Godet, Frederic - Die göttliche Würde Christi

Godet, Frederic - Die göttliche Würde Christi

Diese Schrift ist die Übersetzung eines Vortrags, der auf der Versammlung der evangelischen Allianz in Basel den 2. Sept. 1879 gehalten wurde.

Indem ich diese Versammlung überblicke, fühle ich mich erinnert an die Worte in dem Evangelium nach St. Markus (3,32): „und die Menge des Volks saß um Ihn her.“ Ich sehe im Geist den HErrn in unserer Mitte thronen; ich sehe um Ihn versammelt die Vertreter der verschiedenen und doch innerlich einigen Gemeinschaften, welche hienieden zu Seinem mystischen Leibe gehören. Hier sind wir, bereit zu hören, was Er uns zu sagen hat; und es ist mir, als wenn Er in dieser Stunde das Losungswort an uns richtete: „Himmel und Erde werden vergehen, aber Meine Worte vergehen nicht.“

Mein Amtsgenosse Herr v. Orelli hat bereits über die Unwandelbarkeit des apostolischen Evangeliums geredet, und zwar im Blick auf das Werk Christi. Er hat dargetan, wie das Heil in Christo niemals einer andern Weise der Verbindung zwischen Gott und der Menschheit weichen kann, denn es beruht auf unumstößlichen geschichtlichen Tatsachen, und es entspricht aufs Vollkommenste den unverwüstlichen und allgemein gültigen Anforderungen des menschlichen Bewusstseins und Gewissens.

Nun aber gilt die Unwandelbarkeit des von den Aposteln verkündigten Evangeliums auch in Beziehung auf die andere Seite der darin enthaltenen Wahrheit, die Person des Erlösers und Seine göttliche Würde. Was Christus persönlich für die Apostel war, das war von Anfang an entscheidend auch für ihre Einsicht in die Bedeutung Seines Werkes und Seiner Sendung. Zuerst zwar schien jene große Wahrheit wie eingehüllt in der Gesamtheit des Erlösungswerkes. Stufenweise löste sie sich davon ab, und endlich trat sie als der leuchtendste Punkt des apostolischen Evangeliums hervor. Die volle Bedeutung und der unermessliche Wert des Heils in Christo konnte den Augen der Welt dann erst einleuchten, da Christus verkündigt wurde als das ewige Wort, welches Fleisch geworden ist.

Wollte Jemand diese Tatsache in Frage stellen, die den Mittelpunkt der ganzen Heilswahrheit bildet, die wesentliche und persönliche Gottheit des HErrn, so wäre ein solcher genötigt, in allen wesentlichen Punkten das apostolische Evangelium zu ändern und abzuschwächen; es würde, dass ich so sage, auf der ganzen Linie seine religiöse und sittliche Kraft einbüßen. Damit würde, ob auch noch so Viele das Gegenteil versichern, das Christentum selbst entkräftet und den feindlichen Mächten gegenüber, die es jetzt mehr als je bedrohen, entwaffnet.

Zahlreiche Denker und Schriftsteller, denen wir den Ernst nicht absprechen können, machen. sich dessen schuldig. Ich spreche jetzt nicht von denen, die zwischen Jesus und uns nur einen Stufenunterschied anerkennen, die in Ihm nur einen Mann sehen, der eben um ein weniges heiliger war als wir. Seine Erscheinung sei wohltätig gewesen, sofern sie das sittliche Ideal im Bewusstsein der Menschheit vervollkommnete, aber Seine Nachfolger und wohl schon Seine Zeitgenossen hätten sich einer Verwechselung schuldig gemacht, indem sie dieses glänzende Ideal, das Er verkündigte, mit Seiner Persönlichkeit identifizierten. Ich richte mein Augenmerk vielmehr auf jene, seien sie Theologen oder nicht, deren Zahl im Zunehmen ist, welche in Jesu den vorherbestimmten Retter des Menschengeschlechtes, den Auserwählten Gottes erkennen, den zentralen Menschen, der ins Leben gerufen wurde, um die Menschheit ihrer Bestimmung entgegen zu führen, der aber bei dem Allen doch nur als ein bloßer Mensch zu betrachten sei, der so wenig als wir anderen ein Dasein hatte vor Seinem Auftreten auf Erden. Falls sie Ihm den göttlichen Namen noch zugestehen, so darf man nicht meinen, sie erkennen Ihn als den Menschgewordenen Gott, als welchen die Kirche Ihn anbetet; nein, sie halten Ihn nur für einen Titular-Gott, für einen Menschen, welchem Gott einen gewissen Anteil an Seiner Souveränität eingeräumt hat. Dies ist die Grenze, über welche hinaus zu gehen sie sich weigern. Was die entgegengesetzte Überzeugung betrifft, die bis jetzt in der Kirche Christi gegolten und geherrscht hat, so gibt man vor, sie sei nur eine metaphysische Ansicht, entstanden bei den Philosophen von Alexandria, eingedrungen in die christliche Theologie im Verlauf der großen Umwälzung der Ideen, zu welcher die Erscheinung Christi den Anlass gegeben hat. Man bezeichnet den Glaubenssatz von der Gottheit Christi als bedeutungslos für das religiöse und sittliche Leben der Einzelnen oder der Gemeinden. Ja, man gibt vor, es wäre ein Gewinn, dieses eingeschlichene fremde Element, an welches Christus selbst gar nicht gedacht habe, aus dem Evangelium auszuscheiden. Denn es würde durch einen solchen Lehrsatz nur die Ausbreitung der christlichen Religion in der Welt gehemmt und ihre heilsame Wirksamkeit erschwert, zumal unter einem Geschlecht wie das gegenwärtige, welches weniger als alle früheren geneigt sei, abergläubige Vorstellungen sich gefallen zu lassen.

Die Zeugnisse der Heiligen Schrift für die wesentliche und persönliche Gottheit Christi stehen den Widersachern dieser Wahrheit entgegen; ihr Verhalten gegen diese Zeugnisse ist ein schwankendes. Früher war man bemüht, die gehaltvollen Aussprüche der Apostel umzudeuten und herab zu mindern, bis sie sich mit diesen irrigen Vorstellungen zu vertragen schienen. Heut zu Tage lassen sich die Gegner vielmehr bereitfinden, den wahren Sinn der biblischen Ausdrücke anzuerkennen. Aber sie erkühnen sich eben die Autorität dieser Zeugnisse zu verwerfen.

So wird denn im Blick auf diesen ernsten Kampf unsre Aufgabe folgende sein: wir müssen zuerst die apostolische Unterweisung über die Person Jesu Christi zusammenfassen; sodann in Erwägung ziehen, ob der Lehrsatz von der Gottheit Christi von den übrigen Wahrheiten des Christentums ohne Nachteil für dieselben abgelöst werden könnte; endlich haben wir zu prüfen, in welcher Lage ein also verstümmeltes Evangelium gegenüber den Widersachern des Christentums sich befände.

I.

Wie wohl wir es nicht selbst aus dem Munde der Apostel vernommen haben, was sie von der Person und der Würde ihres Meisters hielten, so besitzen wir doch ihre Schriften, worin sie sich über diesen Gegenstand aussprechen. Unter diesen Schriften nehmen die Briefe des Apostels Paulus der Zeitfolge nach die erste Stelle ein.

In seinen früheren Sendschreiben, an die Thessalonicher, die Galater, Korinther und Römer, handelt der Apostel mehr von dem Werk als von der Persönlichkeit des Erlösers; so brachte es die damalige Lage der Kirche mit sich. Doch auch dort, wo er sich über das Werk der Erlösung und seine Folgen verbreitet, unterlässt er nicht, von Zeit zu Zeit den Blick auf die Persönlichkeit des Urhebers zu richten. So sagt er im Briefe an die Römer (8, 3): „Gott hat Seinen eigenen Sohn gesandt in der Ähnlichkeit des sündlichen Fleisches und hat die Sünde im Fleisch verdammt.“ Alle diese Ausdrücke: Seinen eigenen Sohn senden im Fleische senden gestatten keinen Zweifel über den Gedanken des Apostels. Im ersten Briefe an die Korinther (8, 6) bezeugt er, dass durch Christum alle Dinge geschaffen sind, und dass Er es war, der einst das Volk Israel durch die Wüste führte (10, 4), womit unverkennbar kund getan ist, dass Christus vor Seinem Erdenleben ein Dasein, und zwar ein göttliches Dasein hatte. Im zweiten Briefe an die Korinther (8, 9) entwirft der Apostel ein Gemälde der Liebe, die in Christo ist, und sagt von Ihm: „Ob Er wohl reich war, ward Er doch arm um euretwillen, auf dass ihr durch Seine Armut reich würdet.“ So ging denn bei Ihm das Reichsein der Armut voran, Sein Armwerden war die Tat seiner Liebe, eine freiwillige Entsagung. Er hat den göttlichen Zustand aufgegeben, um die Bedürftigkeit des menschlichen Zustandes mit uns zu teilen, damit Er durch diese Vereinigung mit unserer Armut uns zur Teilnahme an Seinem göttlichen Reichtum erheben könne.

Diese Anschauung der Person Christi tritt nun noch bestimmter und klarer in den späteren Briefen des Apostels, an die Kolosser, Epheser und Philipper hervor. Diese Sendschreiben sind an weiter geförderte Gläubige gerichtet, und bestimmt, diese auf dem Weg der Heiligung zu stärken; deshalb lässt der Apostel hier den Blick noch tiefer eindringen in jenen „unerforschlichen Reichtum Christi“ (Ephes. 3, 8), den er in den früheren Briefen nur leicht berührt hatte. Auf diese tiefere Unterweisung hatte er schon zuvor hingedeutet, zum Beweis, dass sie ihm vollkommen gegenwärtig war. Er hatte den Korinthern von einer Weisheit gesagt, die er den Vollkommenen, d. H. den weiter fortgeschrittenen Christen verkündige; er vergleicht diese Weisheit mit der starken Speise für die Erwachsenen, im Gegensatz zu der Anfangsbelehrung über das Heil und die Rechtfertigung durch den Glauben, die er als Milch für die Unmündigen bezeichnet. (1 Kor. 2, 6; 3, 2).

Worin diese erhabenere Weisheit bestand, die er in den früheren Briefen nur wie von ferne andeutete, das wird uns eben aus den späteren Sendschreiben klar. Es ist die volle Erkenntnis der Würde Christi, der da ist der Urheber unseres Heils, das Haupt der Kirche. Im Briefe an die Kolosser (1, 15-17) enthüllt er in Christo dem Erlöser den Schöpfer aller Dinge, der sichtbaren und unsichtbaren, der himmlischen und der irdischen, Den, durch welchen bis zu dieser Stunde das All besteht, so zwar, dass die Gründung der Kirche als die Krönung des Schöpfungswerkes erscheint; diese beiden Werke bilden ein großes Ganze, indem sie Einen und denselben Urheber haben. Wie schon im zweiten Briefe an die Korinther, so wird Christus in dem Briefe an die Philipper verherrlicht, der in göttlicher Gestalt war, Seinem Wesen nach eines göttlichen Standes sich erfreute, und dann, um hienieden zu erscheinen, der Gleichheit mit Gott, auf die Er ein Recht hatte, entsagte, freiwillig mit der Knechtsgestalt, dem menschlichen Zustand, sich bekleidete, alsdann immer tiefer sich erniedrigte und entäußerte, indem Er als Mensch gehorsam wurde bis zum Tode, ja, zum Tode am Kreuz. Phil. 2, 6-8.

In diesen Zeugnissen gibt uns der Apostel die Erleuchtung zu erkennen, die ihm geworden war durch die Erscheinung Christi auf dem Wege nach Damaskus, und durch jene geistige, innere Offenbarung des Sohnes Gottes, welche ihm Gott in Folge jener Erscheinung zu Teil werden ließ (Gal. 1, 15-16). So mächtig war die Wirkung dieser zweifachen Offenbarung auf den Apostel Paulus, dass er ohne Zögerung das Vorurteil und das gewaltige Widerstreben aufgab, welches er als jüdischer Monotheist in sich tragen musste, gegen die Vergöttlichung eines Menschen.

Dieselbe Erscheinung wiederholt sich bei Johannes, und hier tritt sie noch auffallender hervor. Dieser Jünger hatte zwei oder drei Jahre in dem vertrauten Umgang mit Jesu, der ihn Seiner Freundschaft würdigte, durchlebt. Bei Johannes musste nicht nur der strenge Monotheismus der Israeliten, es musste auch die Vertraulichkeit des täglichen Umgangs mit Christus ein mächtiges Hindernis bilden gegen eine aus menschlicher Einbildung entstehende Apotheose. Aber mächtiger als alle Vorurteile war bei Johannes die Erinnerung an den Lebensgang seines Freundes und an die Worte, die er aus dessen Munde gehört hatte, Worte wie diese: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ (Joh. 11, 25).

„Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herab gekommen ist“ (6, 51). „Wie, wenn ihr des Menschen Sohn hinaufsteigen seht, dahin wo Er zuvor war“ (6, 62). „Ehe denn Abraham ward, bin Ich“ (8, 58). „Wer Mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen“ (14, 9). „Vater, verkläre Mich bei Dir selbst mit der Klarheit, die Ich bei Dir hatte, ehe die Welt war“ (17, 5. 24). In Erinnerung an solche Worte des HErrn konnte Johannes sich nicht enthalten, in Ihm ein ganz außerordentliches Wesen göttlichen Ursprungs und göttlicher Natur zu erkennen: „Wir sahen Seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des Eingebornen Sohnes vom Vater“ Joh. 1, 14. Darum nennt er Ihn das Wort, das im Anfang war, „und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Er bezeichnet Ihn als das wahrhaftige Licht, das jeden Menschen erleuchtet (Joh. 1, 1. 9), und als das ewige Leben, welches war bei dem Vater und ist uns erschienen (1 Joh. 1, 2); als jenen Adonai, den einst Jesaias im Gesicht geschaut hat, da er den Gesang der Seraphine vor dem Throne hörte: „Heilig, heilig, heilig ist der Ewige, der Gott der Heerscharen“ (Joh. 12, 41).

Die Lehrweise der anderen Apostel ist nicht so vollständig zu unserer Kenntnis gekommen. Dennoch steht es fest, dass sie mit der ganzen ursprünglichen Kirche von dem Gefühl der Anbetung gegen ihren Meister durchdrungen waren.

Oder wurden nicht in jenen ersten Zeiten die Christen insgemein bezeichnet als die, „welche den Namen des HErrn Jesu anrufen?“ (Apost. Gesch. 9, 14-21). Vergegenwärtigen wir uns den ganzen Ernst des israelitischen Monotheismus jener Zeit, erinnern wir uns, wie nach jenem Glauben nur vor einem einzigen Namen der Mensch seine Knie beugen darf, wie nur der einzige Gottesname mit Anbetung ausgesprochen werden kann, wie die Anbetung irgend eines Andern Gotteslästerung ist - wahrlich so genügt dieser einfache Ausdruck: „die den Namen des HErrn Jesu anrufen,“ um uns zu offenbaren, welche Erleuchtung und welche Gesinnung in Beziehung auf die Person Jesu der apostolischen Kirche innewohnte. Überdies wird uns diese Gesinnung bestätigt durch den Bericht eines Heiden vom Anfang des zweiten Jahrhunderts, Plinius, der als Statthalter von Bithynien dem Kaiser Trajan den Kultus der Christen, die er in seiner Provinz kennen gelernt hatte, mit den Worten beschrieb: „Sie stimmen einen Hymnus an auf Christus, als auf einen Gott.“

Die persönliche Gottheit dessen, durch den Gott unsere Erlösung vollbracht hat, das ist die Wahrheit, welche die Apostel gelehrt haben; das ist der Glaube, den aus ihrem Munde die Kirche empfangen hat, und durch diesen Glauben hat sie alle gegen sie verbündeten Mächte besiegt. Sollte etwa, wie eine Anzahl hervorragender Denker es ihr beibringen möchte, die Zeit für die Kirche gekommen sein, diesen Glauben wie eine nutzlose oder sogar schädliche Überspannung fahren zu lassen und wie ein altes verrostetes Schwert wegzuwerfen? Dies ist es, was wir jetzt einer genauen Prüfung unterwerfen müssen.

II.

Wenn ich diese Lebensfrage vor Gott erwäge, so drängen sich jedes Mal drei Wahrheiten in ergreifender Weise meinem Verstande und meinem Herzen auf:

1) Es ist unmöglich der wesentlichen und persönlichen Gottheit Christi etwas abzubrechen, ohne zugleich die innige Verbindung zwischen Gott und den Menschen überhaupt zu beschädigen.

2) Wird der wesentlichen und persönlichen. Gottheit des HErrn ein Abbruch getan, so wird eben damit jener Abscheu abgeschwächt, den wir gegen die Sünde, die uns von Gott scheidet, empfinden sollen.

3) So wie man in etwas abweicht von dem Bekenntnis der wahren Gottheit des Erlösers, so verliert auch unvermeidlich die christliche Heiligkeit etwas von ihrer herrlichen Wirklichkeit.

Diese dreifache Überzeugung will ich zu begründen versuchen.

Die innige Beziehung zwischen einem Höheren und einem Untergeordneten ist mehr durch das bedingt, was der Erstere für den Andern ist als durch das, was der Untergeordnete für den Höheren ist. So verhält es sich mit der Beziehung, die zwischen Gott und uns besteht. Sie beruht auf dem, was Gott für uns ist, und nur in untergeordneter Weise auf dem, was wir für Gott sind.

Gott hat uns in Jesu Seinen eigenen Sohn (im vollen und apostolischen Sinn des Wortes) geschenkt. Denken wir uns ein Evangelium, in welchem dieses Geschenk keine Stelle hätte, mm so ist die vollkommene unendliche Liebe des Vaters gegen uns verschwunden. Man hat keinen Grund mehr zu dem Ausruf: „Also hat Gott die Welt geliebt“ (Joh. 3, 16). Die wahre und vollkommene Gabe ist die Hingebung seiner selbst. Dann wäre jene Erwägung des Apostels (Röm. 5, 7-8) gehaltlos und wertlos; da er spricht: „Kaum wird Jemand für einen Gerechten sterben, für das Gute wagt es vielleicht noch Einer zu sterben; Gott aber preist Seine Liebe gegen uns, indem Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist!“ Ist Christus nicht Gott, welche Ähnlichkeit besteht denn zwischen der Gabe, die uns Gott in Ihm geschenkt hat, und der Hingebung eines Menschen, der für einen Andern sein Leben opfert? Wie könnte man noch aus jener Gabe mit dem Apostel den ergreifenden Schluss (im 8. Kapitel desselben Briefes V. 32) ziehen: „Gott, der Seines Eigenen Sohnes nicht verschont, sondern Ihn für uns Alle dahingegeben hat, sollte Er uns mit Ihm nicht Alles schenken?“ Stellt euch einmal vor, Abraham hätte auf dem Berge Moriah nur ein Schaf seiner Herde, oder etwa den treuesten seiner Knechte geopfert - konnte dann der Engel des Ewigen ihm zurufen: „Nun weiß ich, dass du Gott fürchtest“ - (1 Mose 22, 12). Ich weiß, dass du mein bist, du selbst und alles das deine! Und wie wäre es mit uns? Gesetzt, Gott hätte für uns den heiligsten der Menschen oder auch den erhabensten der Engel dahingegeben, könnte dann unser Herz, das immer in Unruhe, in Angst und Schwanken ist, mit ganzer Zuversicht zu Gott sprechen: Jetzt weiß ich es, dass Du mein bist und dass mit Dir alles mir geschenkt ist! Ist Christus nicht wahrhaftiger Gott, so mag es vielleicht wahr sein, dass ein Mensch, der vollkommene Mensch, der zentrale Mensch, wie man Ihn nennt, die Menschheit geliebt und sich für sie geopfert hat, um sie ihrer hohen Bestimmung entgegen zu führen. Aber in welchem Zusammenhang stünde die Liebe des ewigen Vaters mit diesem Opfer, welches Einer unseres Gleichen für uns gebracht hätte? Was hat Gott von dem Seinigen dazu getan? Wohl sehe ich einen Bruder, der seine Brüder liebt; aber ich finde in diesem Evangelium nicht mehr den Vater, der Seine Kinder liebt. Ja, es scheint mir, dass in einem solchen Erlösungswerk der Mensch mehr glänzt als Gott; und dabei hätte Gott, ohne etwas von dem Seinen dahinzugeben die ganze Verherrlichung für Sich in Anspruch genommen! So hätte also der böse Knecht im Gleichnis am Ende recht, der zu seinem Herrn sagt: „Du erntest wo du nicht gesät hast!“ Jesus (nach dieser Annahme ein bloßer Mensch) gibt Sich hin und verlangt Dank und Ehre nicht für Sich, sondern für Gott allein. Wessen ist hier die schöne und die edle Tat? Wahrlich eine solche Ordnung des Heils würde mich mit meiner Dankbarkeit und Huldigung vielmehr an das Geschöpf binden (denn Christus wäre ja nur Geschöpf) vielmehr als an den Schöpfer. Dann ist es der Mensch, der in dem Drama des Erlösungswerkes triumphierend hervortritt. Dann ist sie nicht so schlimm, wie die Schrift sagt, diese menschliche Natur, die eine so wunderbare Frucht hervorbringen konnte. Man spreche nicht mehr von dem Glauben als von dem Bande, welches den Menschen mit Gott vereinigt. Mein Glaube vereinigt mich dann nur noch mit dem Menschen. Bei dieser irrtümlichen Anschauung erbleicht und verschwindet nicht nur die Liebe des Vaters; auch die Liebe Jesu selbst verliert gerade das, was an ihr gemäß der apostolischen Lehre am meisten ergreifend und herzbewegend ist. Der heilige Paulus will die letzten Wurzeln der Eigenliebe und der natürlichen Eitelkeit aus dem Herzen ausrotten, und was sagt er in dieser Absicht den Philippern? „Ein Jeglicher sei gesinnt wie Jesus Christus auch war, welcher, ob Er wohl in göttlicher Gestalt war, Sich selbst entäußerte und nahm Knechtsgestalt an und ward gleich wie ein anderer Mensch.“ (Philipp. 2, 5-7). Diese freiwillige Entäußerung dessen, der die göttliche Herrlichkeit besaß und aus Liebe Sich herbeiließ Mensch zu werden, sie ist es, die der Apostel unserem von Natur selbstsüchtigen und eitlen Herzen vergegenwärtigt und einprägt, um die Herrschaft des Ich zu Nichte zu machen. „Das Ich,“ so hat Jemand gesagt1), „kann im Herzen des Menschen nur durch eine völlige Umwälzung vom Thron gestürzt werden.“ Diese Umwälzung ist die schwerste von allem, die sich in der Weltgeschichte vollziehen; sie ist ein Wunder, und ein Einziger besitzt die Kraft sie zu vollbringen, Er, den der heilige Paulus den Philippern vor Augen stellte. Nehmt es hinweg dieses Wunder der göttlichen Herablassung aus dem Leben Christi, welch' ein Christus bleibt euch dann übrig? Ein solcher, der aus dem Nichts ins Dasein tritt, der sich dann zur Heiligkeit erhebt und endlich zur Herrschaft sich aufschwingt, der durch Kämpfe, die allerdings höchst schmerzvoll sind, emporsteigt und immer höher steigt. Fürwahr in dem Allen finde ich nicht mehr, was mein Herz erschüttern und rühren und den Abgott der Selbstsucht in meinem Innern stürzen könnte! Ich trage in mir einen Menschen, der sich zum Gott zu machen trachtet. Soll dieser den Todesstoß bekommen, so kann dies nur geschehen durch den Anblick des Gottes, der aus Liebe Mensch geworden ist, um gleich mir als Mensch zu gehorchen, zu dienen und zu beten, um als Mensch auch mich in Seine tiefe Demut einzuführen.

Es sind wahre und tief bedeutsame Worte welche ein ehrwürdiger Bruder, der in dieser Versammlung anwesend ist2), eines Tages an die jungen Theologen der Fakultät unsrer unabhängigen Kirche in Neuchâtel gerichtet hat: „Niemand hat sich jemals wahrhaft Gott hingegeben, außer in Kraft jener Gabe, die Gott uns geschenkt hat, da Er sich selbst in Jesu Christo hingab.“

O, behandelt nicht dieses Dogma, ich beschwöre euch darum, als eine metaphysische Spitzfindigkeit! Nennt es nicht ein Dogma! Es ist eine Tatsache, die große, Alles entscheidende Tatsache in der geistigen Geschichte unseres Geschlechts. Es ist die vollkommene Offenbarung der göttlichen Liebe, die zugleich väterliche und brüderliche Liebe ist. Es ist die Grundlage unserer ewig gültigen Kindschaft, und zugleich die Vernichtung unserer falschen Größe. Es liegt darin die höchste Kraft, die Gott in Bewegung gesetzt hat, um das geistige Weltall wieder auf die wahren Grundlagen zu bauen, um selbst Seine Stellung als Beherrscher der Welt geltend zu machen, und zugleich die Kreatur in die ihr gebührende Stellung und in ihre Nichtigkeit zurückzubringen, um den Triumph der Liebe über den Stolz, Gottes über den Satan herbeizuführen.

Ich habe zweitens behauptet: sowie man der göttlichen Präexistenz Jesu Christi Abbruch tut, wird in gleichem Maße der Abscheu gegen die Sünde, der uns erfüllen soll, geschmälert.

Wohl mag es sein, dass der Tod des Erlösers auch dann noch, wenn man in Ihm nur einen schuldlosen Menschen zu sehen hätte, gewissermaßen die Tiefe der menschlichen Verkehrtheit aufdecken und Abscheu gegen dieselbe bei uns erregen könnte. könnte. Die pharisäische Heuchelei und die ehrgeizige Niederträchtigkeit erscheinen verbündet, um das größte Verbrechen der Geschichte zu vollbringen; darin liegt bereits etwas, wodurch das moralische Gefühl eines jeden Menschenherzens erregt wird. Der Anblick wird mich noch tiefer ergreifen, er wird mich demütigen und zur Reue stimmen, wenn ich die geheimnisvollen Worte der Schrift vernehme: für mich hat Er sich hingegeben; Er, mein unschuldiger Bruder, für mich den schuldbeladenen. Dies wird mich rühren, selbst wenn ich bis dahin nur einen Menschen in Ihm erblickt hätte. Wird mir dann das Erbarmen Gottes gegen die reumütige Menschheit und der Schrecken des zukünftigen Gerichts über die hartnäckigen Sünder verkündigt, so wird wohl der göttliche Unwille gegen das Böse auch in meinem Herzen einen Wiederhall finden. Doch wie ganz anders wird sich alles dies gestalten, wenn die Fülle der apostolischen Unterweisung über diese wunderbare und nie ganz zu ergründende Tatsache auf mich wirkt! Da erkenne ich in diesem von Liebe erfüllten Bruder, in diesem schuldlosen Opfer, in diesem Lamme Gottes, das vorher bestimmt ist vor Grundlegung der Welt (1 Petri 1, 20), den eingebornen Sohn, an dem der Vater ewiges Wohlgefallen hat, das schöpferische Wort, durch welches auch ich mein. Dasein empfangen habe, denselben, der in Bälde wieder erscheinen wird als mein Richter; ich schaue das göttliche Wort in diesem Dulder, den. Gott erwählt hat, dessen Sterben am Kreuz mir zeigt, was ich verschuldet, was ich verdient habe, und was unfehlbar mich treffen wird, wenn ich in meiner Sünde beharre; da erzittert meine Seele; da werde ich inne, dass Gott, der solches getan hat, um keinen Preis Frieden schließt mit. dem Bösen. Von da an ist die Sünde für mich nicht mehr eine verzeihliche Schwachheit; sie ist mein Todfeind, und eines von beiden muss. sterben und untergehen, entweder die Sünde oder ich. Da vollzieht sich in mir eine gewaltsame Scheidung, wie wenn von zwei Freunden der eine mit dem andern bricht auf immer. Da werden mir jene geheimnisvollen Ausdrücke des heiligen Paulus: Der Sünde gestorben sein gekreuzigt mit Christo „getauft in Seinen Tod“ zu einer mächtigen Wirklichkeit. Solches vermag ganz allein der Glaube an den wahrhaftigen Sohn Gottes, der für mich geopfert ist.

Keine andere Macht wäre im Stande, mich der unreinen Vergewaltigung durch die Sünde zu entreißen.

Der Gläubige stirbt in Christo der Sünde, er stirbt seinem eigenen Leben ab; aber er stirbt wie Christus, nicht um tot zu bleiben, sondern um wieder aufzustehen. Die Heiligkeit Christi, fein heiliges Leben schließt sich ihm auf, und durch den Tod und das Grab des alten Menschen dringt er hindurch in dieses Heiligtum. „Ich bin mit Christo gekreuzigt“, sagt der Apostel Paulus; „aber ich lebe; nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir; was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dargegeben.“ (Gal. 2, 20).

Diese Worte des Apostels sind der unvergleichlich schöne Ausdruck der dritten Wahrheit, von der ich zu reden habe: Alles was man abbricht von der wesentlichen und persönlichen Gottheit Christi, das entzieht man auch jener wahren und echten Heiligkeit, in der unsere herrliche Bestimmung besteht. Der Sohn Gottes hat mich geliebt! Christus lebt in mir! wunderbare Wahrheiten, zwei unzertrennliche Tatsachen: Der Sohn Gottes und Christus in mir. Ein bloßer Mensch könnte nicht in einem andern Menschen leben. Ein Mensch hinterlässt uns fein Andenken, sein Beispiel, seine Lehren. Aber er lebt nicht selbst in uns wieder auf. Wäre Jesus nur ein heiliger Mensch, ein vollkommener Mensch, der normale oder ideale Mensch, so würde die Heiligung der Christen notwendigerweise sich zu beschränken haben auf ein redliches Streben, Seine Vorschriften zu befolgen und Ihn nachzuahmen. Dann würde auch die Kirche nichts weiter sein als eine Vereinigung von wohlgesinnten Leuten, die sich zusammenfinden, um Gutes zu tun im Hinblick auf ihr Vorbild Jesum Christum. Zu dieser niedrigen Stufe sinkt unaufhaltsam die christliche Kirche, von der doch die Schrift so Herrliches aussagt, herab, sobald als man ihrem Haupte die göttliche Krone raubt. Glaubet vielmehr der Schrift und der Erfahrung, und erkennet es: die wahre christliche Heiligkeit ist mehr als ein Streben: und ein Sehnen des Menschen; sie ist eine Mittheilung Gottes an den Menschen, sie ist Christus selbst, der in uns wohnt durch den heiligen Geist. So nennt ja auch Paulus Christum nicht nur unsere Gerechtigkeit, sondern auch unsere Heiligung. (1 Kor. 1, 30). Und im Evangelium nach Johannes spricht Jesus selbst: „Ich will euch nicht Waisen lassen, Ich komme zu euch; an demselbigen Tage (da der Heilige Geist kommen wird) werdet ihr erkennen, dass Ich im Vater bin und ihr in Mir seid und Ich in euch, Wer Mich liebt, der wird von Meinem Vater geliebt werden, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen; Weil Ich lebe, werdet ihr auch leben“. (Joh. 14, 18. 20. 21. 23. 19). Wer muss Er sein, der in uns Wohnung macht durch den heiligen Geist, ja dessen Inwohnung zugleich die Inwohnung des Vaters ist! Ohne Mich könnet ihr nichts tun“, spricht Jesus; „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben; wer in Mir bleibt und Ich in ihm, der bringt viele Frucht.“ (Joh. 15, 1. 5). Der Tröster, der Heilige Geist, wird Mich verklären,“ (16, 14). Der göttliche Geist teilt nicht einen Menschen. an andere Menschen mit. Der göttliche Geist verklärt nicht einen Menschen im Herzen und Leben anderer Menschen. Der göttliche Geist verherrlicht ein göttliches Wesen, den Sohn, der seinerseits den Vater verherrlicht. So erfordert es der christliche Monotheismus, wie er in der Taufformel zusammengefasst ist. Dies ist zugleich das Geheimnis der christlichen Heiligung: die Heiligung ist Christus, und Gott in Christo, wohnend in uns durch den heiligen Geist. Und die Kirche? Sie ist nicht etwa nur ein freiwilliger Verein von aufrichtigen Nachahmern JEsu Christi; sie ist der mystische Leib Christi, das lebendige Werkzeug, das Er mit Seiner Fülle ausstattet; Er, in dem die ganze Fülle der Gottheit wohnt (Eph. 1, 23; Koloss. 2, 9), wie hoch überragt der göttliche Gedanke jene dürftigen Schranken, in welche der menschliche Gedanke ihn einzuschließen bemüht ist! Vinet, der Theologe, durch den sich die französische Schweiz geehrt fühlt, und der in dieser Stadt die ersten Strahlen des Lichts, das ihm in so reichem Maß zu Teil wurde, leuchten ließ, hat wenige Tage vor seinem Tod zu einem der hier anwesenden Brüder gesagt: „Es ist eine seltsame Niederträchtigkeit von Seiten des Menschen, das königliche Geschenk zu verschmähen, welches Gott uns gemacht hat, indem Er uns einen Christus gab, der zugleich Gott ist.“ Der Ausdruck Niederträchtigkeit lautet sehr herbe. Er bezeichnet das, was für Vinet selbst, gemäß seinen Überzeugungen, die Ablehnung des königlichen Geschenks gewesen wäre. Es wäre unbillig, das gleiche Urteil über einen jeden Einzelnen zu fällen. Tatsachen beweisen es, dass eine aufrichtige Frömmigkeit, eine ernste Liebe zu Christo, eine Bewunderung für Seine Person und Sein Werk auch bei einem solchen sich finden mag, der sich nicht entschließen kann mehr in Ihm zu sehen. als den vollkommenen Menschen. Ja, es gibt manche, die Ihm nur deswegen die höhere Würde nicht zuschreiben, weil sie fürchten, Er würde ihnen dadurch als wahrhaftiger und vollkommener Mensch verschwinden. Wo dieser herzliche Anschluss an Ihn vorhanden ist, mag auch schon jene Anschauung wohltätige Eindrücke hervorbringen. Als der HErr auf Erden wandelte, da genügte es, auch nur den Saum Seines Kleides anzurühren, um zu erfahren, dass eine Kraft von Ihm ausging. Jede Berührung des Herzens mit der Persönlichkeit Jesu führt der aufrichtigen Seele eine heilige Kraft zu. Indessen möge man wohl beachten, dass wir uns hier nicht mit den Bedingungen für das Heil der Einzelnen beschäftigen. Es handelt sich gegenwärtig von den Bedingungen für den Fortbestand des Christentums und seiner Wirksamkeit zur Erleuchtung und Heiligung der Menschheit. Es fragt sich, was aus dem Evangelium würde, wenn es eine so tief greifende Veränderung erlitte, wenn die Würde Christi darauf beschränkt würde, dass Er der normale Vertreter der Menschheit wäre? Könnte auch dann noch das Christentum seine Stellung als die allumfassende und absolute Religion, die es seit achtzehnhundert Jahren errungen hat, behaupten?

Es ergibt sich aus allem Gesagten, dass von dem Augenblick an, wo die Gemeinde Christi dieser Herabwürdigung ihres Hauptes zustimmen würde, verhängnisvolle Folgen eintreten müssten. Die Offenbarung Gottes auf Erden würde verdunkelt; mit der Demütigung des menschlichen Stolzes wäre es nichts; der Schrecken, den das Gewissen des Menschen vor der Sünde empfindet, würde abgeschwächt; und der Wohlgeruch der Heiligkeit, die das Evangelium hervorzubringen bestimmt ist, würde verduften. So würde in jeder Hinsicht der sittliche und religiöse Einfluss des Evangeliums in der menschlichen Gesellschaft und in der Kirche sinken.

Nach dem Allen habe ich nun noch zu untersuchen, welcher Art das weitere Schicksal des also entkräfteten Christentums sein würde. Dürfte man auch dann noch hoffen, dass es sich als Quelle aller wahren Gesittung bewähren, seine geistige Suprematie behaupten, und den Widersachern siegreich widerstehen werde, die es vor Zeiten überwunden hat und welche gegenwärtig die Sache Christi mit einem letzten Kampf bedrohen?

III.

Wer sind diese Gegner? Indem ich sie zu charakterisieren versuche, bitte ich euch im Sinne zu behalten, dass ich hier nicht im Namen Anderer, sondern nur in meinem Namen und auf meine Verantwortlichkeit ein Urteil abgebe. Diese Gegner sind, soweit meine Erkenntnis reicht, auf der einen Seite der heidnische Materialismus, auf der andern der jüdische Deismus.

Gewiss sind die meisten von denen, die in Christus nur den normalen, sittlich vollkommenen Menschen verehren, fern von irgendeiner Sympathie für den modernen Materialismus. Dennoch bleibt es wahr, wenn man nicht ihre persönlichen Gefühle ins Auge fasst, sondern die große Strömung der Gedanken, von der sie mit fortgerissen werden, dass eine nahe Verwandtschaft, die sie nicht ahnen, zwischen ihrer Anschauung und der materialistischen Richtung des Zeitalters besteht.

Oder ist es nicht richtig, dass überhaupt zwei entgegengesetzte Anschauungen über die Entwicklung des Weltalls bestehen? Nach der einen ist Alles im Aufsteigen, im Wachstum, im Fortschritt begriffen, und zwar durch eigene inwohnende Kraft. Bei dieser Ansicht gibt es nur ein allumfassendes Werden. Nach der andern Anschauung findet das Aufsteigen statt, nachdem zuvor ein Herabsinken, ein Fall stattgefunden hat. Bei dieser Weltanschauung herrscht die Idee des Seins; das Sein ist das Prinzip des Werdens.

Zufolge der ersteren Weltanschauung ist das höchste Ziel des Fortschritts, wenigstens bis jetzt, der Mensch, und zwar der vollkommene Mensch, wenn er überhaupt existiert. Dieser vollendete Mensch erscheint in diesem Fall als die vollkommen gezeitigte Frucht am Baume der Menschheit. Das Menschengeschlecht selbst stellt sich dar als Höhepunkt des organischen Lebens auf unserer Erde. Das organische Leben gilt als das bewunderungswürdige Ergebnis einer glücklichen Verbindung von physikalischen und chemischen Kräften. Diese endlich können nichts anderes sein als die mannigfachen Offenbarungen jener natürlichen Kraft, die ursprünglich der Materie innewohnt. Man sieht, dass diese Weltanschauung ein in sich zusammenhängendes Ganze bildet. Es ist eine Geschichte des Weltalls, in der Alles emporsteigt und nichts herabsteigt. Der Ausgangspunkt ist die ewige Materie; der Zielpunkt ist der Mensch, zunächst der Mensch an sich, dann der vollkommene Mensch, der Christus.

Wie könnte nun wohl bei einer solchen Auffassung des Christentums die materialistische Weltanschauung noch mit Erfolg bestritten werden, da (wie wir so eben gesehen haben) diese Vorstellung von Christus selber nichts anderes ist als das letzte Wort des materialistischen Gedankens? Ich wiederhole, es ist eine große Strömung, auf die ich damit hinweise; ich sage nicht, dass dieser oder jener die Folgerung ziehe, oder sich derselben bewusst sei.

Nach der entgegengesetzten Auffassung der gesamten Entwicklung geht alles aus von einem Wesen, welches nicht wird, sondern welches ist, nämlich von Gott. Alles Werden, alles Fortschreiten entspringt aus einer Reihe von göttlichen Taten und Offenbarungen. Durch eine erste Tat Seines Willens hat Gott die Materie mit ihren mannigfachen Eigenschaften gesetzt. Nachdem diese Materie genugsam ausgestaltet war, hat Er selbst in sie den Keim des Lebens gesenkt; denn das Leben kann nur ausgehen von einem Lebendigen. Von diesem Zeitpunkt an erfolgte die Entfaltung der organischen Zellen und durchschritt alle Stufen des Pflanzenreichs und des Tierreichs. Danach, als die Stunde für eine neue, aufsteigende Bewegung geschlagen hatte, ließ Gott inmitten des organischen Lebens, durch eine neue Schöpfungstat, das höhere Prinzip aufblühen, die vernünftige und freie Kreatur, den Geist, der Sein eigener Hauch ist. So erscheint der Mensch mit Selbstbewusstsein und mit der Kraft der Selbstbestimmung begabt, als Gottes Ebenbild. Als endlich dieser freie Wille, anstatt im Anschluss an den Willen Gottes zur Heiligkeit fortzuschreiten, sich in Empörung gegen seinen Urheber auflehnt, da schöpft Gott aus der Fülle Seiner Liebe und Seines Erbarmens eine höchste Offenbarung und Selbstmitteilung die Er gewiss auch der gehorsamen und treugebliebenen Menschheit nicht versagt, die Er aber in solchem Fall wohl in eine andere Gestalt gekleidet hätte.

Er schenkt der Welt Sein zweites Ich. Auf den alten Stamm des gefallenen Menschengeschlechts. wird der Erlöser gleichsam eingepfropft, und durch Sein Leben, Sein Sterben und Auferstehen richtet Gott die Menschheit aus ihrem Falle wieder auf Er vollbringt dadurch noch Größeres. Er erhebt sie zur persönlichen und vollkommenen Vereinigung. mit Ihm selbst, zuerst in der Person Christi, dann durch Ihn in der unsrigen.

Dies war das von Ewigkeit her vorgesehene und gewollte Ziel. So ist die Menschwerdung des Sohnes Gottes das letzte Wort für die monotheistische Weltanschauung, gemäß welcher die großen Phasen des Fortschritts, eine jede durch eine freie Tat der göttlichen Initiative hervorgerufen werden.

Also auf der einen Seite: ein Mensch, der zum Gott wird, ein vermeintlicher Christus, wie er dem Zeitgeist zusagt. Man hat richtig bemerkt: Sein Auftreten gleicht einem Glücksfall. Auf der andern Seite: Gott, der freiwillig Mensch wird; der Christus des lebendigen Monotheismus; das Wunder der göttlichen Liebe.

Nehmen wir nun an, es gelänge jener verfehlten Auffassung des Christentums, sich loszureißen von der erschreckenden Verwandtschaft mit dem modernen pantheistischen Geist, so wird ihr alsbald ein zweiter, noch gefährlicherer Feind begegnen, nämlich der jüdische Deismus. Sprechen wir von diesem Gegner, so werden vielleicht Manche von Euch darüber lächeln, dass wir im Judentum eine Gefahr sehen. Was den jüdischen Namen trägt, scheint ihnen gefahrlos für die Kirche zu sein. Zwar sagen sie nicht: „Was kann von Nazareth Gutes kommen?“ wohl aber denken sie: „Kann von dort etwas Gefährliches stammen?“ Indessen stelle ich diesem geringschätzigen Lächeln ein anderes gegenüber, und zwar das Lächeln der gebildeten Israeliten. Diese sehen, wie wir Christen uns um die Verbreitung des Evangeliums bemühen; wie wir Missionsgesellschaften und Missionshäuser gründen; wie wir Boten des Christentums zu den Muhammedanern und Heiden senden, und die Religion der Bibel bis an die Enden der Erde tragen. Sie beobachten dies Alles, und sagen ganz ruhig: diese Religion ist die unsrige. Alle diese Arbeit wird für uns getan; wir werden die Früchte ernten von den Summen, die hier verwendet, und von den Menschenleben, die hier aufgeopfert werden. Denn der Gott der Christen ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs; Er ist der Gott der Juden. Die Lehre Jesu ist keine andere als die unserer Propheten. Ein einziger Punkt scheidet uns von diesen Christen: die Anbetung Christi. Dieses absurde Dogma von der Göttlichkeit eines Menschen, dieser Widerspruch gegen die höchsten Grundsätze des Monotheismus, dieser letzte Überrest des alten Heidentums bei den Christen muss fallen - dann ist das also geläuterte Evangelium nichts anderes als unser Judaismus. Also, ihr Christen, wir erwarten euch. Wir gehen nicht zu euch, aber ihr werdet ganz sachte zu uns kommen. Möge es bald geschehen! So denken die scharfblickenden Juden und mitunter sprechen sie es auch aus. Was machen also jene Lehrer, die in unserer Mitte darauf losarbeiten, die Würde Christi herabzusetzen auf das Maß eines bloßen, wenn auch normalen Menschen? Sie erfüllen, ohne es zu ahnen, die Erwartung und das gierige Verlangen des Judentums; sie arbeiten, ohne es zu wollen, daran, die Christenheit dem Judentum auszuliefern. Das wäre allerdings das Mittel jenen alten Feind zu beschwichtigen, aber nicht über ihn zu triumphieren. Fahrt nur fort, ihr blinden Leiter der Blinden! Untergrabt bei unseren christlichen Bevölkerungen den Glauben an die Gottheit Christi, und bald wird der Boden bereitet sein für das Auftreten der letzten Monarchie, des jüdischen Weltreichs, und für die Erscheinung des fleischlichen Christus, in welchem jenes unheimliche Reich gipfeln und sich personifizieren wird.

IV.

Als der heilige Johannes gegen Ende des ersten Jahrhunderts Zeuge sein musste der ersten feindlichen Anläufe von Seiten der heidnischen Weltmacht und des anhebenden Unheils, welches die Irrlehrer anrichteten, schrieb er an die Christen. seiner Umgebung: „Wer ist es, der die Welt überwindet, ohne der da glaubt, dass Jesus Gottes. Sohn ist?“ (1 Joh. 5, 5). Sollte dieses Losungswort, stammend von dem Apostel, der sich an die Brust des HErrn gelehnt hatte, für unsere Tage seine Gültigkeit und Kraft verloren haben? Sollte die Kirche das Geheimnis ihres Sieges nicht mehr finden in dem Glauben an die Gottheit ihres Hauptes?

„Wenn einst der Arianismus den Sieg davon getragen hätte, so wäre es um das Christentum geschehen gewesen.“ Dies sind Worte des hervorragenden Theologen, welcher jüngst den Christen Frankreichs die Geschichte der drei ersten Jahrhunderte der Kirche geschildert hat; und fürwahr, dieser Ausspruch gilt ebenso für den neuen Sozinianismus unserer Tage wie von dem Arianismus der alten Zeit. In dem Augenblick, wo man Christo Seine göttliche Natur abspricht, raubt man dem ganzen Christentum seinen endgültigen Charakter. Dann ist der Christianismus nach dem Ausdruck eines französischen Philosophen (Cerminier) nur noch einer „von den Tagen der Menschheit,“ nur eine Haltstelle auf der großen Straße des Fortschritts, der dann früher oder später bei einer neuen Stufe anlangen wird. So werdet ihr jenem Andern die Türe öffnen, den das fleischliche Herz des natürlichen Menschen herbei wünscht, den Jesus mit diesen Worten angekündigt hat: „Ich bin gekommen in Meines Vaters Namen, und ihr nehmt Mich nicht an; so ein Anderer wird in seinem eigenen Namen kommen, den werdet ihr annehmen.“ Joh. 5, 43. Welch' ernste Drohung, welch' düstere Zukunft liegt in diesem Worte! Wir sind gewarnt, geliebte Brüder, gewarnt durch unsern HErrn und Meister; so lasst uns denn wachen und auf unserer Hut sein!

Man hat bereits in Erinnerung gebracht, dass diese Stadt, die uns in diesen Tagen so gastfreundlich empfängt, vor Zeiten Zeuge war einer andern Versammlung, die, viel wichtiger als die unsrige, eine amtliche Vertretung der Kirche bildete. Jenes Konzil von Basel war berufen, die usurpatorische Gewalt, welche damals die Kirche tyrannisierte, in ihre Schranken zurückzuweisen und der Kirche das unverlierbare Recht der Selbstverwaltung wieder zu erringen.

Unsere Aufgabe, die wir hier vereinigt sind, als Vertreter der verschiedenen Gemeinschaften, die zu dem mystischen Leibe Christi auf Erden gehören, ist bescheidener und von ganz anderer Art, als die Aufgabe jener Kirchenversammlung war. Wir haben keine amtlichen Entscheidungen zu treffen, durch welche dem Gang der Christenheit eine neue Richtung angewiesen würde. Wir haben Niemand vom Amte zu entsetzen oder von einem Joche zu befreien. Aber wir haben eine Aufgabe zu erfüllen, an der wir ein Jeder persönlich, innerlich und in unmittelbarer Beziehung zu dem HErrn, uns beteiligen müssen, eine Aufgabe, zu deren Erfüllung ich euch in dieser Stunde einlade: Wir Alle zusammen und ein Jeder von uns insonderheit wollen vor Ihn treten, der das Haupt der Kirche ist und zu Ihm sprechen: Mein HErr und mein Gott! siehe hier bin ich zu Deinen Füßen! ich bete Dich an! Lass Dir gefallen meinen Dienst, um jenes Evangelium aufrecht zu erhalten, welches Du Deinen Aposteln gegeben hast und welches sie Deiner Kirche überliefert haben. Bediene Dich meiner Stimme, bediene Dich meines Lebens; mein ganzes Wesen sei in Deinen Dienst gestellt, um Deiner über alles erhabenen göttlichen Liebe zu huldigen und bis an mein Ende Deine ewige Gottheit zu verkündigen!

Ihm, Der da gestern und heute und in Ewigkeit Derselbe ist, sei Ehre in Seiner Kirche, wie in den vergangenen Zeiten, so an diesem Tage und in alle Ewigkeit.

Thesen.

1) Die Unwandelbarkeit des apostolischen Evangeliums gilt ganz besonders von dem, was die Apostel von der Person Christi bezeugen.

2) Der persönlichen Gottheit des Erlösers, wie die Apostel sie lehren, kann kein Abbruch getan werden, ohne dass daraus eine Abschwächung der religiösen und moralischen Kraft des Evangeliums folgt.

3) Also entkräftet würde das Christentum außer Stande sein, seine alten Widersacher, den heidnischen Materialismus und den jüdischen Deismus, siegreich zu bekämpfen.

4) Demnach ist es die unerlässliche Pflicht der evangelischen Christen, ein lautes Zeugnis für die persönliche Gottheit des Hauptes der Kirche abzulegen.

1)
In der Zeitschrift l'Eglise libre.
2)
H. Pastor Fisch aus Paris.
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autoren/g/godet/godet-die_goettliche_wuerde_christi.txt · Zuletzt geändert: von aj
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