Gerok, Karl von - Andachten zum Psalter - Psalm 6.

Gerok, Karl von - Andachten zum Psalter - Psalm 6.

(1) Ein Psalm Davids, vorzusingen auf acht Saiten. (2) Ach, Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn, und züchtige mich nicht in deinem Grimm. (3) Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach; heile mich, Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken, (4) Und meine Seele ist sehr erschrocken. Ach du Herr, wie so lange! (5) Wende dich, Herr, und errette meine Seele; hilf mir um deiner Güte willen. (6) Denn im Tode gedenkt man deiner nicht; wer will dir in der Hölle danken? (7) Ich bin so müde von Seufzen, ich schwemme mein Bette die ganze Nacht, und netze mit meinen Tränen mein Lager. (8) Meine Gestalt ist verfallen vor Trauern, und ist alt geworden; denn ich allenthalben geängstigt werde. (9) Weicht von mir, alle Übeltäter; denn der Herr hört mein Weinen, (10) Der Herr hört mein Flehen, mein Gebet nimmt der Herr an. (11) Es müssen alle meine Feinde zu Schanden werden, und sehr erschrecken, sich zurück kehren, und zu Schanden werden plötzlich.

Abermals ein Klagepsalm Davids, der dritte in der Reihe. Es könnte vielleicht einem oder dem andern unter uns bange werden: aber wenn das immer so aus einem Tone fortgeht, ein Klagepsalm um den andern, muss das nicht am Ende einförmig und langweilig werden? muss da nicht immer dasselbe sich wiederholen?

Wir können darauf zunächst ein Lutherwort erwidern. Er schreibt einmal an einen Freund: Ich habe nun etliche Jahre die Bibel jährlich zweimal ausgelesen und wenn sie ein großer mächtiger Baum wäre und alle Worte wären Ästlein und Zweiglein, so habe ich doch an allen Ästlein und Zweiglein angeklopft und gerne wissen wollen, was daran wäre und was sie vermöchten und allezeit noch ein paar Früchte heruntergeklopft. Ja so geht es einem andächtigen, fleißigen Bibelleser; wenn er auch immer wieder das alte liest, er findet bei jedem neuen Lesen und Suchen immer auch wieder ein neues Früchtlein noch zwischen den Blättern versteckt, eine neue Wahrheit, einen neuen Gedanken, den er zuvor noch nicht gefunden. Aber wir lesen ja erst nicht immer wieder das Alte in unserem Psalter. Wie kein Blatt dem andern ganz gleich ist am Baum, wenn sie auch ungefähr einander gleich sehen, sondern jedes unterscheidet sich vom andern an Größe, an Farbe, an Zeichnung, an Schattierung, an jedem findet der Betrachter, wenn er's aufmerksam ins Auge fasst, wieder etwas besonders zu bemerken, so ist's auch am Lebensbaum der heiligen Schrift. Auch was auf den ersten oberflächlichen Blick sich gleichsieht, das zeigt für den andächtigen Betrachter wieder eine Mannigfaltigkeit von Schattierungen. Kein Bibelblatt ist dem andern gleich; auch kein Psalm ist dem andern gleich. Auch in unserem sechsten Psalm mischt ein neuer Ton, eine neue Schattierung sich ein, die wir bisher noch nicht gehabt; es ist nicht nur ein Klagepsalm, sondern auch zugleich ein Bußpsalm. Aus der tiefsten Tiefe des Jammers betet sich David bis zur höchsten Höhe froher Zuversicht hinauf, und wenn man das Gebet überhaupt eine Himmelfahrt der Seele genannt hat, weil da die Seele über alle irdischen Nebel und Wolken auf Flügeln der Andacht sich emporschwingt zu Gott, so können wir insbesondere diesen Psalm nennen:

Die Himmelfahrt einer geängsteten Seele im Gebet.

Wir sehen David

- in der tiefsten Tiefe als erschrockenen Sünder, - schon mehr aufgerichtet als klagenden Dulder, - hoch erhoben als triumphierenden Sieger.

1. David als erschrockener Sünder.

(V. 2 und 3.) „Strafe mich nicht in deinem Zorn, züchtige mich nicht in deinem Grimm.“ Das sind neue Töne auf der Davidsharfe, und zwar die tiefsten, die schauerlichsten Töne; das sind neue Tropfen im Leidensbecher, und zwar die herbsten, die bittersten Tropfen. Bisher haben wir David wohl klagen hören über Feindeszorn und Grimm. Aber diese Feinde waren menschliche Feinde und alle diese Feinde wog ihm weit auf ein Freund: sein Gott und Herr im Himmel, zu dem er triumphierend sprach: Du Herr segnest die Gerechten. Aber wie? wenn nun auch dieser Trost ihm genommen ist, wenn es nicht nur der Menschen Grimm ist, darunter er leidet, der boshafte Grimm boshafter Menschen, sondern der heilige Zorn des heiligen Gottes? Wie? wenn er sich nicht mehr mit seiner Unschuld trösten kann in seinem Unglück, sondern bekennen muss: Ich habe diese Züchtigung verschuldet durch meine Sünde! Das ist für die Kinder Gottes der bitterste Tropfen im Trübsalskelch: das Gefühl des göttlichen Missfallens, die Anklage des bösen Gewissens.

Über seine Feinde draußen zu klagen, ist das Menschenherz gar schnell bei der Hand; aber sieh, o Menschenkind, dein schlimmster Feind, der sitzt nicht in des Nachbars Haus, sondern der wohnt da drin in deiner eigenen Brust. Das ist die Sünde, die dir noch immerdar anklebt, und darum ehe du deine Feinde bei Gott verklagst, prüfe dich zuvor wohl, ob du dich nicht selber anzuklagen habest, ehe du über andere Gottes Zorn herabrufst, frage dich zuvor, ob du nicht vielleicht selber Gottes Zorn verdient hast?

Wie murren denn die Leute im Leben also? ein jeglicher murre wider seine Sünde! Mit diesem Wort des Propheten Jeremias in den Klageliedern könnte man hundertmal den Klagenden und Murrenden in der Welt das Maul stopfen und zwar nicht nur den Weltkindern und Sündenmenschen, sondern auch oft die Besseren haben wider sich zu murren; auch ein David murrt hier wider seine Sünde, wenn er Gott bittet: Strafe mich nicht in deinem Zorn, züchtige mich nicht in deinem Grimm. Vielleicht es schwebte David im Augenblick keine bestimmte Übeltat vor der Seele, von der er sagen konnte: Damit hab ich Gottes Grimm verdient, dafür lastet des Herrn Hand auf mir; aber das beugende Gefühl: Vor dem heiligen Gott muss ich mich allezeit schämen; das schmerzliche Bewusstsein: Wer kann merken, wie oft er fehlt, das begleitete ihn allenthalben und machte ihn demütig auch im Unglück, auch in scheinbar unverschuldetem Unglück.

Auch wir, meine Lieben, wollen an diesem Gefühl festhalten und selbst dann, wenn wir meinen ungerecht zu leiden, soll es uns in der Demut erhalten, soll es unsere Klagen dämpfen: „Wer kann merken, wie oft er fehlt; verzeihe mir Herr die verborgenen Fehle,“ oder wie es hier David ausdrückt V. 2-4: „Ach Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm. Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach; heile mich, Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken, und meine Seele ist sehr erschrocken. Ach, du Herr, wie so lange!“

Doch wenn gleich als ein Zagender, darum nicht als ein Verzagender steht David vor seinem Gott. Er weiß, barmherzig ist Gott, gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue - darum klagt er ihm nun kindlich seine Not, dies ist des Psalmes zweiter Teil, V. 5-8. Da ist's nicht mehr der erschrockene Sünder, sondern

2. Der klagende Dulder, dessen Stimme wir vernehmen:

„Wende dich, Herr, und errette meine Seele; hilf mir um deiner Güte willen. Denn im Tode gedenkt man deiner nicht; wer will dir in der Hölle danken? Ich bin so müde von Seufzen, ich schwemme mein Bette die ganze Nacht, und netze mit meinen Tränen mein Lager. Meine Gestalt ist verfallen vor Trauern, und ist alt geworden; denn ich allenthalben geängstigt werde.“

Ist das David? könnte eines fragen, David, der Mann Gottes, der Held, der Goliath bezwang, von dem die Töchter Israels sangen: Saul hat tausend erschlagen, aber David zehntausend? - Und nun solche Tränen, solche Klagen? Ja meine Lieben, das gehört eben auch zur Schmach des Menschenherzens, zum Jammer der Erde, dass selbst starke Herzen, Gottesmänner, Gotteshelden recht schwache Stunden haben können, wo wenig mehr zu sehen ist von ihrer alten Heldenkraft, zumal wenn sie mit David klagen müssen: Ach Herr, wie so lange! Einen Sturm auszuhalten, dazu gehört noch nicht übermenschliche Kraft. Aber wenn die Trübsalsschläge sich wiederholen und eins übers andere kommt, wenn nun die Trübsal lange anhält, wochen-, monden-, jahrelang da, meine Lieben, kann auch eine starke Leibs- und Seelenkraft nach und nach unterhöhlt und herabgestimmt werden, und wenn dann der Glückliche, der Gesunde hintritt vor das Leidenslager eines solchen Dulders, der jahrelang vielleicht unter den Hammerschlägen der Trübsal liegt, dann wundre er sich nicht, ihn mürb, ja stundenweise fast schwach zu finden, sondern frage sich: Wäre meine Kraft nicht vielleicht zusammengebrochen, wenn ich auch nur die Hälfte von diesem allem hätte zu tragen gehabt?

Auch in seinen Klagen ist uns ein David noch ehrwürdig.

V. 5. „Wende dich, Herr, und errette meine Seele; hilf mir um deiner Güte willen.“ Wende dich, Herr! Ja wahrlich, so ist's uns in langer Trübsal, als hätte Gott sein Angesicht ganz von uns abgewendet, als hätten wir lange, lange keinen freundlichen Blick seines Auges mehr gesehen, kein tröstendes Wort seines Mundes mehr vernommen, wie der Herr selber beim Propheten sagt: Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zornes (scheinbar) ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen. Drum hilf mir um deiner Güte willen, fährt David fort; schön gesprochen, lieber Kreuzträger: „Um deiner Güte willen“, nicht um meiner Unschuld willen, nicht um meiner Verdienste willen, sondern um deiner Güte willen, um deines Vaternamens, um deiner Gottesverheißungen, um deiner ewigen Gnade willen; so hält ein Gotteskind auch in tiefster Trübsal fest an seines Gottes Gnade: Ich will in dieser Zeit und will in Ewigkeit nichts als Gnade.

V. 6. „Denn im Tode gedenkt man deiner nicht; wer will dir in der Hölle danken?“ Das heißt: Lässt du mich im Jammer verderben und versinken, so kann ich ja deinem Namen nicht mehr lobsingen, deine Ehre nicht mehr verkünden in der Welt, und doch möcht ich so gerne noch etwas tun für dein Reich und für deines Namens Ehre. Alle meine guten Vorsätze, alle meine frommen Pläne und Gelübde, sie werden ja begraben mit mir, wenn du mir nicht diesmal noch heraushilfst, wenn du mir nicht noch meine Tage verlängerst und eine Gnadenfrist schenkst. Ja so muss es einem Prediger zu Mute sein, wenn er seines Wirkens Ziel vor der Zeit vor Augen sieht und hat noch so viel Amtsschulden auf dem Gewissen, hätte noch so viel zu sagen, zu wirken, zu tun für seinen Herrn; so muss es einem Hausvater oder einer Hausmutter zu Mute sein, wenn sie sollen scheiden von ihren Kindern und hätten noch so viel an ihnen und für sie zu arbeiten; so muss es einem neubekehrten Gotteskind zu Mute sein, wenn es vom Leben scheiden soll und möchte jetzt erst anfangen, dem Herrn recht zu leben; so müsste es, glaub ich, uns allen zu Mute sein, wenn der Allmächtige heute schon uns wollte abrufen von der Welt; wir müssten bitten: Herr schenke uns noch Zeit, im Grabe können wir dir nicht mehr leben, in der Ewigkeit können wir das Versäumte nicht mehr einholen!

Und nun seht den Dulder in seinem ganzen Jammer: „Ich bin so müde von Seufzen, ich schwemme mein Bette die ganze Nacht, und netze mit meinen Tränen mein Lager. Meine Gestalt ist verfallen vor Trauern, und ist alt geworden; denn ich allenthalben geängstigt werde.“ (V. 7 und 8.)

In stiller Nacht fließen seine Tränen vor Gott. Ja es fließt manche bittere Träne vor Gott im stillen Kämmerlein, die kein irdisch Angesicht gesehen; es steigt manch heißer Seufzer empor in stiller Nacht, von dem keines Menschen Ohr etwas vernimmt. Auch ein männlich Herz, das bei Tag und vor Menschen die Klagen verhält und der Tränen sich schämt - o in stiller Nacht in der einsamen Kammer bricht es oft zusammen vor Gott und weint sich aus auf verschwiegenem Kissen. Aber sei getrost, duldende Seele; wenn es wahr ist, dass Gott alle Tränen der Seinen zählt: o so zählt er gewiss vor allem die Tränen, die im stillen Kämmerlein der einsame Dulder ihm nur weint, nachdem er sie den Tag über still und stark in sich zurückgeschlungen. Du zählst, wie oft ein Frommer weint.

Freilich solche stille Tränen, sie lassen am Ende ihre Spuren zurück auch am hellen Tag.

V. 8. „Meine Gestalt ist verfallen vor Trauern, und ist alt geworden; denn ich allenthalben geängstigt werde.“ So klagt David, der schöne Gottesheld, einst so blühend vor dem Herrn, bräunlich und schön von Gestalt. Auch sein lockiges Haupt ward grau nicht nur von Jahren, sondern auch von Sorgen; auch seine edle Gestalt ward gebeugt nicht nur vom Alter, sondern auch vom Kummer. Ach meine Lieben, es ist eine wehmütige Erfahrung, wenn so ein Menschenleben vor der Zeit dahinwelkt in der Hitze der Trübsal; es ist ein trauriger Anblick, wenn man einen Prediger, den man in der Fülle seiner Kraft gesehen, nach wenig Jahren wieder sieht gealtert und zerfallen, wenn man eine Mutter, die man in ihrer Schönheit gekannt, nach kurzer Zeit wiederfindet verwelkt und gebeugt und muss sagen: Das hat die Trübsal getan! Und doch, Geliebte, es gibt eine Jugend, die nie verblüht, ein Feuer, das nie erlischt, eine Schönheit, die nie verwelkt, eine Kraft, die nie versiegt, das ist die Jugend und das Feuer, die Schönheit und die Kraft des inneren Menschen, von welcher Paulus sagt: Ob auch unser äußerer Mensch verwest, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.

In solcher Jugendkraft des inneren Menschen erhebt sich denn auch David mitten aus seinem Jammer.

3. Als ein triumphierender Sieger

steht er plötzlich am Ende da. (V. 9-11.) „Weicht von mir, alle Übeltäter; denn der Herr hört mein Weinen; der Herr hört mein Flehen, mein Gebet nimmt der Herr an. Es müssen alle meine Feinde zu Schanden werden, und sehr erschrecken, sich zurückkehren und zu Schanden werden plötzlich.“ Welch wunderbare Verwandlung! Der eben noch im Staube lag, zum Tode betrübt, der hebt nun jauchzend sein Haupt zum Himmel empor und bietet triumphierend allen seinen Feinden Trotz, als lägen sie ihm schon zu Füßen. Warum? hat sich in seiner äußeren Lage etwas verändert zwischen V. 8 und 9? ist er plötzlich aus einem Verfolgten zu einem Sieger geworden? Nein, äußerlich steht's noch um ihn wie zuvor. Aber innerlich ist ihm ein Licht aufgegangen, das Licht des Glaubens und der Hoffnung und der Gnade, die Gewissheit: Der Herr hört mein Flehen, mein Gebet nimmt der Herr an. Hast du's noch nie erfahren, Seele, wenn du in brünstigem Gebete vor Gott lagst und meintest eben noch zu vergehen im Jammer - wie da noch während des Betens plötzlich es hell ward und licht in deinem Innern, wie dir da plötzlich ein Freudenlicht aufging, ein Friede über dich kam, ein Heldenmut dich durchzuckte, dass du auffuhrst mit Flügeln wie ein Adler und Trotz botest allen deinen Feinden, weil du dir gewiss wardst: Der Herr hört mein Flehen, mein Gebet nimmt der Herr an. Siehe das ist die Himmelfahrt der Seele im Gebet. So ist David, nachdem er eben noch als ein verzagendes Kind im Staube gelegen, als ein triumphierender Held aufgestanden wider alle seine Feinde. Und fällt dir da nicht ein Bild ein aus dem Leben des großen Davidssohnes, das dir noch herrlicher zeigt solche Himmelfahrt der Seele im Gebet? Gedenkst du da nicht deines Heilandes, wie er in Gethsemane im Staube liegt, von Angstschweiß überflossen sein zitternder Leib und seine zagende Seele betrübt bis in den Tod und ein paar Augenblicke nachher geht er majestätisch hohen Hauptes und festen Tritts seiner Mörderschar entgegen und wirft die Feinde zu Boden mit seinem Königswort: Ich bin's! Was lag dazwischen? Er hat gebetet und im Gebete die Versicherung empfangen: Der Herr hört mein Flehen, mein Gebet nimmt der Herr an! Ja, Beten kann retten aus jeglichen Nöten Und aus dem Tode selbst: Jesu hilf beten! Amen.

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