Girgensohn, Thomas - Zur Erbauung - Es muss erbeten sein.
Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie mich leiten und bringen zu deinem heiligen Berge und zu deiner Wohnung.
(Psalm 43, 3.)
Wenn es schon von allen irdischen Gaben Gottes gilt: mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigener Pein lässt Gott sich gar nichts nehmen, so soll man es in Bezug auf die himmlischen Segensgaben, die Gott uns durch sein Wort zuteilt, erst recht beachten: es muss erbeten sein. Indem nun die vorstehenden Psalmworte uns zusammenfassend in Erinnerung bringen, welchen Segen wir von Gottes Wort erwarten dürfen, werden diese Worte zu einem Mustergebetlein, das beim Gebrauch des Evangeliums immer in Anwendung kommen sollte. Vor allem ist es Licht, was durch das Wort Gottes in unsere Herzen dringen soll; Jesus Christus nennt sich als den Verkündiger des Wortes und als den Kern und Mittelpunkt des Wortes das Licht der Welt; ein Freudenlicht, ein erwärmendes, Leben weckendes Licht soll uns das Wort von der in Christo erschienenen Gnade Gottes sein. Das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis haben es nicht begriffen (Joh. 1, 5). Da muss der Geist Gottes zuerst in dem finsteren Herzen das Verlangen erwecken, dem Rufe zu folgen: kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Und wenn dieses Verlangen zu kommen, ja das innere, verborgene Kommen des Herzens selbst sich Ausdruck verschafft hat in dem Gebet: sende dein Licht, dann kann der Heiland seine Verheißung erfüllen: ich will euch erquicken und einen hellen Schein in die Herzen geben. Es soll uns durch das Wort gegeben werden das Licht der Wahrheit; das Licht der Erkenntnis von Gottes Heilsgedanken. Aber wiederum heißt es: der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes; das Wort vom Kreuz ist ihm eine Torheit, und kann es nicht verstehen. Nur wo derselbe Gottesgeist uns gezeugt hat nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit (Jak. 1, 18), so dass wir aus der Wahrheit sind und nach der Wahrheit verlangen und solches Verlangen aussprechen in dem Gebet: sende dein Licht und deine Wahrheit, da hören wir die Stimme der Wahrheit. Wir bleiben dann an der Rede Jesu und werden die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird uns frei machen (Joh. 8, 31, 32). Ja, die Wahrheit, die uns Gottes Wort bietet, erleuchtet nicht bloß den Verstand, gibt nicht bloß Erkenntnis, sondern macht frei, frei vor allem von der Sünde und dadurch auch von allem Übel, indem sie uns, wie die vorstehende Psalmstelle sagt, leitet zu Gottes heiligem Berge und zu seiner Wohnung. Gottes Wort gibt uns also Kraft zum rechten Wandel, lässt uns erkennen und erfahren die Fügungen Gottes in unserem Leben, belebt die Hoffnung auf unser himmlisches Ziel, kurz, es bietet uns ein Lebenslicht in Christo, der als der gute Hirte bei uns ist und dem wir nachfolgen. Aber nochmals des natürlichen Menschen Sache ist es doch wahrlich nicht, Christo nachzufolgen, mit ihm zu sterben und allem abzusagen; wer Arges tut, der hasst das Licht (Joh. 3, 20). Nein, Gottes Geist mit seiner wiedergebärenden Kraft muss erst im Herzen schaffen das Wollen, das Verlangen, Gottes Willen zu tun; und wer in diesem Sinne die Wahrheit tut, der kommt an das Licht, kommt zu Jesu, hängt ihm an; spricht aus der Wahrheit: ich will dir nachfolgen, und betet nun auch im Geist und in der Wahrheit, sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie mich leiten und bringen zu deinem heiligen Berge und zu deiner Wohnung. Wie sollte nun der Herr einem Solchen nicht halten, was er versprochen? Jesus Christus wird durch sein Evangelium zu solchem Beter kommen und ihn geleiten und tun nach dem Wort (Joh. 8, 12): Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. Gottes Wort aufnehmen und beten, können und dürfen wir nimmermehr von einander trennen; mit Lesen, Hören, Denken, mit mühseliger geistiger Arbeit, mit Sorgen und mit Grämen über diese schwierige Stelle und jenen unverständlichen Spruch allein empfangen wir noch nicht den Reichtum des Segens, der im Evangelium verborgen ist; selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden; es muss erbeten sein.
R. K. 93. Nr. 45.