Gregorius von Nyssa. - Erste Rede über das Gebet.
Über das Gebet gibt uns das göttliche Wort Unterweisung, durch welche es die seiner würdigen Jünger, die mit Eifer nach der Kenntnis des Gebetes streben, anleitet, wie sie die Erhörung bei Gott durch die Worte des Gebetes erlangen sollen. Ich aber will es wagen, dem geschriebenen Worte etwas Weniges beizufügen, weil die gegenwärtige Versammlung nicht darüber zu belehren ist, wie man beten soll, sondern dass man überhaupt beten muss, was die große Menge wohl noch nicht erfasst hat; denn verabsäumt und vernachlässigt wird im Leben von der Menge das Gebet, dieses heilige und göttliche Werk. Da halte ich es also für angemessen, zuerst nach Kräften dafür Zeugnis abzulegen, dass man im Gebete stets anhalten muss, wie es der Apostel (Röm. 12,12) ausspricht, dann aber auch auf die Stimme Gottes zu hören, welche uns anleitet, auf welche Weise wir unser Gebet vor den Herrn bringen sollen. Denn ich sehe, dass in dem Leben der Gegenwart alles mit größerem Eifer betrieben wird, indem der eine auf dies, der andre auf jenes seine Gedanken richtet, aber für das Gut des Gebetes die Menschen keinen Eifer haben. Mit der Morgenröte geht der Handelsmann an sein Geschäft, eifersüchtig bestrebt, vor seinen Gewerbsgenossen den Käufern seine Ware feilzubieten, damit er das Bedürfnis des Suchenden zuerst befriedige, den andern zuvorkomme, und so seine Ware verkaufe. Ebenso eilt der Käufer aus Besorgnis, es möchte das, was er braucht, ein andrer vor ihm kaufen und er darum kommen, nicht zum Bethaus, sondern zur Krämerbude. Und da alle mit gleicher Begierde auf den Gewinn gerichtet sind und dem Nächsten zuvorzukommen suchen, wird über den so eifrig betriebenen Geschäften dem Gebete die Zeit entzogen und auf den Handel verwendet. So richtet der Handwerker, so der in seine Bücher vergrabene Gelehrte, so der Prozessierende, so der Richter, einer wie der andre, sein ganzes Streben auf das, was er vorhat, und vergisst darüber das Gebet, in der Meinung, dass die Beschäftigung mit Gott für die Lösung seiner Aufgabe ihm nachteilig sei. Denn der, welcher seinem Handwerke nachgeht, hält den göttlichen Beistand bei seiner Arbeit für etwas Unnützes und Unwirksames. Deshalb unterlässt er das Gebet und setzt seine Hoffnung auf seine Hände, uneingedenk dessen, der ihm die Hände gegeben. Ebenso achtet auch der, welcher angestrengt der Wissenschaft obliegt, nicht auf den, der die Geisteskraft gegeben, sondern, wie wenn er sein eigner Schöpfer wäre, pocht er auf sein Verdienst und auf die Bewunderung seiner Schüler, und indem er sich dem Glauben verschließt, dass ihm durch Gottes Hilfe irgend ein Gut zu teil werden könne, schützt er seine Mühwaltung höher als das Gebet. In gleicher Weise rauben auch die übrigen Beschäftigungen der Seele die Zeit für das Höhere und Himmlische durch die Sorge für das Materielle und Irdische. Deshalb ist die Sünde im Leben weit verbreitet, in fortwährender Zunahme begriffen und in alle menschlichen Bestrebungen verflochten, weil die Gottvergessenheit überall herrscht und die Gabe des Gebetes die Menschen bei ihren Bestrebungen nicht unterstützt. Mit dem Handel kommt die Habsucht herbei, die Habsucht aber ist Götzendienst. So bemisst der Landmann nicht nach den unentbehrlichen Bedürfnissen die Bearbeitung des Feldes, vielmehr spannt er seinen Eifer immer höher an und gewährt der Sünde in seinem Erwerbe vielfachen Eingang, indem er seine Grenzmarken auf fremde Kosten erweitert. Daher die schwer beizulegenden Streitigkeiten über die Feldmarken, wenn die von der gleichen Krankheit der Habsucht Beherrschten aneinander geraten. Daher der Groll, die Antriebe zum Bösen, die gegenseitigen Angriffe, die oft mit Blut und Mord endigen. Ebenso dienen die Rechtsstudien den mannigfachen Gattungen der Sünde, indem sie unzählige Rechtfertigungen der Ungerechtigkeiten ausfindig machen. Der Richter lässt entweder freiwillig die Waage der Gerechtigkeit sich dem Gewinn zuneigen oder entscheidet gegen seinen Willen, durch die Zudringlichkeit derer, die die Wahrheit verwirren, hintergangen, zu Gunsten der Ungerechtigkeit.
Und wozu soll man alle die einzelnen Fälle anführen, durch welche auf vielen und mannigfaltigen Wegen die Sünde sich in das menschliche Leben eindrängt, woran nichts anderes die Schuld trägt, als dass die Menschen bei ihren Geschäften den Beistand Gottes beiseite setzen? Geht das Gebet der Arbeit voraus, so wird die Sünde in ihrer Seele keinen Eingang finden. Denn wenn die Erinnerung an Gott in der Seele Wurzel gefasst hat, so bleiben die Anschläge des Widersachers unausgeführt, da in den streitigen Punkten überall die Gerechtigkeit entscheidet. Es bewahrt auch den Landmann das Gebet vor der Sünde, indem es auf einem kleinen Stück Land die Früchte vermehrt, so dass nicht mehr mit der Begierde nach Mehr die Sünde Eingang findet. So wird der Wanderer, so der, welcher in den Krieg zieht oder in die Ehe treten will, so jeder, der irgend etwas vorhat, wenn er nur alles mit Gebet unternimmt, durch den glücklichen Erfolg feines Vorhabens von der Sünde abgehalten werden, da durch nichts Widriges seine Seele zur Leidenschaft fortgerissen wird. Wenn er aber Gottes vergisst und sich ganz in seine Arbeit verliert, so ist er außer Gott und muss dann notwendig ganz in dem sein, was Gott widerstrebt. Es ist aber von Gott getrennt, wer nicht durch das Gebet sich mit Gott in Verbindung setzt.
Darin müssen wir also zuerst unterwiesen werden, „dass wir allezeit beten und nicht laß werden sollen“ (Luk. 18,1). Denn durch das Gebet treten wir in Gemeinschaft mit Gott. Wer aber mit Gott in Gemeinschaft steht, der ist von dem, was ihm widerstrebt, geschieden. Das Gebet ist ein Schutz der Enthaltsamkeit, ein Zuchtmittel für den Zorn, eine Zügelung des Hochmuts, eine Läuterung der Rachgier, eine Bezwingung des Neides, eine Tilgung der Ungerechtigkeit, eine Bekehrung der Gottlosigkeit. Gebet ist Körperkraft, häuslicher Wohlstand, geordnetes Staatswesen, Herrschermacht, Sieg im Kriege, Sicherheit im Frieden, Einigung des Entzweiten, Beharrlichkeit des Geeinigten. Das Gebet ist Siegel der Jungfräulichkeit, Bewahrung ehelicher Treue, eine Waffe für Wanderer, ein Wächter für Schlafende, eine Zuversicht für Wachende, Fruchtbarkeit für den Ackersmann, Rettung für die Seefahrer. Das Gebet ist ein Verteidiger der Angeklagten, eine Erlösung der Gefangenen, ein Ausruhen der Ermüdeten, ein Trost der Traurigen, eine Entzückung der Fröhlichen, eine Aufheiterung der Betrübten, ein Kranz für Brautleute, eine Verherrlichung der Geburtsfeier, ein Leichenschmuck der Sterbenden. Das Gebet ist ein Umgang mit Gott, ein Schauen des Unsichtbaren, eine Befriedigung der Verlangenden, Teilnahme an der Würde der Engel, Fortschritt im Guten, Ausrottung des Bösen, Besserung der Fehlenden, Genuss der Gegenwart, Gewähr der Zukunft. Das Gebet machte dem Jonas das Seeungeheuer zur Wohnung, brachte den Hiskia selbst von den Pforten des Todes ins Leben zurück, den drei Jünglingen verwandelte es die Flamme in kühlenden Lufthauch, den Israeliten errang es den Siegeskranz im Kampfe mit den Amalekitern, und die 185.000 Assyrer streckte es mit unsichtbarem Schwerte in einer einzigen Nacht zu Boden. Und unzählige Beispiele könnte man außerdiesen noch in der Geschichte finden, durch die es klar wird, dass nichts von allem, was für das Leben Wert hat, höher stehe als das Gebet.
Wohl wäre es Zeit, bereits uns dem Gebete selbst zuzuwenden; wir wollen jedoch der Betrachtung noch etwas hinzufügen, dass uns nämlich, da uns viele und mannigfache Güter von der göttlichen Gnade zu teil geworden sind, dies einzige als Gegengeschenk für das, was wir empfangen haben, zu Gebote steht, dass wir Gebet und Danksagung dem Wohltäter als Vergeltung darbringen. Ich glaube nun, dass wenn wir auch den Verkehr mit Gott in Danksagung und Gebet über unser ganzes Leben ausdehnen, wir so wenig Gott nach Gebühr vergelten, als wenn wir von Anfang an uns nicht bemüht hätten, dem Wohltäter zu vergelten. Die zeitliche Ausdehnung wird nach drei Teilen bemessen, nach der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft. In diesen drei Teilen erfahren wir die Wohltaten des Herrn. Wenn du die Gegenwart betrachtest, in ihm lebst du; betrachtest du die Zukunft, er ist dir die Hoffnung für das, was du erwartest; betrachtest du die Vergangenheit, du warst doch wohl nicht eher, als du von ihm das Dasein erhalten hast. Wohltat war es, da du von ihm das Dasein selbst empfingest, und da du geworden bist, genießest du seine Wohltat, denn in ihm lebst und webst du, wie der Apostel sagt (Apostelgesch. 17,28). Die Hoffnungen auf die Zukunft hängen von derselben wohltätigen Güte ab. Du aber bist nur über die Gegenwart Herr. Wenn du daher auch nie aufhörst Gott zu danken, wirst du doch kaum für die Gegenwart den vollen Dank darbringen und wirst weder für die Zukunft noch für die Vergangenheit ein Mittel ausfindig machen, um deine Schuld abzutragen. Während wir aber so wenig den gebührenden Dank zu erstatten vermögen, tun wir nicht einmal nach unsern Kräften das Richtige, indem wir, ich will nicht sagen den ganzen Tag, nein, auch nicht einmal einen kleinen Teil des Tages dem Verkehr mit Gott weihen. Wer hat mir die Erde zu meinen Füßen ausgebreitet? Wer hat das nasse Element durch das Mittel einer kunstreichen Erfindung schiffbar gemacht? Wer hat über mir den Himmel wie ein Gewölbe befestigt? Wer leuchtet mir mit der Sonnenfackel? Wer entsendet Quellen in Talschluchten? Wer hat den Flüssen ihre Rinnsale angewiesen? Wer hat die unvernünftigen Tiere meinem Dienste unterworfen? Wer hat mir leblosem Staube Leben und Vernunft zu teil werden lassen? Wer hat diesen Erdenkloß nach dem Bilde der göttlichen Natur gestaltet? Wer hat das durch die Sünde in mir verwischte göttliche Ebenbild wieder zur ursprünglichen Anmut zurückgeführt? Wer hat mich, als ich aus dem Paradiese vertrieben, dem Baum des Lebens entrückt und in den Abgrund des irdischen Lebens gestürzt war, zur anfänglichen Glückseligkeit zurückgeführt? Da ist niemand, der es verstünde, sagt die Schrift (Röm. 3,11). Denn würden wir darauf sehen, so würden wir ohne Aufhören und ohne Unterlass die ganze Lebenszeit hindurch Dank sagen. Nun aber richtet der Mensch nach seiner ganzen natürlichen Anlage sein Augenmerk fast nur auf das Sinnliche. Danach steht sein Sinnen, danach sein Eifer; darum bewegt sich sein Erinnern und sein Hoffen. Nicht Schlaf, nicht Ruhe kennt die menschliche Natur in ihrer Gier nach Vermehrung des Gewinns bei allem, wo sich ein Mehrgewinn ausfindig machen lässt. Sowohl in Bezug auf Ehre und Ruhm, als auf Reichtum wie auf die leidenschaftliche Neigung des Gemüts, überall in diesen Dingen schaut die Natur auf Gewinn. Aber an die wahren Güter Gottes denkt niemand, weder an die vorhandenen noch an die verheißenen.
Doch es dürfte an der Zeit sein, auch den Sinn der Worte des Gebetes soweit es möglich ist, verstehen zu lernen. Denn es ist offenbar, dass die Erreichung unserer Wünsche durch die Kenntnis der rechten Weise des Gebetes uns gesichert wird. Wie lautet nun die Belehrung? „Wenn ihr betet, heißt es (Matth. 6, 7), sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden, denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen.“ Nun ist wohl der Sinn der Ermahnung an und für sich klar, da sie uns in so einfachen Worten vorgelegt wird und keiner scharfsinnigen Untersuchung bedarf. Nur das ist der Erörterung wert, was der Ausdruck „Plappern“ bedeute, damit wir, wenn wir den Sinn verstehen, das Verbotene meiden können. Er scheint mir also die hochmütige Gesinnung zurechtzuweisen und der Einbildungskraft derer Einhalt zu tun, die in törichte Begierden sich vertiefen, und deshalb diesen fremdartigen und neuen Ausdruck gewählt zu haben, um jenen ihren Unverstand vorzuhalten, deren Begierden auf törichte und unnütze Dinge gerichtet sind. Denn die besonnene und verständige Rede, die auf das Nützliche sieht, wird im eigentlichen Sinne Rede genannt; die aber, welche aus eitler Lust in Begierden nach unerreichbaren Dingen überströmt, ist keine Rede, sondern ein Plappern oder, wie man es griechisch verständlicher ausdrücken würde, Geschwätz, Geplauder, Possen und wenn es sonst ein Wort von ähnlicher Bedeutung gibt. Was rät uns also die Schrift? Dass wir uns, wenn wir beten, nicht zu dem gleichen Irrtum verleiten lassen, in welchen der Verstand der Törichten gerät. Denn solche, welche nicht den vollen Gebrauch der Vernunft haben, denken nicht nach, wie etwas von dem, was sie wünschen, geschehen möge, sondern ersinnen sich nach Willkür ein glänzendes Glück, indem sie Schätze, Vermählungen, Königreiche und von ihnen selbst benannte mächtige Städte sich einbilden, und stellen sich die Dinge in ihrer Phantasie so vor, wie ihre törichten Gedanken sie ihnen vormalen. Ja, manche sind in noch kindischerer Torheit befangen, und die Schranken der Natur durchbrechend, nehmen sie Flügel oder glänzen unter den Sternen oder tragen Berge in ihrer Hand oder brechen sich Bahn am Himmel oder leben Tausende von Jahren, indem sie im Alter immer wieder jung werden, oder was für luftige und eitle Gebilde dieser Art in kindischen Köpfen entstehen. Wie nun einer, der bei seinen Handlungen nicht das in Erwägung zieht, wodurch sein Plan gefördert wird, sondern seinen törichten und unsinnigen Begierden sich überlässt, ein bedauernswerter Tor ist, da er die Zeit, die er auf die Beratung nützlicher Dinge verwenden könnte, durch solche Träumereien verschwendet, so ist auch der, welcher beim Gebete nicht auf das gerichtet ist, was seiner Seele nützt, sondern verlangt, dass Gott auf seine leidenschaftlichen Gemütsbewegungen eingeht, in Wahrheit ein Schwätzer und Plapperer, indem er betet, Gott möge zu seinen Torheiten mithelfen und mitwirken. Es nahet z. B. jemand Gott im Gebete, und da er in seinem Herzen die hohe Macht nicht erwägt, der er naht, so beleidigt er, ohne es recht zu wollen und zu ahnen, die hohe Würde durch seine ungeziemenden und niedrigen Bitten. Wie wenn einer wegen seiner großen Armut oder Unwissenheit irdene Gefäße für wertvoll hielte und zu einem Könige käme, der alle Reichtümer und Würden auszuteilen vorhat, und, indem er nicht um Dinge bittet, die eines Königs würdig sind, dem Träger so hoher Würden zumutete, ihm aus Töpfererde etwas nach seinem Wunsche zu bilden, so erhebt auch der, welcher unverständig betet, sich nicht zur Höhe des Gebers, sondern will, dass zur niedrigen und irdischen Natur seiner eignen Luft die göttliche Kraft sich herablasse, und deshalb legt er seine krankhaften Triebe dem vor, der die Herzen durchschaut, nicht damit er die ungeregelten Bewegungen der Seele heile, sondern damit sie sich verschlimmern, wenn der böse Trieb durch göttliche Mitwirkung zur Verwirklichung kommt. Denn da ihm der oder jener zuwider ist und sein Herz ihn nicht leiden kann, so sagt er zu Gott: „schlage ihn“, wenn er auch nicht geradezu in den Ruf ausbricht: meine Leidenschaft soll dich ergreifen, meine Verworfenheit auf dich übergehen. Denn wie es bei den menschlichen Kämpfen nicht möglich ist, dass man mit einer Partei sich verbindet, ohne zugleich mit seinem Bundesgenossen über den Gegner in Zorn zu geraten, so fordert offenbar der, welcher Gott gegen seinen Feind zu reizen sucht, ihn auf, an seinem Zorn und Groll teilzunehmen. Das heißt aber, Gott solle der Leidenschaft verfallen, wie ein Mensch gesinnt und die Güte seines Wesens zu unmenschlicher Härte umgestaltet sein. So macht es der von Ruhmsucht Verblendete, so, der voll Hochmut immer höher strebt, so, der in einer Streitsache zu siegen sucht, so, der in gymnastischen Wettkämpfen um den Kranz ringt oder in den Theatern nach Beifallsbezeigungen hascht, aber oft auch der, welcher in toller Jugendkrankheit hinsiecht. Sie alle beten nicht zu Gott, um von der sie beherrschenden Krankheit frei zu werden, sondern damit die Krankheit den höchsten Grad erreiche, und indem ein jeder es für ein Unglück hält, das nicht zu erlangen, so plappern sie, indem sie zu Gott flehen, dass er ihre Seelenkrankheit befördere. Und das Schlimmste von allem ist, dass sie verlangen, die Gottheit solle in entgegengesetzten Richtungen tätig sein und ihr Wirken zwischen Härte und Menschenliebe teilen. Denn während sie einerseits wünschen, dass er gegen sie milde und gnädig sei, rufen sie anderseits ihn an, dass er gegen ihre Feinde sich hart und grausam zeige über den Unverstand solchen Plapperns! Denn wenn Gott gegen jene grausam ist, so ist er auch gegen dich gewiss nicht milde. Wenn er aber gegen dich, wie du hoffst, sich zur Barmherzigkeit neigt, wie sollte er ins Gegenteil umschlagen, indem er seine Barmherzigkeit in Härte verwandelt?
Aber die Streitsüchtigen haben dagegen eine Einwendung in Bereitschaft. Denn sogleich führen sie zur Rechtfertigung ihrer Härte die Aussprüche der Propheten an, den David, welcher wünscht (Ps. 104, 35; 83, 17 f.), dass der Sünder ein Ende werde, und Schmach und Schande auf seine Feinde herabfleht; den Jeremias, welcher (10,25) die Strafe über seine Feinde kommen sehen will; den Hosea, welcher bittet (9,14), dass ein unfruchtbarer Mutterleib und versiegende Mutterbrüste den Feinden gegeben werden. Und vieles dergleichen, was zerstreut in den heiligen Schriften vorkommt, führen sie an, um damit zu beweisen, dass man die Feinde verwünschen und die Güte Gottes zur Genossin seiner Hartherzigkeit machen müsse. Wir aber wollen, um im Vorbeigehen den eitlen Reden derer ein Ziel zu setzen, welche von einer solchen Einwendung ausgehend zu einer entgegengesetzten Ansicht kommen, zu jeder der erwähnten Stellen Folgendes bemerken. Von keinem der wahrhaft Heiligen, der vom heiligen Geiste Begeisterten, deren Worte nach göttlicher Anordnung zur Beherzigung für die Nachwelt aufgeschrieben sind, wird sich nachweisen lassen, dass er nach etwas Bösem trachtet, sondern das ganze Ziel ihrer Reden geht auf die Besserung des der Natur innewohnenden Bösen. Wie daher der, welcher betet, es möge keine Kranken, keine Bettler geben, nicht die Vernichtung der Menschen, sondern die Vertilgung der Krankheit und der Armut will, so bringen die Heiligen, indem sie wünschen, dass das, was seiner Natur nach schädlich und feindselig ist, vernichtet werde, nur die Unkundigen auf den Gedanken, als ob sie gegen die Menschen. aufgebracht und erbittert wären. Denn wenn der Psalmist sagt, der Sünder müsse ein Ende werden auf Erden und die Gottlosen nicht mehr sein, so wünscht er, dass Sünde und Ungerechtigkeit ein Ende nehmen. Denn nicht ist der Mensch der Feind des Menschen, sondern die Richtung des Willens auf das Böse hat das, was durch die Natur verbunden ist, zum Feinde gemacht. Das Böse also soll ein Ende nehmen, der Mensch aber ist nichts Böses; denn wie wäre etwas Böses das Ebenbild des Guten? So deutet er dir auch, wenn er Schande und Schmach über seine Feinde herabfleht, die Menge seiner Gegner an, welche auf Anstiften des unsichtbaren Feindes das menschliche Leben befehden. Über diese erklärt sich auch Paulus deutlicher, wenn er sagt (Eph. 6,12), dass wir „zu kämpfen haben mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herren dieser Welt, mit den bösen Geistern unter dem Himmel“. Die Nachstellungen der Hölle, durch welche den Menschen die bösen Veranlassungen zur Sünde, die Reizungen des Zornes, die Lockungen der Begierden, die Ursachen des Neides, Hasses, Hochmuts und ähnlicher Laster zugeführt werden, das sieht der große Prophet die Seele eines jeden umschleichen, und er betet, dass das zu Schanden werden möge, wenn er gegen diese Feinde betet; das heißt aber, dass er selbst gerettet werden möge.
Denn natürlich wird der im Kampf Besiegte von Beschämung über seine Niederlage ergriffen, wie der Sieger von Freude über seinen Sieg. Und dass sich dies so verhält, zeigt die Art des Gebetes. Denn es müssen sich schämen, heißt es (Ps. 35,4), und gehöhnt werden, die nach meiner Seele stehen. Er richtet sein Gebet also nicht gegen diejenigen, welche dem Eigentum nachstellen oder wegen der Feldmarken in Streit liegen oder gegen seinen Körper irgend eine böse Tat verüben wollen, sondern gegen die, welche seiner Seele nachstellen. Was ist aber eine solche Nachstellung anders, als eine Losreißung von Gott? Von Gott aber wird die Seele nur durch den Zustand der Leidenschaft losgerissen. Da nämlich die Gottheit ohne Leidenschaft ist, so wird alles, was der Leidenschaft verfällt, von der engen Verbindung mit Gott getrennt. Um nun dem zu entgehen, betet er um Beschämung der Gegner. Das heißt aber nichts andres, als sich den Sieg über die Feinde erflehen. Die Feinde aber sind die Leidenschaften. Ebenso pflegt Jeremias im Eifer seiner Gottseligkeit, da damals der König voll Leidenschaft für die Götzen erfüllt war und seine Untergebenen an seiner Verkehrtheit teilnahmen, nicht irgend einen persönlichen Groll, sondern bringt für die Gesamtheit der Menschen sein Gebet dar und wünscht, dass durch das Einschreiten gegen die Gottlosen die ganze Menschheit zu besserer Einsicht gebracht werde. So verurteilt auch der Prophet Hosea angesichts der damals unter den Israeliten wuchernden Bosheit, sie zur Unfruchtbarkeit und will, dass die bitteren Mutterbrüste der Sünde vertrocknen, damit bei den Menschen das Böse weder geboren noch genährt würde. Deshalb sagt der Prophet: „Herr, gib ihnen unfruchtbare Leiber und versiegende Brüste!“ Und sollte sich irgend ein andrer ähnlicher Ausspruch bei den heiligen Männern finden, welcher auf Zorn deuten und sie dessen beschuldigen könnte, so ist er durchaus in solchem Sinne gemeint, dass das Böse ausgetilgt, nicht der Mensch vernichtet werden solle. „Gott hat den Tod nicht gemacht“ (Weisheit 1,13). Hörst du den Ausspruch? Wie sollte man also für den Tod seiner persönlichen Feinde Gott anrufen, welcher mit dem Tode nichts zu tun hat? Er freut sich nicht über das Verderben der Lebenden. Doch wer da plappert und die Menschenfreundlichkeit Gottes gegen seine Feinde zu reizen sucht, fordert ihn auf, dass er sich an menschlichem Unglücke erfreue.
Aber, wendet einer ein, es haben manche schon Ehrenstellen, Würden und Reichtum erlangt, indem sie sich hierzu des des Gebetes bedienten, und man war geneigt, sie wegen solchen Glückes für Lieblinge Gottes zu halten. Warum hältst du uns also ab, könnte einer sagen, um solche Dinge uns im Gebete an Gott zu wenden? Allerdings, dass alles vom göttlichen Ratschlusse abhängig sei und unser Leben hienieden von oben geleitet werde, ist jedem klar, und es dürfte der Behauptung niemand widersprechen. Wir kennen jedoch andre Gründe solch' glücklicher Erfolge des Gebets, nicht wie wenn Gott diese Dinge dem Betenden geradezu als Güter zukommen ließe, sondern damit hierdurch bei den Schwächeren das Vertrauen auf Gott befestigt werde, und damit, wenn wir allmählich bei geringfügigeren Bitten die Erfahrung machen, dass Gott unser Flehen erhöre, wir zuletzt zum Verlangen nach den hehren und seiner werten Gaben uns erheben möchten. So sehen wir es auch an unsern Kindern, die sich anfangs an die Mutterbrust halten und bei der Mutter suchen, was ihnen zuträglich ist. Wenn aber das Kind etwas größer geworden ist und einige Fähigkeit der Sprache erlangt hat, so verschmäht es die Mutterbrust und sucht so etwas wie ein Schmuckstück oder ein Kleid oder ähnliches, woran das Kinderauge sich ergötzt. Wenn es aber ausgewachsen ist und mit dem Körper der Verstand zugenommen hat, so wird es alle kindischen Begierden aufgeben und seine Eltern um das bitten, was zum vollkommenen Leben gehört. So lässt auch Gott, um die Menschen zu gewöhnen, dass sie in allem auf ihn schauen, deshalb oft auch die geringeren Bitten nicht unerhört, um zum Verlangen nach dem Höheren durch die Spendung geringer Wohltaten den aufzufordern, dem die Gunstbezeigung zu teil geworden. Und wenn nun ein Mann von dunkler Herkunft durch göttliche Vorsehung bekannt und angesehen geworden oder sich sonst etwas von dem, was in diesem Leben gesucht wird, erworben hat, ein Staatsamt oder Reichtum oder Ansehen, so betrachte du die Absicht, dass dir die darin bewiesene Menschenfreundlichkeit Gottes ein Zeugnis seiner großen Macht sein soll, damit du, wenn dir solche Kinderpossen gewährt werden, auch um höhere und vollkommenere Güter den Vater im Himmel anflehst. Das aber sind die, welche der Seele Gewinn bringen. Denn es wäre ganz unvernünftig, wenn man sich Gott nähert, bei dem Ewigen das Zeitliche zu suchen, bei dem Himmlischen das Irdische, bei dem Höchsten das Niedrige, bei dem, der das Himmelreich schenkt, diesen irdischen und niedrigen Besitz, bei dem, der das Unentreißbare gewährt, die kurze Nutznießung fremden Eigentums, dessen Verlust unvermeidlich, dessen Genuss vorübergehend, dessen Verwaltung gefährlich ist. Trefflich aber zeigt er das Ungeziemende durch den Zusatz „wie die Heiden.“ Denn nur um das, was in die Augen fällt, sich kümmern, ist denen eigen, welche keine Hoffnung auf das zukünftige Leben haben, keine Furcht vor dem Gerichte, keine Drohung der Hölle, keine Erwartung des Guten noch sonst irgend eine Hoffnung der Auferstehung kennen, die nach Art der Tiere auf das gegenwärtige Leben schauen und das, was sie der Gurgel, dem Bauche und den übrigen Wollüsten gewähren, unter die Güter zählen, oder wenn sie vor einigen den Vorrang haben oder höher als die übrigen geschützt werden oder auf vielen Talenten Goldes schlafen, oder wenn es sonst eine Täuschung im menschlichen Leben gibt. Wenn zu diesen jemand über die künftige Hoffnung spricht, so scheint er ihnen ein ausgemachter Schwätzer, wenn er das Paradies und das Reich und die Wohnung des Himmels und Ähnliches auseinandersetzt. Da es nun denen, die keine Hoffnung haben, eigen ist, am gegenwärtigen Leben zu hängen, so sagt die Schrift treffend, dass die übermäßigen und törichten Begierden, deren Befriedigung die Genusssüchtigen sich durch das Gebet verschaffen zu können glauben, sich für die Heiden schicken, welche meinen, dass sie durch anhaltendes Gebet um törichte Dinge den Beistand Gottes zu ihren verwerflichen Absichten erlangen werden. Denn sie glauben, sagt die Schrift, dass sie erhört werden, wenn sie viele Worte machen.
Das nun ist's, um was man nicht bitten soll, wie wir durch unsre Untersuchungen belehrt worden sind; was für ein Gebet wir aber vor Gott bringen sollen, wollen wir im folgenden hören durch die Gnade unsers Herrn Jesu Christi. Ihm sei Herrlichkeit und Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.