Girgensohn, Thomas - Eine Osterverheißung.
Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt, und ich in ihm, der bringt viele Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.
(Joh. 15, 5.)
„Ihr werdet viele Frucht bringen“, das ist die Verheißung, die der Herr in den vorstehenden Worten seinen Jüngern gibt; diese Verheißung ruht auf dem festen Grunde: ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben, und darum ist es eine Osterverheißung, weil Jesus durch seine Auferstehung sich dargestellt hat als der Weinstock. Durch die Auferstehung ist Jesus geworden der allgegenwärtige Herr und Heiland, an den alle sich anschließen, mit dem alle sich verbinden können, wie die Reben mit dem Weinstock. In der Auferstehung kommt der wahrhaftige Hohepriester, nachdem er mit seinem Blut eingegangen in das himmlische Heiligtum zum Vater, zu seinem Volk zurück, um allen denen, die sich mit ihm verbinden lassen, zu schenken seine Gerechtigkeit, wie der Weinstock den Reben Anteil gibt an seiner Art und an seinem Wert. Mit der Auferstehung beginnt der Herr tatsächlich jenes Wort in Erfüllung zu bringen: ich lebe und ihr sollt auch leben, Leben zu spenden seinen Jüngern, wie der Weinstock seinen Reben zuströmt Kraft und Lebenssaft. Nun kann auf Grund des Osterwunders für diejenigen, die mit ihm eins geworden sind in der Taufe, die seine Gerechtigkeit ergriffen haben im Glauben, die aus seinem Worte Geist und Leben empfangen, erst die Rede davon sein, dass sie Frucht bringen; es ist das eben eine Osterverheißung. Ohne ihn können sie nichts tun, nichts hervorbringen, was den Namen einer Frucht verdient, die Gott wohlgefällig ist und den Menschen zum Segen gereicht. Da sie aber zur Freiheit geschaffen und durch die Verbindung mit Christo zur Freiheit erneuerte Menschen sind, so muss der Herr mit der Verheißung jene ernstliche Mahnung verbinden: Wer in mir bleibt, und ich in ihm, der bringt viele Früchte. Und doch ist diese Mahnung wiederum mit der Verheißung verknüpft, damit sie uns nicht erscheine als ein forderndes Gesetz, sondern eine freundliche Einladung durch Bleiben in Christo den Segen zu gewinnen, dass wir viele Frucht bringen. Ja, es ist der überschwänglichste Segen, die Fülle der Gnadengaben, was der Herr uns vorhält mit dem Wort „viele Frucht“; sollten wir uns nicht locken lassen, in ihm zu bleiben, wenn wir ermessen, was das heißt: der bringt viele Frucht. Wer Frucht bringt, in dem wächst und entfaltet sich der aus Christo geborene neue Mensch, der nimmt zu an Weisheit, Freude und Kraft und reift dem Ziele entgegen, wo es heißen wird: das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden. Frucht sind alle die Werke, die aus dem in der Liebe tätigen Glauben geboren, zur Ehre Gottes getan werden und zum Bau seines Reiches beitragen, Frucht ist all' der Segen, der von denjenigen, die in Christo bleiben, auf ihre Mitmenschen kommt und einst zu unaussprechlicher Freude der Segensspender ans Licht kommen wird, wenn ihre Werke ihnen nachfolgen. Frucht ist der verklärte Leib, der aus dem in die Erde gesenkten edlen Samenkorn hervorblühen und das Bild des Himmlischen an sich tragen wird, Frucht, die der Herr verheißt, ist das Schauen seines Angesichts, das Schauen des neuen Himmels und der neuen Erde. Wenn uns die Predigt von der Passion aufruft, dem Herrn anzugehören um deswillen, was er für uns getan hat, so mahnt uns die Osterbotschaft mit ihrer Verheißung, in Christo zu bleiben auch um deswillen, was er noch an uns tun will nach seiner unergründlichen Barmherzigkeit, nämlich dass wir viele Frucht bringen.
R. H. 94. Nr. 17.