reichtums an göttlicher Kraft. Wer ist der, müssen wir fragen, der alle die Millionen der Menschheit zu sich ruft mit der Gewissheit, einem Jedem darreichen zu können, was das tiefste Sehnen seiner Seele stillt, und Keinen unerhört und unbeschenkt von dannen ziehen lassen zu müssen! So kann nur einer reden, der mit Gott eins ist, der seine Hand über die Schätze des Vaters streckt und zu ihm spricht: „Alles, was dein ist, das ist mein.“ Wer zu ihm kommt, der kommt zum Vater, zum Quell alles Lebens, aller Freude, aller Seligkeit.
Wir können daraus ermessen, wie schrecklich das Geschick derer ist, die seinem Rufe keine Folge leisten, die ihn zu dieser ihrer Zeit nicht suchen, von denen er sagen muss: „Da ich bin, könnt ihr nicht hinkommen.“ ein schneidender Gegensatz! Von den Seinen sagt O er: „Wo ich bin, da soll mein Diener auch sein.“ Von denen, die ihn verschmähen, sagt er: „Wo ich bin, da könnt ihr nicht hinkommen.“ Da wird uns Leben und Tod, Seligkeit und Verdammnis vorgelegt, dass wir das Leben erwählen. Ist schon das leibliche Verschmachten etwas Entsetzliches, was wird es erst sein, wenn die Seele verschmachtet, wenn endlich das lang verhaltene Dürsten ausbricht, wenn das ganze Truggewebe, mit welchem sie sich umsponnen hat, zerrissen hinter ihr liegt und die volle grauenhafte Wirklichkeit zu Tage tritt, dass sie elend ist, angewiesen auf Ewigkeitsnahrung, und doch ganz dem Eitlen und Nichtigen zugewandt, welches nun für immer hinter ihr zurückgewichen ist, und verlassen und verstoßen von dem Reiche des Lebens, welches sie von sich gewiesen hat! Das ist der schauervolle Sinn des Wortes: „Wo ich bin, da könnt ihr nicht hinkommen.“ Dagegen verheißt er uns, wenn wir ihn gläubig suchen, lebendiges Wasser, eine Erquickung, bei welcher allem Suchen der Seele ein fröhliches Finden antwortet, allen ihren Bedürfnissen die volle Befriedigung zu Teil wird, da sie sich an der Fülle göttlichen Lebens erlaben und sich in aller ihrer Schwachheit mit den Kräften der zukünftigen Welt sättigen darf. Bei dem Herrn Jesu findet sie Vergebung ihrer Sünden; das heißt: Leben trinken; denn die Schuld scheidet uns von Gott und versenkt uns in das Grauen des Todes. Bei ihm findet sie, die heiligende Kraft des göttlichen Geistes; das heißt: Leben trinken; denn durch die Sünde werden die edelsten Kräfte des Menschen gelähmt und er gewinnt sich selbst erst, wo sie zur Freiheit entbunden werden. Bei ihm findet er im Leiden eine Tröstung, welche tiefer geht als alles Wehe des irdischen Daseins, und für die Freuden eine Weihe, durch welche sie erst mit unvergänglichem Gehalte erfüllt werden. Bei ihm findet er für sein Denken den Schlüssel zur Lösung der wichtigsten Fragen, für sein Handeln die lohnendste Aufgabe, nämlich die Mitarbeit am Reiche Gottes; durch den Herrn wird ihm sein Amt und Berufsgeschäft geadelt; es erhält unendlichen Wert als ein wesentliches Glied in der Kette der Mittel, durch welche der König der Ewigkeiten die Zwecke seines Weltplans verwirklicht; durch Jesum wird ihm auch sein Haus zu einer Stätte des Friedens und edlen Glückes, ja zu einem Tempel geheiligt, in welchem Gott selbst seine Wohnung hat. Durch ihn wird das innerste Wesen des Menschen dem allgemeinen Los des Dahinwelkens entnommen. Denn er ist in die Gemeinschaft mit dem Vater erhoben und darf in derselben ewiges Leben trinken. Und zwar nicht nur für sich selbst! Der Herr fügt noch bei: „Wer an mich glaubt, von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen.“ Jedes gläubige Herz soll hienach zu einer Quelle werden, von welcher auch auf Andere Leben überströmt. Es gehört zu den bittersten Folgen der Sünde, dass sie nicht nur des Menschen eigenes Dasein vergiftet, sondern als böses Beispiel ihren Ansteckungsstoff auch in fremde Kreise trägt und als eine Schuld, welche der Strafe ruft, auch Andere in die Übel verwickelt, welche sie herbeizieht. Oder gibt es ein ärgeres Wehe als das Bewusstsein, an dem Elend und Verderben derer schuld zu sein, deren leibliches und geistliches Wohl man hätte fördern sollen? Was ist Brandmal im Gewissen, was ist Höllenqual, wenn es dieser Gedanke nicht ist? Und nun ermiss, wenn du es vermagst, den Wert und die Größe der Zusage, dass dein Heiland dich zu einem Born des Segens setzen will, von welchem Heil und Frieden in vollen Strömen auf deine Umgebung übergehen soll! Liegt darin nicht ein Himmel voll Seligkeit? Wir bekommen hievon vielleicht in diesem zeitlichen Dasein nur wenig zu sehen, nämlich gerade so viel, dass wir noch in der Demut erhalten bleiben und doch den Mut nicht verlieren. Aber glauben dürfen wir dem Wort des Herrn, auch wo wir nicht sehen. Denn sein Zeugnis ist wahr, und es hat sich im Laufe der Jahrhunderte an all den Seinen erprobt. Der verratene, verleugnete, verlassene, verworfene Jesus ist der Heiland der Welt geworden. Seine verachtete Gemeinde ist der Lebensherd geworden, von welchem aus sich eine Flut des Segens über die Völker der Erde ergossen hat. Wo sich Keime des Lebens regen, da pflanzen sie sich fort und breiten sich aus, und wo ein Funke entzündet wird, da wacht bald Flamme an Flamme auf.
Und was sich uns hienieden schon als Wahrheit bestätigt, was wir schon in der Zeit sich vorbereiten und den Anfang nehmen sehen, das werden wir recht verstehen, wenn sich der volle Gehalt seines Verheißungswortes offenbart, wenn das Stückwerk aufhört und das Glauben zum Schauen geworden ist. Wohl einem Jeden, der dann alle die drei Stücke das Dürsten, das Kommen und das Trinken an sich erfahren hat und nun am Urquell des Lebens selig ausruhen darf! So hören wir denn noch einmal das Wort unseres Heilands, und es begleite uns mahnend und lockend auf allen unseren Wegen: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!“ Amen.