Goßner, Johannes - Evangelische Hauskanzel - Am 11. Sonntage nach Trinitatis.
Evang. Luc. 18, 9 - 14.
Vom Pharisäer und Zöllner.
Nichts ist dem Menschen schädlicher, als wenn er von sich selbst viel hält und sich selbst überschätzt. Aber es ist auch nichts natürlicher und der verdorbenen Vernunft oder Fleisch und Blut angemessener als dieser Luzifers-Stolz, da das Gift dieses hochmütigen Geistes schon durch den Sündenfall in die Natur unserer ersten Eltern hineingegossen ist, und da grade dieses Mehr seyn wollen als sie waren, der Fall und die Sünde war, die sie des Ebenbildes Gottes, des Paradieses, des Umganges und der Gemeinschaft mit Gott beraubte. - Ihr werdet wie Gott seyn, die Augen werden euch aufgehen,“ sprach die Schlange. Das wollten sie, darum aßen sie, fühlten aber bald die Lüge und den Betrug der Schlange, indem das, was diese verhieß, nicht geschah, sondern das Gegentheil, daß sie von Gott, von der Wahrheit abgefallen und blind und unwissend geworden waren. Und bei alle dem blieb denn doch der Dünkel in ihnen, etwas seyn und scheinen zu wollen. So sind nun von Natur alle Menschen mehr oder weniger geneigt, etwas seyn oder scheinen zu wollen, sich zu erheben und besser von sich zu denken, als sich's gebühret. Und gerade dieser Dünkel ist dem Menschen in seinem jetzigen, sündigen, gefallenen Zustande das Allerschädlichste und Gefährlichste, das größte Hinderniß auf dem Wege zur Seligkeit, der bei der Demuth und Selbsterkenntniß anfängt und in Demuth fortgeht bis zum Ziele.
In den Tagen des Menschensohnes gab es eine besondere Sekte, die an dieser Krankheit vor andern litt, ohne sich für krank zu halten, die Pharisäer nämlich, die voll Selbstgerechtigkeit waren und sich für besser hielten als alle anderen Leute; die sich auch durch Scheinheiligkeit und Heuchelei das Ansehn zu verschaffen wußten, daß sie in Aller Augen für Heilige gehalten wurden und Jedermann dachte: wenn ich nur wäre wie die Pharisäer! Auf sie hat der Heiland das Gleichniß im heutigen Evangelio gerichtet. Denn:
Er sagte zu Etlichen die sich selbst vermaßen, daß sie fromm wären, und verachteten die Andern, ein solches Gleichniß. Es ist Vermessenheit, Anmaßung, Ueberschätzung, sich für fromm zu halten und Andere zu verachten; es ist blinder geistlicher Hochmuth, vor dem sich jeder Fromme wohl zu hüten hat, denn er schleicht sich gar zu gern und leicht ein und ist schwer zu heilen, wenn er einmal überhand genommen hat. Denn ein Geistlich-Hochmüthiger und Selbstgerechter kennt sein Herz, fein Inneres nicht, er sieht sich selbst nur von außen an, nur auf einige seiner guten Werke, und nur auf das Aeußere derselben; achtet aber nicht auf die Quelle, aus der sie fließen, auf die Absichten, die ihn dazu trieben; und er denkt nicht an sein Böses, nicht an die Unterlassung des vielen Guten, das er auch hätte thun sollen. Der wahrhaft Fromme aber hält sich selbst nicht für fromm, ist nie mit sich selbst zufrieden, selbst mit dem Guten nicht, das er thut, denn er sieht in sein Herz und entdeckt da viel Unreines, Unvollkommnes, Schwachheit und Gebrechlichkeit auch bei den besten Handlungen; er erkennt, daß er außerdem noch viel mehr Gutes thun könnte und sollte, daß er in Vielem noch weit zurück ist, und daß, wenn Gott Sünde zurechnet, er nicht bestehen kann, und kein Lebendiger vor Gott gerecht ist; daß er auf Tausend nicht Eins antworten könnte, wenn Gott mit ihm in's Gericht ginge. Darum bleibt er immer ein Sünder in seinen Augen, baut nur auf Gnade und weiß nichts von eigener Gerechtigkeit und Verdienst; er danket Gott, wenn er sich selbst vergißt, und denkt nur, daß ein Heiland ist, der die Sünder selig macht. Ich weiß, daß in mir nichts Gutes wohnet, sagt er mit Paulus, im Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke. „Ist was Gut's am Leben mein, so ist es wahrlich lauter Dein,“ spricht er zum Herrn. Das Gegentheil denkt und sagt der Pharisäer, der Selbstgerechte und Scheinheilige; wie das Gleichniß es darstellt:
Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel zu beten, Einer ein Pharisäer, der Andere ein Zöllner. Die Zöllner waren fast alle berüchtigte Sünder und ungerechte Leute, so daß ein Sünder oder schlechter Mensch und ein Zöllner im Munde der Menschen Eins war, weil sie sich alle beim Zolle Ungerechtigkeiten und Betrügereien erlaubten, und also die gewissenlosesten Betrüger waren; auch wohl sonst ein lüderliches Leben führten, indem der Heiland selbst Huren und Zöllner in Eine Klasse setzte. Matth. 21, 31. Der Heiland läßt den Gottlosesten und Heiligsten, wie es schien, in den Tempel hinaufgehen und beten, und aus ihren Gebeten lernt man den Zustand ihres Herzens kennen, dadurch offenbarten Beide, was in ihnen war, was sie vor Gott waren; denn wie der Mensch betet, so ist er, er mag übrigens scheinen, was er will.
Der Pharisäer stand, und betete bei sich selbst also: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Der Pharisäer stellte sich an einen besonder'n Ort hin in dem Vorhofe des Tempels, wo man zu beten pflegte, er wollte sich sehen lassen, in die Augen fallen, daß die Leute denken und sagen sollten: Seht, welch ein frommer, heiliger Mann! Er suchte im Grunde nichts bei Gott durch sein Gebet, sondern nur bei Menschen Ehre, Lob und das Ansehn der Heiligkeit. Er hat auch eigentlich nichts zu bitten und zu begehren bei Gott, es fehlt ihm nichts, er kennt keines seiner Gebrechen, keine Sünde, keine Schwachheit, keinen Mangel; da doch der Gerechte des Tages siebenmal fehlt und fällt. Aber er nicht; wir mangeln Alle des Ruhms, den wir an Gott haben sollen, aber er nicht; er hat nur zu danken, weil er lauter Gutes, lauter Tugend und Gerechtigkeit an sich selbst erblickt. Ja er spricht es frech vor Gott, dem Allwissenden aus, der Herzen und Nieren prüft und die Gräuel seines Herzens kennt, er dankt Ihm sogar, daß er keine Sünde habe, daß er besser als andere Menschen sey. Er vergleicht sich aber nur mit groben Verbrechern, mit Ungerechten, Räubern und Ehebrechern und mit dem Zöllner, als wenn solche allein Sünder wären, als wenn es keine andern Sünder gäbe, als wenn man schon heilig wäre, wenn man nicht stiehlt, mordet und ehebricht; als wenn man nicht innerlich das Alles seyn könnte, ohne äußerlich die That wirklich begangen zu haben. Ist nicht der schon ein Todtschläger, der seinen Bruder haßt? und die Pharisäer haßten sogar Jesum den Liebenswürdigsten. Ist nicht der schon ein Ehebrecher, der ein Weib anstehet mit Begierlichkeit? Ist nicht der schon ein Räuber und Ungerechter, der seines Nächsten Gut, Haus rc. begehrt? Aber die innern Sünden und Gräuel des Herzens achteten die Pharisäer nicht, sie reinigten die Schüssel nur von außen, die inwendig voll Raub und Ungerechtigkeit war. Wer sich immer nur mit Zwergen mißt, bildet sich leicht ein, daß er ein Riese sey, und wer sich neben große und öffentliche Verbrecher, neben Barrabasse, Kains rc. hinstellt, kann leicht fromm und heilig scheinen. Wer sein Herz nicht kennt, und nicht merkt auf die Begierden und Lüste, die in seinem Innern herrschen und ihn treiben; wer das nicht für Sünde hält, was er heimlich thut, weil es die Leute nicht sehen; der muß sich selbst gefallen und für heilig halten. Aber aus dem Herzen kommen arge Gedanken, Mord, Ehebruch und alle Laster. Gott stehet das Herz an. Ist das Herz unrein, so ist alles äußere Thun auch unrein und befleckt, selbst das Gebet ist Sünde und Gräuel vor Gott, wie dieses hoffärtige Gebet des Pharisäers. Welch ein Betrug und falscher Schluß: „Ich bin kein Mörder und kein Ehebrecher, darum bin ich ein Heiliger, darum habe ich Gott nur zu danken, nichts abzubitten. Ich habe diese und jene Sünde nicht begangen, darum habe ich keine Sünde begangen und bin, Gott sey Dank! ganz sündenfrei und gerecht. Ich habe das 5. und 6. Gebot nicht übertreten, darum habe ich kein Gebot übertreten.“ Sind denn nicht mehr Gebote? Sieh in den Spiegel aller Gebote, und du wirst Sunden und Uebertretungen genug finden. Der da sagt: Du sollst nicht tödten und nicht ehebrechen, der sagt auch: Du sollst nicht andere Götter neben mir haben, mich allein und über Alles lieben, von ganzem Herzen und aus allen Kräften; du sollst meinen Namen nicht mißbrauchen, den Feiertag heiligen, Vater und Mutter ehren, nicht falsches Zeugniß geben, nicht stehlen und betrügen, nicht begehren, dich nicht gelüsten lassen deines Nächsten Weibes, Hauses und alles deß, was sein ist; du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst, sollst dich selbst verläugnen, die Welt verschmähen, auch den Schatten des Bösen meiden, deine Feinde lieben, für die Verfolger beten, kein unnützes Wort reden; dem, der dir den Rock nimmt, auch den Mantel geben; sollst dich reinigen von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes, und der Heiligung nachjagen in der Furcht Gottes. Und wie viel ist noch Gutes zu thun, und Böses zu meiden übrig, welches, wenn wir unser Herz darnach prüfen, uns Alle zu großen Sündern macht und die Wahrheit bestätiget: Keiner ist gerecht, auch nicht Einer.
Der Pharisäer fährt fort auch noch seine guten Werke Gott vorzurechnen: “Ich faste zweimal in der Woche, und gebe den Zehnten von Allem was ich habe.“ Ist das Alles, was du thust, so hast du wahrlich wenig gethan. Wo ist das viele Andere, das du hattest thun sollen und unterlassen hast? Was du thatest, war dir nicht befohlen, sondern dein eigener Wille. Aber wo blieb, was Gott befohlen hat in allen Seinen heiligen Geboten und Rechten? Prüfe dein Herz nach dem 15., 24. und 119. Psalm und überhaupt nach dem ganzen Worte Gottes, so wird deine Heiligkeit dir zur Sünde werden, und du wirst nur abzubitten und zu danken haben, daß dich der Herr nicht schon in Seinem Zorn gestrafet und in Seinem Grimm gezüchtiget, sondern aus Gnaden erhalten hat, um dir Zeit zur Buße zu lassen, weil Er deinen Tod nicht will, sondern daß du selig werdest. Es ist oft, wie hier beim Pharisäer, so erbärmlich wenig und gewöhnlich selbsterwähltes und scheinbar Gutes, worauf ein Selbstgerechter seine Heiligkeit baut, ohne auch nur im Geringsten daran zu denken, was er Alles unterläßt, versäumt und schuldig bleibt. Der blinde Mann hat nur einige Lumpen heuchlerischer Frömmigkeit, und meint das ganze Kleid der Gerechtigkeit zu besitzen und in weißer Seide der Heiligen vor Gott zu stehen. Wie viele Brüder hat er, die Ihm ganz ähnlich sind! die auch von groben Ausbrüchen der Sünde sich enthalten, aber inwendig noch ganz unrein und unlauter sind; die einige gute Werke und fromme Uebungen mitmachen; aber die Hauptsache und das Eine Nothwendige hintenansetzen; in Allem, was einem Christen wesentlich nothwendig ist, weit zurückbleiben, und doch sich für fromm, gerecht und gläubig, für Brüder, Kinder Gottes und Jünger Jesu halten.
Und der Zöllner stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel, sondern schlug an seine Brust, und sprach: Gott sey mir Sünder gnädig! Welch eine ganz andere Stellung und Geberde! Welch ein anderes Gebet! Wie verschieden in Allem vom hochmüthigen Pharisäer! Er wagt sich nicht nahe zum Hause Gottes oder zum Altare, er stellt sich hintenan als der Letzte und Geringste; er schlägt reumüthig und zerknirscht an seine Brust, voll Gefühl seiner Schuld und Unwürdigkeit; er getraut sich nicht, sein Auge gen Himmel zu erheben und aufzublicken zu Gott, weil er sich durch und durch als Sünder erkennt und kein gutes Haar an sich erblickt. Er mangelt gänzlich des Ruhmes, den er an Gott haben soll; er sieht es ein: ich kann nur durch Gnade und Erbarmen selig werden; wenn Gott Sünde zurechnet, so bin ich verloren und verdammt ewiglich. Aber Gott ist barmherzig und will nicht den Tod des Sünders, darum betet er: Gott sey mir Sünder gnädig! Gnade will ich, nichts als Gnade! ich habe kein Verdienst, nichts als Sünde. - Dies ist die äußere und innere Stellung, in der wir Alle vor Gott erscheinen müssen. Es hat Keiner das Recht seinen Kopf hoch zu tragen und frech, wie der Pharisäer, sich voranzustellen und selbstgefällig zum Himmel zu blicken. Wer sich selbst kennt, und seines Herzens Grund durchschaut, wird sich schämen und beugen, wird bekennen: meine Sünden sind mehr als die Haare meines Hauptes, als der Sand am Meere. Wenn man auch kein Mörder oder Ehebrecher ist, so bekennt man doch:
Es ekelt mich, mich selbst zu sehn,
Mein Wirken ist befleckt,
Mein Denken, Wollen und Verstehn
Voll Eigenheiten steckt.
Das Beste, das von mir geschicht,
Ist Selbstgesuch und Schein,
Ich möchte mich bewegen nicht,
Ja, ohne Leben seyn.
Es ist mein ganzer Jammerstand
Dir besser als mir selbst bekannt.
Ach sieh mich mit Erbarmen an,
Da ich mir selbst nicht helfen kann.
Und was sagt der Herr von diesen zwei Betern?
Ich sage euch: Dieser ging hinab gerechtfertiget in sein Haus vor jenem, ungleich mehr als jener hochmüthige Pharisäer, dessen Dank nur scheinbar gut, nur Prahlerei und Heuchelei war. Den Demüthigen giebt Gott Gnade, den Hochmüthigen und Hoffärthigen widersteht Er. Der demüthige Sünder ist Gott angenehmer, als der stolze Heilige. Kein Sünder ist Gott zu tief gefallen, Er kann, Er will ihn aufrichten, wenn er sich beugt und Gnade sucht. Aber kein Selbstgerechter ist Ihm gefällig, weil er sich selbst erhebt, auf sein eigenes Thun und Werk vertraut, sich für besser hält als er ist, und Andere verachtet. Der Pharisäer glaubte zuversichtlich, ihm könne es nicht fehlen, er müsse Gott gefallen, und er bedauerte nur den armen Zöllner, der nach seiner Meinung nicht vor Gott bestehen könnte. Dieser aber dachte: Ach, wenn ich doch auch so heilig wäre wie der Pharisäer! aber ich muß ohne alles Verdienst und Würdigkeit nur um Gnade flehen; mir kann nur durch Barmherzigkeit geholfen werden. Und er dachte recht, und jener verrechnete und irrte sich gewaltig. Der gebeugte Sünder wurde dem Hochmüthigen, Selbstgerechten weit vorgezogen. Jener fand Gnade, dieser wohl nicht - er suchte sie auch nicht, weil er sie nicht zu bedürfen glaubte.
Denn wer sich selbst erhöhet, der wird erniedriget werden; und wer sich selbst erniedriget, der wird erhöhet werden. Wer sich auf den ersten Platz setzt, der wird auf den letzten gewiesen; wer sich aber unten an setzt auf den letzten Platz, zu dem wird gesagt werden: Freund! rücke hinauf, dir gehört der erste Platz! Darum setze dich unten an, sey der Geringste und Schwächste, Aermste, der größte Sünder in deinen Augen, so wirst du der größte Heilige. Dünkst du dich aber etwas zu seyn und gefällst dir selber wohl in deiner Tugend und Heiligkeit, so bist du nichts als ein Gräuel in Gottes Augen, der auf das Niedrige stehet und das erwählet, das da nichts ist, auf daß Er zu Schanden mache, was etwas ist. Darum sagte der Heiland den Pharisäern in's Gesicht: Huren und Zöllner werden eher in's Himmelreich kommen, als ihr. Matth. 21, 31.
Dem Hohen und Erhabenen ist nur die Demuth werth,
Er sieht gern auf das Niedrige im Himmel und auf Erd .
Die aber hohen Muthes sind, die stürzt der Herr vom Stuhl;
Drum werd ich herzlich gern ein Kind und geh in Christi Schul.
Da fall ich auf mein Angesicht zu meines Heilands Fuß,
Und bitt um's heil gen Geistes Licht, das mich geleiten muß.
Da krieg ich einen Kindersinn, ich wird‘ und bleibe, klein,
Und habe davon den Gewinn, dem Höchsten nah zu seyn.
Drum siehe dich, mein Herz und Geist, nach Anders nichts mehr um,
Als dem, was unverwelklich heißt, nach jenes Lebens Ruhm.
Herr Jesu, Deine Gnadenwahl befördre meinen Lauf,
Nimm meinen Namen in die Zahl der Kinder Gottes auf.
Ach was ich bin und thu‘, schreib ich der Gnade zu, die mir's kann bewahren,
Sonst hab ich's ohne Ruh : es kann mir widerfahren,
Daß ich alles das, was ich heute faß, morgen fahren laß.