Goetz, Christoph Wilhelm - Kurze Betrachtungen über die Leidensgeschichte Jesu - Dritte Betrachtung
Text: Joh. 12, V. 1-8.
Sechs Tage vor den Ostern kam Jesus gen Bethania, da Lazarus war, der Verstorbene, welchen Jesus auferwecket hatte von den Todten, Daselbst machten sie ihm ein Abendmahl, und Martha diente, Lazarus aber war deren einer, die mit ihm zu Tische saßen. Da nahm Maria ein Pfund Salbe von ungefälschter, köstlicher Narde, und salbte die Füße Jesu, und trocknete mit ihrem Haar seine Füße; das Haus aber ward voll vom Geruch der Salbe. Da sprach seiner Jünger einer, Judas Simonis Sohn, Ischariothes, der ihn hernach verrieth: Warum ist diese Salbe nicht verkauft um dreihundert Groschen, und den Armen gegeben? Das sagte er aber nicht, daß er nach den Armen fragte; sondern er war ein Dieb und hatte den Beutel und trug, was gegeben ward. Da sprach Jesus: Laßt sie mit Frieden; solches hat sie behalten zum Tage meines Begräbnisses. Denn Arme habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit.
Daß Judas sich über das von Maria geübte Werk der Liebe und den dadurch veranlaßten Aufwand laut beklagt, befremdet uns nicht, da wir seine niedrige Sinnesart kennen; aber daß auch, wie uns Matthäus erzählt, die übrigen Jünger ihre Mißbilligung über diese Liebeserweisung laut zu erkennen geben, wird uns nur dann erklärbar, wenn wir bedenken, daß sie es durchaus noch nicht gefaßt hatten, was Jesus über seinen nahen Tod ihnen bereits schon mehrmals verkündet hatte. Wie beschämend müssen deßhalb die, Marias That rechtfertigenden Worte ihres Herrn und Meisters für sie gewesen seyn: „Laßt sie mit Frieden, solches hat sie behalten zum Tage meines Begräbnisses; Arme habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit.“ - Wenn sie es faßten, daß Jesus mit diesen Worten jene Salbung für eine Weihe seines nahen Todes erklärte, wie schmerzlich mußten sie sich dann ergriffen fühlen; wie sehnlich mögen sie gewünscht haben, daß sie ihre Mißbilligung nicht hätten laut werden lassen; wie ganz anders würden sie die That des edlen Weibes beurtheilt haben. Unwillkürlich drängt sich uns hier der Gedanke auf, daß auch wir so oft ganz anders den Unsrigen begegnen würden, wenn wir ahneten, wie bald sie von uns scheiden. Wir verweilen bei dem Gedanken: Welchen wichtigen Einfluß es auf unser Benehmen gegen die Unsrigen haben würde, wenn wir sie oft als Scheidende betrachteten.
Das Leben des Menschen ist häufig eine Wanderung genannt worden, und wir selbst sind, nach dem Ausspruche der heiligen Schrift, Pilgrime. Wie leicht geschieht es da, daß die Wege sich kreuzen, und der eine dahin, der andere dorthin zieht. Nur wenige Tage noch waren es, von dem Einzuge Jesu in Bethanien an, bis er am Kreuze sein Leben aushauchte, und seine Jünger hatten noch keine Ahnung von seinem Tode. So stehen auch wir oft im Leben neben den Unsrigen und halten ihren Besitz für gesichert, und ein unvorhergesehener Unfall macht die Scheidestunde schlagen. Unser Blick durchdringet nicht das Dunkel der Zukunft, nicht einmal was der nächste Augenblick bringt, ist uns bekannt; wann auch uns das Ziel der Reise, aus der Fremde in die Heimath, gesteckt ist, wir wissen es nicht. Einen unverkennbar wohlthätigen Einfluß auf unser Benehmen gegen die Unsrigen würde es haben, wenn wir diesen Gedanken öfter ernsthaft festhalten wollten, und so wenig damit gesagt seyn soll, daß wir ängstlich in jedem Augenblicke den Tod unserer Lieben befürchten, oder das Leben, mit diesem Gedanken an eine nahe Trennung, uns trüben sollen; eben so wenig kann der Christ, der in steter Bereitschaft für den letzten Augenblick stehen soll, diese Forderung als unpassend von sich weisen. Wir würden, wenn wir oft den Gedanken an die Möglichkeit einer nahen Trennung von den Unsrigen erneuerten, freundlicher in unsern Worten; liebevoller in unserer That; nachsichtiger bei der Beurtheilung ihrer Mängel seyn.
1. Auch da, wo man es um der guten Sitte willen vermeidet, reinen Unwillen im lauten Zwiste zu äußern; auch da, wo man um des Grades der Bildung willen, den man besitzt, ohne Geräusch eine entgegengesetzte Meinung mitzutheilen pflegt; werden doch oft gerade unter denen, die durch die Bande der Verwandtschaft oder Freundschaft innig verbunden sind, verlebende Worte gewechselt. Je inniger die Verbindung der Menschen ist, die zusammen leben; je mehr diese Verbindung es mit sich bringt, alle Begegnisse des Lebens zu theilen, für das zum Leben Erforderliche gemeinschaftlich zu sorgen, wie das vor allen der Beruf derer ist, die durch das Band der Ehe verknüpft sind, oder als Geschwister zusammenleben; desto weniger ist einzelnen Störungen des wechselseitigen Einverständnisses auszuweichen. Eine völlige Gleichheit bei allen Wünschen, Gedanken und Plänen ist ganz undenkbar. Hier nun, wo die Meinungen der nahe Verbundenen sich begegnen, hier pflegt es so leicht zu geschehen, daß die Empfindlichkeit oder Leidenschaft des einen oder andern Theiles gereizt wird, und Worte gewechselt werden, die gegenseitig verlegen. Worte, sagt ein altes Sprichwort, sind keine Schwerdter, aber wohl kann auch ein Wort die Seele durchschneiden, sie tief und schmerzlich verwunden. Und was ist für Menschen, die sich wechselseitig lieben, die sich doch nie absichtlich wehe thun wollen können, und von solchen reden wir ja hier nur, was ist für sie die Frucht solcher Augenblicke? - Was sie für den Menschen immer zu seyn pflegt, wenn sein Thun nicht von dem guten Geiste geleitet wird, - Reue und Schmerz, einige trübe Stunden, nicht selten tiefe Beschämung, wenn man erkennt, wie thöricht man gethan, sich wechselseitig das Leben zu erschweren. Betrachteten wir uns öfter als Scheidende, wahrlich, wir würden die schnell dahin eilende Zeit nicht mit thörichtem Zwiespalte verschwenden, und unser Wort, welches ohnehin mit sanftmüthigem Geiste gesprochen seyn soll, es würde seltner rauh, verlegend seyn; wir würden wachsen in der Liebe, die alles duldet; die nicht erbittert. Dazu, m. G., sind wir zwar schon durch das Gebot des Herrn selbst auf das Heiligste verpflichtet, aber die Liebe des Vaters, die uns durch Tausendfaches zu sich zielen will, stellt uns gewiß auch an das Sterbebette, damit wir mildern Sinnes werden.
2. Liebevoller würde dann auch unsere That werden. Es ist eine betrübende Erfahrung, wie so oft das Verhältniß derer, die Gott durch heilige Bande der Natur ohnehin zu inniger, Liebe verpflichtete, sich übel gestaltet hat. Wie man) es in Worten verfehlt; so ermangelt gleich oft die That des Geistes der Liebe. Es entfremden sich Kinder ihren Eltern, Geschwister ihren Geschwistern; wohl hört auch hie und da die Gewohnheit das Band der Liebe unter lange und innig Verbundenen, und man versäumt, sich wechselseitig Freude zu machen, und seine Liebe thätig zu erweisen, oder man scheut die Opfer, die man bringen soll, die Mühe einer ausdauernden Hülfsleistung. In welchem beklagenswerthen Zustande befinden sich oft solche, die durch irgend einen besondern Unfall ungewöhnlicher Pflege bedürften, die die gerechtesten Ansprüche auf liebevolle Unterstützung zu machen hätten! Wie wenig wird ihnen oft davon! So trägt jeder Dienst, der ihnen erwiesen wird, das Gepräge eines Frohndienstes! - Es kommt so viel auf die Art und Weise an, wie wir einem unserer Mitmenschen einen Dienst erweisen, wie leicht könnten wir durch freundlichen Sinn diese Gefälligkeiten vervielfachen, aber ach, wie Wenige mögen diese leichte Mühe übernehmen! Freundlicher, liebevoller würde oft unsere That seyn, wenn wir die Unsrigen als Scheidende betrachteten. Schneller würde die Tochter das Gebot der Mutter erfüllen; geduldiger der Sohn am Lager des erkrankten Vaters stehen; sorgfältiger würde der Bruder dem Bruder, der Freund dem Freunde sich willfährig erzeigen, wenn er bedächte, daß vielleicht bald die Hand, die ihn noch liebevoll erfaßt, im Tode erstarrt ist. Wer sich nicht gegen jedes edlere Gefühl abgestumpft hat, kann unmöglich einen, dem Tode Entgegengehenden, ohne Rührung erblicken, ihn, ohne den Zug der Liebe in sich zu fühlen, sehen. Und eben um dieses dem Menschen inwohnenden Gefühles willen, das sich seiner bemächtigt bey dem Anblick eines Scheidenden, ist es wichtig, den Gedanken, der unsere Betrachtung leitet, oft in die Seele zu fassen, damit unsre Liebe werde, was sie seyn soll, eine Liebe, die nicht das Ihre sucht, die überwindet.
Nachsichtiger würde er uns auch bei Beurtheilung der Schwächen der Unsrigen machen. In Sünden geboren, tragen wir alle Fehler und Schwächen an uns, und dem einen sind diese, dem andern jene ganz besonders eigen. Gerade diese unsere wechselseitige Mangelhaftigkeit erschwert uns oft das Leben. Die Verschiedenheit unserer Persönlichkeit und unserer Mängel und Gebrechen bringt uns um so mehr und leichter in ein Mißverhältniß, als jedes seine eignen Fehler am wenigsten klar zu erkennen pflegt und dagegen die Fehler anderer leicht bemerkt. Der Pflicht, uns wechselseitig zu tragen, würden wir weit leichter nachkommen, wenn wir uns oft als Scheidende betrachteten. Jede Bitterkeit, mit der wir uns aussprechen wollten im Urtheile, würde sich in Milde gestalten. Warum sollte ich nicht die Unvollkommenheit eines Menschen tragen, der theils auch die meinige tragen muß, der mir außerdem lieb ist? Wer weiß, wie bald uns die Trennungsstunde schlägt? - Wie gerne würde ich dann Größeres erdulden wollen, um seinen freundlichen Blick, seinen liebevollen Händedruck, seine erfreuliche Nähe zu erkaufen! Mild und sanft, mit einem Worte, macht uns dieser Gedanke gegen die Unsrigen gestimmt. Milde und Sanftmuth aber sind Geschwister der Liebe, und dieses Geistes sollen wir ja nach dem Willen und Vorbilde unsers Erlösers immer voller werden. Ach es hat wohl viele gegeben, die um jeden Preis die Rückkehr eines ihren Geliebten erkauft hätten, um ihm nur noch einmal ihre Liebe zu erzeigen, die sie ihm, so lange sie mit ihm auf einem Wege waren, zu erzeigen versäumten. Vor diesem namenlos schmerzlichen Gefühle möge jedes von uns verschont bleiben! Wir sind Pilgrime, die nicht wissen, wo das Ziel ihrer Reise gesteckt ist. Lasset uns oft an die Abschiedsstunde denken und uns einander desto freundlicher und liebevoller die Hand bei unserer gemeinschaftlichen Wanderung reichen! -
O Herr, der du nicht kamst, um dir dienen zu lassen, sondern um zu dienen, schenke uns deinen himmlischen Sinn! - Du, der du aus Liebe kamst und aus Liebe zu uns starbst, erfülle uns mit diesem göttlichen Geiste deiner Liebe! Hilf uns allen, durch dich noch enger Verbundenen, der Scheidestunde gedenken, um durch verdoppelte Liebe uns wechselseitig das Leben zu erleichtern! - Amen!