Geßner, Georg - Noah oder die Arche - Vorrede.
Die heilige Geschichte des Alten Testaments und namentlich die ersten Züge und Darstellungen des Planes Gottes zur Führung des Menschengeschlechtes, werden nicht eben oft zum Gegenstande von Kanzelreden gemacht. Es ist auch allerdings wahr, daß sich dem christlichen Prediger in den eigentlichen, nähern Quellen des Christenthums Geschichtsstoffe anbieten, die in ihrer Fülle des Lehrreichen ungefähr so von jenen abstehen mögen, wie die Begebenheiten aus dem Leben eines Mannes in seiner wirksamen Kraft, gegen die, welche seinen Kinderjahren enthoben sind. Dennoch, wer blickt nicht auch gern, und selbst mit Frucht und Nutzen in die Kinderjahre, in seine eigenen zurück, oder in fremde hinein? Wer sieht nicht allemal mit wirklicher Belehrung und Erweckung, mit Warnung oder Ermunterung in die früheste Jugendgeschichte eines Menschen, der im Fortgang seines Lebens zum bedeutenden Manne geworden? Zuverläßig liegen nicht nur schon die Keime, wenn auch noch unentfaltet, in dem kindlichen Geist und Gemüthe; und wenn sie auch vor ihrer Entfaltung vielleicht noch kaum ahnen lassen, was aus ihnen sich entwickeln wird, so lassen sie sich, nachdem sie entfaltet sind, nachweisen, und es wird klar, daß sie sich unter den gegebenen Umständen auch gerade so entwickeln mußten.
Mit der Geschichte des Menschengeschlechtes und seiner Erziehung ist es eben nicht anders; und als eine wirkliche Geschichte des Menschengeschlechtes in Hinsicht auf die Führungen Gottes mit ihm, und die Offenbarungen Gottes an dasselbe ist die biblische Geschichte anzusehen. Geht es doch da allerdings nach einem festen, fortschreitenden Plane, der zwar oft scheint so unterbrochen zu werden, daß man den Faden nicht mehr meynt finden zu können; und dennoch wird er immer wieder recht klar und der Zusammenhang einleuchtend. So muß es aber in einer Vorsehungs-Geschichte allerdings seyn, sonst wäre sie nicht Vorsehungsgeschichte. Oder wo sehen wir es bey unsrer Kurzsichtigkeit je anders in den Wegen der göttlichen Vorsehung? Ein stetes Winden von Knoten und wieder die Lösung derselben; recht dazu geeignet, um den Glauben auf der einen Seite zu üben, und auf der andern ihn zu heben und zu starten. So ist das Vorsehungsvolle in der Geschichte des Einzelnen, in der Völkergeschichte und in der Geschichte der gesammten Menschheit immer gestaltet.
Die Bibelgeschichte ist zwar Menschengeschichte, aber blos aus dem Standpunkte der religiösen und moralischen Bildung betrachtet, wiefern sie durch die Einwirkung und Offenbarung der Gottheit geleitet und bewirkt wurde.
In dem Abschnitte, welcher den Stoff der vorliegenden fünf Kanzelreden ausmacht, erscheint beym ersten Anblick allerdings ein beynahe gänzliches Zerreissen des Planes, der darauf angelegt schien, das junge, wachsende Menschengeschlecht schnell sich ausbreiten zu lassen. Und nun mit einmal - Zerstörung, Vertilgung des ganzen Geschlechtes, bis auf Einen Stamm; auf einen zweyten Stammvater wieder zurückgeführt das ganze Geschlecht, das schon in die vielen Tausende mußte erwachsen seyn.
Aber eben in diesem Einen Stammvater liegt auch der abgerissen scheinende Faden ganz unzerrissen. Das Menschengeschlecht hatte sich durch schrecklichen Mißbrauch seiner jungen frischen Kraft, durch Ueppigkeit, Wollust, Stolz, Tyrannen so geschändet, daß Unverbesserlichkeit das einzige Wort ist, um ihren ausgearteten Charakter zu bezeichnen. Der Rathschluß Gottes bestimmt ein ausmachendes Gericht über diese Versunkenen, weil in dieser Welt nur neue Häufung von Gräueln auf Gräuel zu erwarten war… In dieser Welt… Dank sey es dem ersten Apostel Christi, daß er uns den Wink giebt, daß auch diesen, zum Aeonen langen Gefängnisse reif Gewordenen noch Rettung durch Evangeliums-Verkündung angeboten ward. l. Pet. 3,19.20. Noah mit den Seinen rettete das Daseyn des Menschengeschlechtes auf Erden.
Der Plan Gottes schien also nur, aber er war nicht gestört. Indessen liegt wohl auch darin Wohlthat, daß von diesem Zeitpunkt an die Bestimmung der Lebensdauer der Menschen mächtig beschränkt, und damit auch der Gewalt der Sünde und des verwüstenden Verderbens Einhalt gethan ward.
Herders Erklärung des göttlichen Ausspruchs: „Seine Tage werden hundert und zwanzig Jahre seyn“, hat allerdings sehr viel für sich. Gewöhnlich nimmt man an, daß diese hundert und zwanzig Jahre eine Zeitfrist seyen, welche noch bis zu den angedrohten Gerichten den Menschen zur Besserung sollte vergönnt seyn. Wird dieser Ausspruch als dem Noah gegeben angenommen, was doch das Wahrscheinlichste ist, so dauerte es von dem an, da dieser Ausspruch ergieng, bis zu der Sündfluth nicht mehr 120 Jahre. Noah hatte schon 500 Jahre gelebt, als ihm seine drey Söhne geboren wurden. 1. Mos. 5,32. Und dieser Söhne und ihrer Weiber Rettung wurde dem Noah mit der seinigen zugesagt, und schon in den ersten Tagen des sechshundertsten Altersjahres Noah brach die Sündfluth ein. Man kann also mit der Erklärung nicht auskommen, daß es 120 Frist Jahre gewesen seyen; es wäre denn, daß man mit einigen Auslegern annehmen wollte, daß diese Ankündigung des ausmachenden Gerichtes, 1. Mos. 6,3. der Aufforderung zum Bau der Arche lange vorhergegangen, vielleicht selbst an jemand andern, als an Noah, wäre gegeben worden. Die angeführte Stelle, die der Aufforderung zum Bau der Arche vorangeht, 1. Mos. 6, 3. läßt zwar diese Erklärung zu; allein wahrscheinlicher schloß sich doch die Ankündigung des Gerichtes und die Aufforderung zum Bau an einander an; und so versteht es auch Herder, der in seiner „ältesten Urkunde des Menschengeschlechtes“, Pag. 192 und 193, sagt:
„Höret den Vater-Entschluß Gottes: „Mein Geist soll nicht mehr mit den Menschen rechten, dieweil sie Fleisch sind; abkürzen will ich ihr Leben, ihre Tage sollen künftig seyn Hundert und zwanzig Jahre. Es geschah durch die Sündfluth, und sehet da einen Hauptzweck der Sündfluth: dem Menschen die Frist seiner Gräueljahre zu kürzen, ihm eine Welt voll Stoff zu Abscheulichkeiten zu rauben.
Stelle man sich die Ewigkeit, das halbe Jahrtausend vor, zu dem damals die Natur der Göttersöhne Stoff und Lebenskraft verlieh; den Schlamm, in dem man sich mit solchen Kräften und in solchem Zeitraum badete, überdrüssig quälte, verjüngte und die ganze Schöpfung betrübte!
Gott sah auf Erden; sie war verderbt; denn alles Fleisch hatte seinen Weg verderbt auf Erden. Alles Fleisches Ende ist vor mich kommen, denn die Erde ist voll Frevels von ihnen; ich will sie verderben mit der Erde! Siehe die reinigenden Wasser der Sündfluth! Sie spühlte Unflath weg, der Alles durchdrungen, Alles vergiftet hatte, und in der damaligen Ewigkeit, in der Gottes- und Lebenskraft der Menschen Stoff fand.
Wenn der Patriarch Jakob schon schaamroth sprach: Die Zeit meiner Wallfahrt ist hundert und dreyssig Jahre; wenig und böse waren die Tage meines Lebens, und langten nicht an die Tage meiner Väter in ihrer Wallfahrt, was sollen wir sagen? - Es ist wahre Wohlthat! Von welchen Teufeln würde unsre Erde bewohnt seyn, wenn unsre Klugheit sich mit Götterstärke und Götterjahren paarte? Drum sind wir Kinder, und welken dahin - der Zaum für unsre Fleischlichkeit und Bosheit.
Gerne nahm ich diese Bemerkungen hier auf - aber in die Kanzelreden gehörten sie nicht, wenn ich gleich sie den Lesern derselben zum eigenen Nachdenken darüber hier hinstelle. Daß Gott jenem Menschen-Geschlechte, wenn auch jene hundert und zwanzig Jahre nicht Fristjahre von der Ankündigung des Gerichtes, bis zum Gerichte selbst, gemeynt sind, dennoch Zeit genug zur Besserung, und Warnungen genug zu Theil werden ließ, das ist ohnehin durch die Geschichte ausser Zweifel gesetzt.
Bey der Behandlung der Geschichte in den Reden selbst war nur das mannichfache Praktische, der Blick auf Gott und Menschen, auf das Allanwendbare, das zum Glauben und Gehorsam Ermunternde, und das vor Gottesvergessenheit und Laster Warnende, mein eigentlicher Stoff. Dies an Geschichten, und namentlich an die Geschichte anzuknüpfen, die mit dem Plane Gottes in der Führung der Menschheit verwoben ist, welcher Prediger hat dies nicht immer in mehrfacher Rücksicht wohlgethan und bewährt erfunden?
Gar nicht daß ich damit sagen wolle, die heilige Geschichte soll in Kanzelvorträgen nicht auch als zusammenhangende Geschichte behandelt werden; wenn gleich manche historische Erörterung und Auseinandersetzung nicht auf die Kanzel gehört, so ist es doch auch ausser Zweifel, daß Geschichte nur wie Fabel und Mythos zu behandeln, um allenfalls die auffallende Lehre herauszuheben, oder eine minder auffallende sinnreich hineinzulegen, und das geschichtlich Wahre vielleicht gar zu verdächtigen, gewiß nicht wohl gethan, und des christlichen Predigers unwürdig ist.
Es giebt eine Art der Behandlung biblischer Geschichte in Predigten, welche nicht nur die Aufmerksamkeit und das Gemüth sehr stark anspricht, theils hohes Interesse für die Geschichte, ihren Werth und ihre Wahrheit, theils tiefes Gefühl für die darin vorkommenden Charakterzüge zur Belehrung, Ermuthigung, Anziehung oder Abschreckung erweckt, sondern auch den Zuhörer lehrt, die Bibelgeschichte selbst, ihren Zusammenhang, und, wenn ich so sagen mag, das Göttliche ihrer Verkettung richtig aufzufassen.
Und wenn wir, wie billig, des Evangeliums Geschichte und Lehre zum gewohnten, fortgehenden Gegenstand unsrer Predigten machen, so liegt es wenigstens in meinen Erfahrungen, daß zuweilen ein Unterbrechen des gewohnten Ganges durch einen Blick in die frühere Bibelgeschichte des alten Testaments, auch in die Urgeschichte der Menschheit, die Aufmerksamkeit wohlthätig in Anspruch nehmen, und Erbauung schaffen kann.
Daß ich diese kleine Sammlung von Predigten dieser Art, die übrigens, mir selbst zuerst, manches zu wünschen übrig lassen, nachdem sie dem kleinen Publikum meiner Zuhörer sind vorgetragen worden, noch dem größern Publikum vorlege, das geschieht wahrlich eben so wenig aus Anmaßung, als daß ich mich darüber möchte zu entschuldigen versuchen; indem wer sie gerne lesen mag, dieser Entschuldigung leicht entbehren wird, und wem sie nicht zusagen, der laßt sie ungelesen. Stiften sie aber auch nur hie und da einiges Gutes zur Förderung eines Wandels, wie der des Noah war zu seinen Zeiten, so will ich es von Herzen dem danken, der sich an jenem Stammvater so herrlich und so gnadenvoll erwies, und dessen Gnade ewig dieselbe ist gegen Alle, die Ihm vertrauen und Ihm gehorchen.
Schon Petrus sah ja in jener Rettung aus der Wasserfluth ein Bild der Taufe, die uns jetzt rettet, (nämlich nicht in so fern sie den Körper reinigt, sondern in so fern wir ein gewissenhaftes, Gott wohlgefälliges Leben angeloben,) weil Jesus Christus auferstanden, der, aufgefahren in den Himmel, zur Rechten Gottes ist, und dem die Engel-Gewalten und Mächte unterworfen sind.
Zürich, den 14. April 1823.
Der Verfasser.