Gossner, Johannes Evangelista - Andachten über das Hohelied
Hohelied 1,5-6
Ich bin schwarz, aber doch schön, ihr Töchter Jerusalems, wie die Hütten Kedars, wie die Teppiche Salomons. - Sehet mich nicht an, dass ich so schwarz bin, denn die Sonne hat mich verbrannt. Meiner Mutter Kinder zürnen mit mir.
Die wahre Kirche Christi, so wie die echten Kinder Gottes, sind schwarz in den Augen der Welt, unansehnlich, teils wegen ihres äußern geringen Standes oder wegen ihrer kleinen Anzahl gegen den großen Haufen der Welt, teils wegen der Trübsale, die sie treffen; aber ihre innere Gestalt ist desto schöner und lieblicher vor Gott. Von außen sehen sie den schlechten Hütten der Kedarener im wüsten Arabien gleich; aber innerlich sind sie wegen der Gaben des heiligen Geistes und der himmlischen Segnungen so herrlich, wie die mit Gold gewirkten Teppiche Salomons. Man ärgere sich daher nicht an der äußeren Schwärze der Braut Christi; sie ist von der Hitze der Verfolgung oder Anfechtung so verbrannt und verdunkelt, dass sie oft einer Elenden und Trostlosen gleicht, über die alle Wetter gehen (Psalm 54, 11.). Sie wird auch nicht nur von Ungläubigen, Juden, Heiden und Türken geplagt, sondern von den Kindern ihrer Mutter, d. i. von solchen, die im Schoße der Kirche sein wollen. Wahre Christen müssen von falschen Brüdern oder äußerlichen Gliedern, die immer mächtiger sind, allezeit Gewalt leiden; aber das macht sie vor Gott schön und herrlich, das reinigt und fegt sie, dass sie ihrem Herrn und Könige gleichen, der, obwohl er der Allerverachtetste war, und von außen gar keine Schönheit hatte, doch der Schönste unter den Menschenkindern war.
Hohelied 3, 1. 2.
Ich suchte des Nachts, den meine Seele liebt, ich suchte, aber ich fand ihn nicht. Ich will aufstehen, und in der Stadt umhergehen auf den Gassen und Straßen, und suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht.
Selig ist eine Seele, die eine solche Sucherin des Heilandes ist, die von solchem Verlangen nach ihm brennet, dass sie Nacht und Tag nur ihn verlangt; die, wenn sie ihn nicht hat, nicht ruhig schlafen kann, sondern aufstehen und ihn in den Gassen und Straßen der Stadt Gottes, d. i. auf allen Wegen des innern Lebens, suchen muss. Das sind wohl die edelsten Seelen, die der Heiland so im Suchen übt, deren Augen so gehalten werden, dass sie ihn nicht sehen und nicht kennen, ob er gleich mit ihnen wandelt, die sonst seine süße Gemeinschaft gewohnt waren, aber nun lange Zeit des Trostes seiner Nähe nicht so oft und so bald, als sie es wünschen, teilhaft werden können, und dabei äußerlich mit Trübsal und innerlich mit Zweifel, Angst und Anfechtung geplagt sind. Je mehr er sich ihnen verbirgt, desto heißer wird ihr Verlangen nach ihm. Je weiter er sich von ihnen zu entfernen scheint, desto inniger suchen sie ihn. Denn sie wissen, es ist nur Prüfung ihrer Liebe, Bewährung ihres Glaubens; sie sind überzeugt: Er kann nicht im Ernste die Menschen verlassen, er kann keine Seele hassen, die ihn liebt, keine fliehen, die ihn sucht. Sein Fliehen will uns nur ziehen - tiefer in das Innere hinein zu dringen. Sein Entfernen soll uns nur ihm näher bringen, und das, was noch zwischen uns und ihm liegt, aus dem Wege räumen, die Scheidewand niederreißen und ihn uns auf ewig schenken.
Hohelied 4,12-17. und 5,1
Stehe auf, Nordwind, und komm, Südwind, und wehe durch meinen Garten, dass seine Würze triefen. - Mein Freund komme in seinen Garten, und esse seiner edlen Früchte. - Ich komme, meine Schwester, liebe Braut! in meinen Garten.
Die wahre lebendige Kirche Christi, so wie jedes Glied derselben, jeder wahre Christ, ist ein Lustgarten Gottes, den Christus gepflanzt und fruchtbar gemacht hat, den er mit lebendigem Wasser des Geistes begießet, der verschlossen, umgeben mit göttlichem Schutze, dem innern Zustande nach unbekannt und verborgen ist den Leuten dieser Welt. Oft ruft die Seele: Komm, heiliger Geist! der bald wie der kalte Nordwind straft und züchtigt, bald wie der sanfte, milde Südwind erwärmt, erquickt und tröstet, dass seine Würze, Buße, Glaube und Liebe mit all ihren Früchten reichlich triefen. Ja, die Seele seufzet und flehet um die Gegenwart des Gärtners selbst, wenn sie ihn misst, und er kommt und besucht seinen Garten, ihr Herz, und segnet und pflegt ihn, wie es recht ist. Wie steht es doch in deinem Garten? Was findet dein Gärtner, wenn er kommt? Hast du ihn lieb? Wünschest du seinen Besuch? Wehet sein Wind durch deinen Garten? Triefen deine Würze? Kommst du dem Freunde, dem einzigen Gärtner in seiner Art, mit heiliger Sehnsucht, inniger Liebe, herzlichem Verlangen, ihm zu gefallen, entgegen? Öffnen und richten sich alle Blumen, alle Begierden deiner Seele, gegen ihn? Sieht er dieses in dir, o wie bald, wie oft wird er seinen Garten besuchen! Wie sorgfältig ihn pflegen! wie herrlich ihn halten!
Hohelied 8,7.
Wenn Einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, so gälte es alles nichts.
Liebe um Liebe. Wenn du schon Alles, was du hast und bist - dich selbst ganz für die Liebe hingegeben hättest, so hättest du sie doch nicht bezahlt, hättest noch Nichts für sie gegeben. Und doch hast du dieses Nichts noch nicht gegeben, und willst es wohl auch noch nicht mit Ernst ganz hingeben. So gering achtest du die Liebe! Sie, die köstlicher und teurer ist als alles, was Himmel und Erde Köstliches und Teures hat. Sie ist Gott selbst, das höchste Gut. Sie will sich dir schenken, aber du sollst dein Herz dazu hergeben, und durch Ausleerung deines Herzens von allem, was sie, was Gott nicht ist, dich ihrer empfänglich machen; sollst alles andere fahren lassen, um sie fassen zu können. Sie will dein Herz allein, und will sich dir ganz schenken. Du bist der Liebe Liebe schuldig, bist dich selbst ihr schuldig von Ewigkeit; denn sie hat dich von Ewigkeit her geliebt und hat sich in der Zeit auch ganz für dich hingegeben. Du kannst in Ewigkeit nicht reicher, nicht herrlicher, nicht seliger werden, als wenn du die ewige Liebe ewig mit ungeteiltem Herzen liebest, oder dich ganz an sie hingibst.