Goetz, Christoph Wilhelm - Kurze Betrachtungen über die Leidensgeschichte Jesu - Achte Betrachtung.
Die Liebe, die du mir erzeigt,
Ist, Herr, nicht zu ermessen;
O mache selbst mein Herz geneigt,
Sie nimmer zu vergessen,
Daß ich aus wahrer Gegentreu
Dir bis zum Tod ergeben sey,
Und dir zur Ehre lebe!
Text: Joh. 13, V. 34. 35.
Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebet habe; auf daß auch ihr einander lieb habet. Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seyd, so ihr Liebe untereinander habt.
In den ernsten Stunden, in denen Christus seinen Verräther deutlich bezeichnet, in denen er mit den Worten: nun ist des Menschen Sohn verkläret und Gott ist verkläret in ihm, es bestimmt ausgesprochen hatte, daß eben jetzt mit seinen Leiden auch seine Verherrlichung sich nahe, und seine Jünger auf diesem letzten, schweren Gange ihn nicht begleiten könnten, daß sie länger zu leben und zu wirken berufen wären; in diesen ernsten Stunden sprach er die Worte, die wir dieser Betrachtung vorangestellt, gleichsam als Wegweiser für seine Jünger durch das ganze Leben. Lasset uns nun erkennen:
Wie bedeutungsvoll diese letzte Ermahnung Jesu, an seine Jünger, auch für uns ist!
Wir werden dieß fassen, wenn wir betrachten:
- unter welchen Umständen sie gesprochen war;
- welche Hinweisung auf sein eignes Leben sie enthielt;
- wie wichtig der Zusatz für alle, die sich zu ihm bekennen, ist: daran wird man erkennen, daß ihr meine Jünger seyd, wenn ihr Liebe untereinander habt!
1.
Am Abend vor seinem Scheiden, in den Stunden, wo es bereits ganz klar vor seiner Seele stand, was er zu erwarten, was er zu dulden und zu überwinden hatte, erfüllt von der Gewißheit seines nahen, furchtbaren Todes, legte Jesus seinen Jüngern die Ermahnung an das Herz: liebet euch untereinander, wie ich euch geliebet habe! Ruhig schaut er in die düstre Nacht, in die nahe, grausenvolle Zukunft hinein, und benützt die wenigen übrigen Stunden, seinen Geliebten an das Herz zu legen, was er für sie als das Wichtigste erkannt hatte. Wir können unmöglich bei dieser Betrachtung verweilen, ohne lebhaft den Wunsch zu fühlen, mit gleicher Ruhe zu sterben, und in gleicher Weise die letzten Stunden, denen, die unser Todtenbette umstehen werden, segensreich zu machen.
Zwar kennen nicht alle das Ende ihrer irdischen Wallfahrt. Viele werden von dem Tode übereilt, aber viele gehen ihm auch langsam entgegen, ja man hat sehr häufig schon die Erfahrung gemacht, daß Einzelne eine bestimmte Ahnung ihres Todes hatten und selbst mit großer Sicherheit die Stunde schon einige Tage voraussagten, in der sie enden würden. Möchten doch alle, wenn das Gefühl des nahen Todes sie mit unwidersprechlicher Klarheit durchdringt, dann noch ihren Lieben an das Herz legen, was denselben wichtig und bedeutungsvoll seyn kann; möchte unser aller Ende, dem des Heilandes ähnlich, segensreich für die seyn, die um uns weinen! Die Welt hat freilich ganz andere Forderungen, welche den eben ausgesprochenen völlig entgegengesetzt sind, geltend zu machen gesucht. Nach ihr soll man den Gedanken an den Tod überhaupt verbannen; Sterbenden soll man bis zum letzten Augenblick des Lebens die Hoffnung der Besserung, wenn auch schon keine Gründe dazu vorhanden sind, zu erhalten suchen. Auch selbst das Andenken an die Geschiedenen soll man zu vermeiden, alles, was an sie erinnern könnte, aus dem Wege zu räumen suchen. Verdienen diese Forderungen etwa Berücksichtigung? Warum sagt uns denn die heilige Schrift, wir sollen beten: Lehre uns, Herr, bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden! Lehre doch mich, daß es ein Ende mit mir haben muß, und daß mein Leben ein Ziel hat! Nein, jene Forderungen verdienen keine Berücksichtigung, es liegt darin die Sprache des Menschen, der keine Hoffnung hat, und der deßhalb die ernste Erinnerung an den Tod selbst nicht vernehmen und von seines Gleichen sie wegscheuchen will.
Es ist dieß die Sprache der nichtswürdigen Scheu vor allem Ernste in einem ernsten Leben. Der Christ spricht: Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn. Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg? Für ihn hat der Tod seine Schrecken verloren, denn er hält fest an dem, der dem Tode die Macht genommen.
Einen schnellen oder auch einen unvorbereiteten Tod, nennt der Christ einen bösen Tod, er will sich vorbereiten zu der ernsten Feierstunde, zur Heimkehr in das Vaterhaus, und auch sein Ende soll andern lehrreich senn. Nicht darnach wollen wir trachten, daß wir unsere Sterblichkeit vergessen; sondern darnach ringen, daß wir mit Ruhe und mit Freudigkeit einst sterben können. Nichts ist ehrfurchtgebietender, nichts geeigneter, heilige Gedanken in uns anzuregen, nichts auffordernder zu Liebe und Frieden, als das Sterbebette des Frommen, und das Wort der Dahinscheidenden wird gleichsam mit unvertilgbaren Zügen in die Brust derer, die es vernehmen, geschrieben. Laßt uns das bedenken, und wenn uns Gott gnädig einst noch lichte Stunden auch im Tode schenkt, unserm Heilande gleich, die Unsrigen hinweisen auf das Eine, was Noth ist, damit ihnen unser Scheiden feierlich und erhebend sey.
Die letzte Ermahnung, welche Jesus seinen Jüngern gab, erscheint besonders wichtig,
2.
weil sie eine Hinweisung auf sein eignes Leben enthält, da sie bei dem, was sie thun, zugleich ihn sich zum Vorbilde erwählen und in fortgesetzter Verbindung mit ihm bleiben sollten: liebet euch untereinander, wie ich euch geliebet habe, sprach Jesus. Wie er sie geliebet hatte, so sollten sie sich untereinander, so sollten sie den Menschen überhaupt lieben. Ohne Ansehen der Person, ohne Rücksicht auf äußere Verhältnisse, hatte Jesus seine Jünger erwählt, nur ihren innern Werth beachtete er. Mit treuer Liebe stand er ihnen im Leben zur Seite, und vor allen hatten sie sich der Erweisungen seiner Güte und Freundlichkeit zu erfreuen. Den letzten, schweren Gang ging er auch für sie; den Tod erduldete er auch für sie; damit der Trost der ewigen Gnade ihr Herz erfüllen und die Hoffnung des ewigen Lebens, aus seinem Siege über den Tod, für sie aufblühen sollte. Darum wies er auf sich selbst in seiner ernsten Ermahnung hin: Wie ich euch geliebet habe, so liebet euch untereinander.
Auch bei der Betrachtung dieses Umstandes wird ein neuer Wunsch in uns rege. Möchten doch auch wir, am Abend unsres Lebens, die Unsrigen auf uns selbst hinweisen können! Möchte jeder einst sagen können, wenn trauernd die Seinen um ihn stehen: „Ich habe im heiligen Ernste mich bestrebt vor Gott zu wandeln und fromm zu seyn; zwar hat ein tausendfacher Kampf mich erwartet und wohl bin ich oft unterlegen, und das Gefühl meiner Sünde hat mich immer auf's Neue tief gebeugt; aber ich erneute mein Gebet und flehte und rief nach Hülfe, die von Oben kommt, und siehe der Herr war mächtig in mir, dem Schwachen; seine Gnade unterstützte mich; ich erkannte immer klarer die Vergänglichkeit, die Richtigkeit alles Irdischen und ich weihte mich immer inniger dem Herrn, und meine Lust ward immer mehr Gott. Weinet nicht um mich, ich fürchte nicht den Tod, nicht das Gericht!
Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferwecket ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns;“ ich werde die Herrlichkeit dessen schauen, der auch mich zu sich berief. Weinet nicht, aber lernet von mir dem Frieden nachjagen und vor Gott wandeln!„ Ja, möchten wir alle einst sterbend den Unsrigen mit Jesu zurufen können: „Liebet euch untereinander, wie ich euch geliebet habe!“ - möchte keine Erinnerung an gestörten Frieden, an Ausbrüche der Leidenschaft und ihre verderblichen Folgen unsern Lebens-Abend trüben!
Bedeutungsvoll wird diese letzte Ermahnung Jesu für uns, wenn wir endlich
3.
erwägen, wie der Zusatz: „daran wird man erkennen, daß ihr meine Jünger seyd, wenn ihr Liebe untereinander habt,“ auch zu uns gesprochen ist. Auch wir nennen uns ja nach seinem Namen; auch wir sind zu seinen Nachfolgern berufen, auch wir sollen Jünger Jesu im Geiste und in der Wahrheit seyn. Liebe ist das Erkennungszeichen unserer Gemeinschaft mit ihm; gerade daran will er ersehen, ob wir sein Eigenthum sind. Warum nennt er nicht auch andere erhabene Eigenschaften, welche den wahren Christen schmücken müssen? - Doch wohl, weil die Liebe des Gesetzes Erfüllung ist; weil ohne sie alles Wissen, alles Wohlthun, selbst der Glaube werthlos ist, und weil, wo sie lebt, alles Uebrige von selbst sich einfindet. Deßhalb können wir uns nicht oft genug daran erinnern, nicht oft genug uns ermahnen, daß wahre Liebe des Christen erstes Erforderniß ist. „Ein neu' Gebot, sagt Jesus seinen Jüngern, gebe ich euch,“ und doch hat er es ihnen durch Wort und That schon so oft an das Herz gelegt. Aber das Gebot der Liebe altert nicht, es ist ewig neu. Die Erinnerung an dasselbe thut uns immer mit gleichem Ernste Noth, sie hat immer gleiche Kraft, gleichen Einfluß auf uns. Liebe ist die Probe der Aechtheit unsers Christensinnes. Lasset es uns nie vergessen, daß wir nicht Jünger Jesu sind, und keinen Theil an dem durch ihn den Menschen erworbenen Heile haben, so lange uns nicht der Geist der Liebe erfüllt; der Liebe, die uns demüthig macht vor Gott und vor Menschen, so daß wir uns weder unsres Wissens, noch unsres Glaubens, weder unsrer Jugend, noch der Erkenntniß unsrer Sünde, weder unsrer Kraft, noch unserer Schwachheit rühmen; sondern still erkennen, daß wir ohne Gott nichts sind, und daß wir das, was wir sind, durch ihn sind; der Liebe, die uns bescheiden im Glücke, muthig im Unglück, zufrieden mit unserm Los, wie es auch fällt, macht; der Liebe, die uns freundlich und friedfertig gegen den Nächsten, theilnehmend und barmherzig gegen den Unglücklichen, versöhnlich und nachgebend gegen den Feind zu seyn lehrt und dazu verhilft.
Herr und Meister unser aller, vernimm unser Flehen und schenke uns deinen Geist, den Geist der Liebe! - Nur dann schauen wir freudig auf zu dir, und sind allezeit deiner Hülfe gewiß! Nur dann haben wir Frieden mit der Welt und Ruhe in unserm Herzen! Nur dann werden wir einst freudig hingehen zu dir, und segnend wird das Andenken an uns noch nach unserem Tode wirken! Amen.