Gess, Wolfgang Friedrich - Bibelstunden über den Brief des Apostels Paulus an die Römer - Fünfter Abschnitt. Wie die Gerechtigkeit aus Gott in Jesu Christi Tod begründet worden ist 3, 21-26.
21. Nun aber ist ohne Gesetz Gerechtigkeit aus Gott an das Licht gestellt worden, bezeuget von dem Gesetz und den Propheten, 22. Gerechtigkeit aber aus Gott, mittelst des Glaubens an Jesum Christum, zu Allen hin und über Alle her, welche glauben. 23. Denn es ist hier kein Unterschied, denn sie haben allzumal gesündigt und ermangeln der Herrlichkeit aus Gott 24. und werden gerecht gesprochen geschenkweise durch seine Gnade mittelst der Loskaufung in Christo Jesu, 25. welchen Gott in die Mitte gestellt hat als Sühnmittel durch den Glauben, in seinem Blut, zur Erweisung seiner Gerechtigkeit, wegen der Vorbeilassung der Sünden, welche zuvor geschehen sind während der Geduld Gottes, 26. zur Erweisung seiner Gerechtigkeit im jetzigen Zeitpunkt, auf dass er sei gerecht und gerechtsprechend den, der aus dem Glauben an Jesum ist.
1.
Mit „Nun aber“ beginnt dieser Abschnitt. Nachdem bisher so manche Woge des göttlichen Zornes über die Welt gegangen und so viel Zorn für den künftigen Gerichtstag aufgehäuft worden, auch so mancher Versuch durch Gesetzeserfüllung die Gerechtsprechung zu erlangen vergeblich geblieben, habe der barmherzige Gott eine neue Zeit heraufgeführt. Auch in Athen hat Paulus die bisherige und die nunmehrige Zeit einander gegenübergestellt, „nun aber gebeut Gott allen Menschen Buße zu tun“ Apg. 17, 30. Hauptsächlich ist zu vergleichen was er den Galatern schreibt von dem was geschehen ist „da die Zeit erfüllt war“ 4, 4.
2.
„Nun aber ist ohne Gesetz Gerechtigkeit Gottes an das Licht gestellt worden. . . ., Gerechtigkeit aber Gottes“ Vers 21 f. In 1, 17 haben wir gelesen: Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium geoffenbart: Zeitform der Gegenwart. Jetzt lesen wir: Gerechtigkeit Gottes ist an das Licht gestellt worden: Zeitform der Vergangenheit. Denn in 1, 17 ist die Rede von den Taten Gottes welche er, seit die Apostel das Evangelium verkündigen, fort und fort vollbringt, dass er, so oft Menschen zum Glauben gelangen, seine Gerechtigkeitsgabe aus ihrem Glauben hervorspringen lässt. In 3, 21 aber ist die Rede von der Einmal für immer auf Golgatha von Gott vollbrachten Tat, dadurch er Gerechtigkeit aus ihm für alle Zukunft ans Licht gestellt, in die Weltgeschichte hineingestellt hat. Alle die Offenbarungen von Gerechtigkeit, deren in 1, 17 Erwähnung geschieht, ruhen auf der in 3, 21 gemeinten Offenbarung. Wie wenn in einem Mittelpunkte ein ewiges Feuer angezündet würde, von welchem aus dann Tag für Tag dahin, dorthin die Funken sprühen.
„Ohne Gesetz“ ist Gerechtigkeit an das Licht gestellt. Also nicht wie vom Sinai her, da Gott die Forderungen stellte, deren Leistung den Menschen das Gerechtsein vor seinen Augen erwerben würde. Gott fordert nicht wieder, die Menschen sollen Nichts leisten. Dafür ist es aber auch nicht der Menschen eigene Gerechtigkeit, die jetzt an das Licht gestellt worden ist, sondern Gerechtigkeit Gottes, Gerechtigkeit aus Gott.1)
3.
In 1, 17 sagte Paulus, aus Glauben heraus werde Gerechtigkeit Gottes im Evangelium geoffenbart. Wie der Funke aus dem Feuerstein. In 3, 22 nennt er die Gerechtigkeit aus Gott eine Gerechtigkeit mittelst des Glaubens. Denn der Glaube ist die Hand welche die Gottesgabe ergreift.
Dass er in 3, 22 noch beifügt: zu Allen hin und über Alle her welche glauben, lässt sich vielleicht durch ein Bild verständlich machen.
Die Wälder ziehen die Wolken an. Zu allen Wäldern in Süd und Nord, in Ost und West ziehen sie hin, ergießen über alle ihre segensreiche Flut; so dringt die Gerechtigkeit aus Gott zu allen Gläubigen hin, und ergießt über Alle ihre geistliche Segensflut. Und wie frisch und duftend werden die Wälder, wenn die Regenflut über sie gekommen ist! Und wie frisch und voll Wohlgeruchs (2 Kor. 2, 15) werden die Seelen, wenn die Flut der Gerechtigkeit aus Gott sich über sie ergossen hat! Über die waldlosen Länder aber ziehen die Wolken, ohne sich zu ergießen, hinweg. Und wo in einem Lande keine Gläubigen sind, ergießt sich nicht mehr die Gerechtigkeit aus Gott.
Es ist noch nicht lange her, dass viele Gemeinden sich für klug hielten, wenn sie ihre Wälder niederschlugen, und mit dem Erlöse die Kasse füllten; heute gilt dies bei den Verständigen für Torheit, weil der Regen dem waldlosen Lande ferne bleibt. Auch das Gewächs des Glaubens zu zerstören gilt mancher Gemeinde für klug. Will man sie warnen, dass, wo kein Glaube sei, dahin die Gerechtigkeit aus Gott nicht mehr sich ergieße, so macht ihr das wenig Eindruck, weil diese Gabe nur geistlich und gar nicht handgreiflich ist. „Ich bin reich und habe genug, und bedarf nichts“ hat es in Laodicäa geheißen, auf diesem Weg gehen viele Gemeinden noch heute gern. Die Zeit wird kommen, wo man auch diese Klugheit als Torheit erkennen muss, weil die handgreiflichen Güter zerstäuben, die unsichtbaren als die allein wahrhaften offenbar werden. Aber wie es bei den Wäldern ist, dass man ihres Wachstums lange warten muss, so geht es auch mit dem Gewächs des Glaubens nicht nach menschlicher Willkür zu; zerstört ist es bald, die neue Anpflanzung ist schwer.
Was hier von den Gemeinden gesagt ist, gilt nicht. minder von den Familien.
4.
Durch die Worte des Verses 23 „denn es ist hier kein Unterschied, denn sie haben allzumal gesündigt und ermangeln der Herrlichkeit aus Gott,“ unterbricht Paulus seine Darlegung der Weise, wie die neue Gerechtigkeit zu Stande gekommen ist, kehrt zu der Begründung ihrer Notwendigkeit zurück. Er hat wohl gewusst dass man unsere Untüchtigkeit zur eigenen Gerechtigkeit uns kaum oft genug zeigen kann. Die Juden haben so gut gesündigt wie die Heiden, ermangeln so sehr wie diese der Herrlichkeit aus Gott. Das griechische Wort welches Luther hier mit Ruhm“ übersetzt, bedeutet nämlich auch „Herrlichkeit“. In vielen Stellen2) unseres Briefs wird es von Luther selbst mit „Herrlichkeit“ verdeutscht. Und diese Verdeutschung entspricht auch hier am besten des Apostels Sinn. Wer vor Gott wandelt, dem teilt Gott von seinem Geiste mit, Gottes Geist ist aber ein Geist der Herrlichkeit3). Er schafft heiliges, unvergängliches, seliges Geistesleben. Die Menschen sollten nach ihres Schöpfers Absicht von seinem Geiste während ihres Erdenlebens so durchdrungen und geheiligt werden, dass das heilige und unvergängliche Leben des Geistes aus ihren Augen, dem Angesichte, der ganzen Erscheinung des Leibes hervorgeleuchtet hätte. Wie sind statt dessen die meisten Angesichter so geistlos, so nichtssagend, wohl gar so stumpf und fleischlich geworden! Man darf in der Tat nur die Gesichter ansehen, so liest man den meisten die Wahrheit des apostolischen Wortes ab, dass wir der Herrlichkeit ermangeln die wir aus Gott haben sollten. Und dem heiligen Gott kann doch Niemand gefallen, als wer Leben aus ihm in sich trägt.
5.
In Vers 24 nimmt Paulus die Beschreibung der neuen Gerechtigkeit wieder auf. Sie werden gerecht gesprochen geschenkweise, durch Gottes Gnade.“ Gott fordert ja nichts, wir leisten ihm nichts, wir glauben nur seinem Verheißungsworte, öffnen nur die Hand für sein Geschenk, das lediglich von seiner unverdienten Güte, vielmehr von seiner Gnade, kommt. Denn wir haben das Gegenteil der Güte verdient, und die Güte gegen die, welche das Gegenteil der Güte verdient haben, ist Gnade. Geschenkweise wird uns die Vergebung und Kindesannahme zu Teil. Dieses Wort „geschenkweise“ kann man nicht streng genug nehmen. Den Anspruch, als ob sie die Gerechtsprechung Gottes verdienen könnten, den Menschen niederzuschlagen, ist eine Hauptaufgabe eines tüchtigen Seelsorgers; auf diesen Anspruch gänzlich verzichtet zu haben, ein Hauptmerkmal christlicher Reife.
6.
Während nun von unserer Seite gar keine Arbeit geschehen ist oder geschehen kann, unsern Ungerechtigkeitsstand in den Gerechtigkeitsstand zu verwandeln, hat diese Verwandlung gleichwohl eine machtvolle Arbeit gekostet. Denn so heißt es bei Paulus in 24 weiter: „mittelst der Loskaufung so durch Christum Jesum geschehen ist“. Wie Jesus selbst in Matth. 20, 28 gesagt hat: des Menschen Sohn ist gekommen sein Leben zu geben als Lösegeld an der Statt von Vielen.“ Das war eine Arbeit, schwerer als irgendwelche, die sonst von Menschen geschehen ist. Sie geschah nicht etwa bloß in der Leidenswoche. Drei Jahrzehnte hat sie gewährt, in tausend Verleugnungen musste Jesus das Leben innerlich hingeben, ehe er es am Kreuze auch äußerlich hingab. Alle diese Selbstverleugnungen bildeten miteinander das Lösegeld. Die Spitze der Selbstverleugnung war aber die Hingabe des äußerlichen Lebens auf Golgatha. In dem äußeren Sterben lag die Vollendung des inneren. Auf das Leben selbst Verzichten ist die Spitze des Verzichtens. Wie denn der Apostel den Worten mittelst der Loskaufung die in Christo Jesu geschehen ist, in 25 sofort beifügt: „welchen Gott öffentlich hingestellt hat als Sühnmittel durch den Glauben in seinem Blut.“
7.
Als Sühnmittel. Wo das Recht unter den Menschen verletzt wird, ordnet Gesetz und Obrigkeit eine Sühne an. Dem verletzten Rechte muss Genugtuung geschehen. Diese Notwendigkeit ist noch viel mehr vorhanden, wenn ein göttliches Heiligtum verletzt worden ist. Und jede Sünde ist Verletzung eines göttlichen Heiligtums. Geheiligt werde dein Name, beginnt Jesus das Vaterunser. Das sollte der Zweck alles menschlichen Handelns sein. In Wirklichkeit ist der größte Teil der menschlichen Handlungen eine Entheiligung des göttlichen Namens. Man tut, als lebte kein Gott, oder als hätte Gott zum mindesten keinen Namen, hätte sich der Welt nicht genannt, nicht kund getan. Tausendfach gebührt also dem heiligen Namen Gottes eine Sühne. Nun sagt Paulus, Christum habe Gott öffentlich als Sühnmittel hingestellt in seinem Blut. Auf Golgatha ist diese öffentliche Hinstellung geschehen, vor den Augen der Engel und der Menschen. Dort hing Christus in seinem Blut. Als Sühnmittel durch den Glauben, sagt Paulus, weil nur für den Glaubenden Christi Sühnen wirksam wird.
8.
Nun folgt zwei Male hintereinander „zur Erweisung seiner Gerechtigkeit“, Vers 25 und 26. Hiermit wird der Zweck angegeben, welchen Gott bei der Hinstellung Christi in seinem Blut gehabt hat; um die Erweisung der göttlichen Gerechtigkeit habe es sich dabei gehandelt. Beim ersten Mal werden den Worten zur Erweisung seiner Gerechtigkeit“ die weiteren beigefügt: wegen der Vorbeilassung der zuvor geschehenen Sünden während der Geduld Gottes (Vers 25). Von Adam bis Christus hatte Gott Geduld, ließ die Sünden vorbei. In seiner Rede zu Athen sagt Paulus, Gott habe die Zeiten der Unwissenheit übersehen4). Allerdings offenbarte sich Gottes Zorn vom Himmel her über jegliche Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit derer welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit aufhielten5). Aber die Schwere des Gerichtes entsprach noch lange nicht der Schwere der Versündigung. Auch ging dem Gericht eine Menge von Freundlichkeitserweisung zur Seite6). Welch anmutiges Leben, welches Aufblühen künstlerischen, wissenschaftlichen, staatlichen Lebens in Griechenland und Rom im letzten halben Jahrtausend vor dem Kommen Christi! Diese Anmut des Lebens war freilich sehr oberflächlich und sehr vergänglich, aber sie war doch da. Viele lassen sich noch heute durch diese Anmut berücken, den dunkeln Grund vergessend auf welchem die Lichtgestalt sich erhob. Die richterliche Gerechtigkeit Gottes ward also nicht in der gebührenden Schärfe erwiesen. Deshalb musste dieser Geduldszeit eine Erweisung der Gerechtigkeit Gottes folgen. Beim zweiten Male lässt Paulus den Worten: „zur Erweisung seiner Gerechtigkeit in dem jetzigen Zeitpunkt“ die weiteren folgen: „damit Er sei gerecht, und (zugleich) gerechtsprechend den der aus dem Glauben an Jesum ist.“ Hier wird die End-Absicht der von Gott geübten Erweisung seiner Gerechtigkeit angegeben. Hätte er nicht Christum als Sühnmittel öffentlich hingestellt, so hätte sein geduldiges Vorbeilassen der menschlichen Sünde zuletzt den Schein erweckt, als fehlte es bei Gott an richterlichem Ernst. Nachdem aber Gott in Christi Hinstellung als Sühnmittels in seinem Blut seinen Ernst gegen die Sünde erwiesen hat, kann Er unbeschadet seiner Gerechtigkeit sogar fortschreiten zum Gerechtsprechen dessen der aus dem Glauben an Jesum ist.
9.
In Summa: die Gerechtigkeit aus Gott ist zu Stande gekommen und kann hindringen zu Allen welche glauben, und sich ergießen über Alle welche glauben, kraft unserer in Jesu Blut geschehenen Loskaufung, indem Gott diesen auf Golgatha als Sühnmittel hingestellt hat, zur Erweisung seines richterlichen Ernstes wider die Sünde.
10.
Nur vergesse man hierbei zweierlei nicht. Erstlich, dass Gott nur den gerecht spricht welcher aus dem Glauben an Jesum ist. Mit anderen Worten den dessen Element der Glaube an Jesum ist. Viele halten sich für gläubig, aber vor Gott gilt als gläubig nur der bei welchem der Glaube das Element geworden ist, worin des Menschen Seele lebt und webt. Es gibt Menschen welche gerne bisweilen eine Stunde der Kunst oder der Wissenschaft widmen, und es gibt Andere, denen die Kunst oder Wissenschaft ihr Lebens-Element ist. Es gibt Menschen welche gern einige Male im Jahre Bedürftigen eine Wohltat erweisen, und es gibt Andere deren Element es ist, den Anderen wohl zu tun. So gibt es auch Christen welche an etlichen Fest- und Kommuniontagen mit Rührung von Jesu sich predigen lassen, daher sie sich dann für gläubig halten; hinwiederum aber Andere, welche ihren Glaubensblick jeden Tag auf Jesum richten, und für ihr Tun und Lassen bestimmend sein lassen. Nur von den Letzteren kann man sagen, der Glaube an Jesum sei ihr Lebens-Element. Nur diese gelten vor Gott für gläubig, nur diese spricht Er gerecht. Zwischen Jesus und ihnen ist ein lebendiger Zusammenhang. Sie wissen, so hätten wir sein sollen wie Jesus war. Es ist ihr tiefer Schmerz, dass sie so weit von ihm verschieden sind. Ihr tiefes Sehnen geht dahin: deine Heiligung deines Vaters mache meine Entheiligung gut! Die Heiligkeit Jesu ist wie ihre tiefste Beschämung, so ihre höchste Freude. Nun sei doch Ein Mensch gewesen, durch den Gott geheiligt worden, Einer aus unserem Geschlecht, ein Bruder von uns. Bei dieser Herzensstellung zu Jesus, dem von so Vielen gering geschätzten Nazarener, ist es göttlich natürlich, dass, was an Jesu geschehen ist, diesen Menschen zugerechnet wird, für sie gilt. Das Andere was man erwägen muss, ist dies: indem die richterliche Gerechtigkeit Gottes in dem Blute des heiligen Jesus, statt in unaufhörlichem Hinsterben der Sünder, erwiesen worden, ist diesem nicht etwa ein Unrecht geschehen. Denn es entsprach des Sohnes tiefem innigem Verlangen, dass dies geschah. Es war seine wie des Vaters Gnadentat. Wie wir lesen werden in 5, 15 „die Gnade Gottes und das Geschenk ist in der Gnade des Einen Menschen Jesus Christus zu den Vielen überfließend gewesen.“ Wenn ein erstgeborener Sohn seiner Geschwister Elend, an welchem er selbst keine Schuld trägt, auf sein Herz nimmt und wie sein eigenes Elend trägt und sich darunter aufs äußerste abmüht, um die Schultern seiner Geschwister von der Last, darunter sie sonst zusammenbrechen, zu befreien; wie sollte das eines rechtschaffenen Vaters Herz nicht erfreuen? Nimmermehr wird er dem erstgeborenen wehren, eine Bürde auf sich zu nehmen, die er nicht verschuldet habe; vielmehr wird sein Vaterherz jubilieren, nicht nur über die Befreiung der verschuldeten Kinder, sondern, und allermeist, über das Liebesfeuer und die Großherzigkeit seines erstgeborenen Sohns.