Funcke, Otto - Tägliche Andachten – Montag nach Estomihi bis Invocavit
Montag nach Estomihi.
Die erschienen in Klarheit, und redeten von dem Ausgang, welchen er sollte erfüllen zu Jerusalem.
Lukas 9, 31.
Es ist ein echt menschliches, durch und durch gesundes Bedürfnis, Gemeinschaft und Freundschaft zu haben und zu üben. Wer dieses Bedürfnis nicht hat, wer sich selbst genug ist, soll darin wahrlich keinen besonderen Vorzug, keine besondere sittliche Vollendung erkennen. Nein, in den allermeisten Fällen wird solche Selbstzufriedenheit ihre Quelle in einem dummen und stolzen Hochmut haben und sich bitter rächen. Selbst der heilige und vollkommene Jesus hatte das Bedürfnis der Freundschaft. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass zum Beispiel Johannes, „der Jünger, den Jesus lieb hatte“ und „der an der Brust des Herrn lag“, nicht nur sein Jünger, sondern zugleich sein Herzensfreund war. Vornehmlich aber ist es einem gesund fühlenden Menschen in solchen Zeiten, da seine Seele von hoher Freude und Hoffnung oder von tiefer Angst und Bangigkeit bewegt ist, Bedürfnis, sich gegen Vertraute und innerlich teilnehmende, verständnisvolle Freunde auszusprechen, um, wie man auch sagt, dem gepressten Herzen „Luft zu machen“. Nun war eben jetzt, da Jesus auf den Tabor stieg, seine Seele ganz erfüllt von dem Grauen vor dem kommenden Leiden. Kurz vorher hatte er zu den Jüngern von seinem Todesweg geredet. Es hatte sich aber sofort gezeigt, dass auch diese Edelsten und Besten, die auf Erden waren, kein Verständnis für dies höchste Heiligtum des Werkes Christi hatten. Derselbe Petrus, der Ihn soeben als den Sohn Gottes erkannt und bekannt hatte, derselbe warnte im Namen aller Jünger den Herrn vor solchen Leiden und wurde so zum Satan an Ihm, ohne das selbst zu ahnen. Wir sehen dasselbe später; sogar in Gethsemane, wo der leidende Jesus so herzbeweglich fleht: „bleibt hier und wacht mit mir!“ lassen ihn die Jünger alleine ringen und zittern; sie fassen seine Leiden nicht, sie ärgern sich an Ihm, verlassen ihn erst innerlich, um ihn dann auch bald äußerlich zu verlassen.
Weil also unter sämtlichen auf Erden lebenden Menschen keiner gefunden wurde, der mit Jesu fühlen, geschweige der ihn stärken und trösten konnte, - deswegen sandte ihm der fürsorgende Vater zwei Glieder der verklärten Gemeinde aus der oberen Welt, dass er mit ihnen Gemeinschaft haben, mit ihnen über sein bevorstehendes Leiden sich aussprechen könne. „Moses und Elias erschienen in Klarheit und redeten mit ihm von dem Ausgang, den er nehmen sollte zu Jerusalem.“ Wie in Gethsemane, wo die Jünger schmählicher Weise schliefen, ein Engel kam und ihn stärkte, so kommen auch hier zwei verklärte Himmelsbewohner, gleichsam. mit Grüßen aus dem Vaterhaus, mit Tröstungen und Liebesbotschaften, aber auch mit dem Zeugnis, dass der Sterbensweg der einzig-mögliche Weg zum Heil der Welt sei. Was diese Verklärten zu Jesu und was Jesus zu ihnen gesagt hat, wie sie sich ausgetauscht haben, - das im Einzelnen zu bestimmen, wäre vermessen, aber gewiss ist Jesus mit neuer Kraft gerüstet aus dieser Gemeinschaft hervorgegangen. Dass aber grade Moses und Elias, die gewaltigsten Säulen des alttestamentlichen Gesetzesbundes, hier erscheinen, soll uns bezeugen, einmal, dass dieser Jesus, der nun bald von der Sünde der Welt beladen zusammenbrechen wird, dass er trotz dem ober vielmehr grade deswegen größer ist wie die Größten und Heiligen der Vorzeit; denn sie kommen, um ihm zu dienen; es soll uns aber auch ferner damit offenbar werden, wie innig das Neue, was nun kommt, mit dem Alten, was nun sein Ende und seine Erfüllung erreicht hat, verbunden sei.
Dass aber der heilige Jesus trotz alles Dessen, was er auf Tabor erlebte, schaute, fühlte, hörte, dennoch, als die Stunde und Macht der Finsternis hereinbrachen, in solch' Zittern und Zagen geriet, - das soll uns ein starker, fröhlicher Trost sein. ja; so ein Heiland der ist uns wirklich nah; der wird uns verstehen, der wird uns nicht leicht wegwerfen, der wird uns auch in den größten Schwachheiten, Anfechtungen und Schwankungen erfahren lassen, was ein heiliger Sänger schon vor dreitausend Jahren rühmte: „Wenn ich mitten in der Angst wandle, so erquickst du mich und hilfst mir mit deiner Rechten“. (Psalm 138, V. 7.)
Du bist mein Gott, dich will ich loben,
Erheben deine Majestät,
Dein Ruhm, mein Gott, sei hoch erhoben.
Der über alle Himmel geht!
Rühmt, rühmt den Herrn! schaut, sein Erbarmen
Bestrahlet uns in trüber Zeit, und seine Gnade trägt uns Armen
Von Ewigkeit zu Ewigkeit
Dienstag nach Estomihi.
Die erschienen in Klarheit, und redeten von dem Ausgang, welchen er sollte erfüllen zu Jerusalem.
Lukas 9, 31.
Wer in Betreff der Fragen, welche die zukünftige Welt und das ewige Leben angehen, kein göttliches Zeugnis kennt und anerkennt, wer nur auf seine Spekulation, Phantasie, Philosophie, Bildung und Einbildung angewiesen ist, - der wird grade, desto länger und schärfer er über jene Dinge nachdenkt, immer mehr in die Irre geraten und zu der verzweifelten Erkenntnis kommen:
„Ich sehe, dass wir nichts wissen können!
Das will mir schier das Herz verbrennen.“
Allein das Nachdenken über das, was Ewigkeit ist, kann Einen nahezu unsinnig machen. Je mehr man sich dahinein versenkt, desto mehr flimmert es Einem vor den Augen. Geht man vollends tiefer in das Einzelne hinein, so versteht man, wie Schiller sagen konnte:
„Steh', du segelst umsonst! vor dir Unendlichkeit,
Steh', du segelst umsonst! Pilger, auch hinter dir;
Senke nieder,
Adlergedanke, deine Gefieder!
Kühne Seglerin Phantasie,
Wirf ein mutlos Anker hie!“
Trotzdem und alledem spricht unser Heiland es mit der größten Gelassenheit aus und immer wieder aus, dass das sein Ziel mit seinen Jüngern sei, „dass er das ewige Leben gebe Allen die an Ihn glauben, und dass er uns aufwärts führen will zu den Wohnungen und zu der Herrlichkeit in seines Vaters Haus“. Wenn dir das noch zu hoch ist, gut, so trauere darüber und setze dich so viel kindlicher zu Jesu Füßen, bis Er dir das Dunkel hell macht. Aber verdrehe ihm nicht seine Worte, sage nicht, Er hat etwas Anderes gewollt. - Auch seine Jünger, die durch Ihn den Vater gefunden haben, sprechen von jenen großen, menschlich zu reden unsinnigen Dingen, mit einer Ruhe, Sicherheit und Einfachheit, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres in der ganzen Welt. Dass Die, die in den lebendigen Gott eingepflanzt sind, nicht sterben können, ob auch Leib und Seele durch den Tod zerrissen werden, ist ihnen eben so gewiss, als dass Gott, der das Leben ist, selbst nicht stirbt. So notieren auch die Evangelisten mit der größten Gemütsruhe, dass Moses und Elias, diese Männer, die in längst vergangenen Zeitläufen in göttlicher Heldenkraft auf Erden wandelten, auf dem Berge Tabor erschienen seien. Sie finden darin nichts Schwieriges, geschweige etwas Anstößiges, und selig der Mann, der also in seinem Gott lebt, dass es ihm eben so zu Mute ist.
Man hat nicht mit Unrecht diese Erscheinung als „ein Guckfensterlein in die obere Welt“ bezeichnet. Manche Frage über das Leben nach dem Tode möchte hier eine andeutende Antwort finden, wie sehr auch im Ganzen Gottes Wort über diese Dinge mit keuscher Zurückhaltung schweigt. Zunächst sehen wir: Diese Männer, die vor 1500 und 800 Jahren von dieser Erde voll Kampf und Tränen geschieden sind, sie sind noch da, sie leben noch, sind also auch nicht etwa in einem „Seelenschlaf“, davon Manche faseln, befangen. Ferner, sie sind keine reinen Geister, sondern haben einen sichtbaren Leib. In welchem Zusammenhang dieser Leib mit dem früheren stand, wird nicht gesagt, wohl aber dass es ein Leib der Herrlichkeit ist. Ferner, diese beiden treuen Knechte Gottes, die in einem Geist lebten und wirkten, sie haben sich in der oberen Welt gefunden, obgleich sie hier unten durch so unendliche Schranken des Raumes und der Zeit getrennt waren. Ja, nicht nur das, dass sie sich Einer den Andern erkannt haben, nein, sie werden auch von den Jüngern Christi sofort erkannt als Die, welche sie sind, ohne dass sie ihren Namen zu nennen brauchen. - Wir sehen ferner, dass diese Bewohner des Himmels an den Angelegenheiten des Reiches Gottes auf Erden den innigsten Anteil nehmen, denn sie erscheinen ja gerade, um mit dem Heiland der Welt von seinem Tod zu reden.
Von hier aus ließe sich nun Vieles sagen, ahnen, vermuten über das Leben jenseits des Grabes. Diese Fragen, welchen Leib wir dort haben, ob man sich wiedererkennt, wie man miteinander verkehrt, ob man noch in einer Beziehung zu den Erdendingen steht usw. usw., sind uns ja Allen hochwichtig. Besonders in Zeiten, wo wir teure Angehörige von uns scheiden sahen, nehmen sie oft unsere Gedanken zu sehr in Anspruch. Wir sagen zu sehr, denn wie natürlich es auch ist, dass wir uns ganz darin verlieren, so ist's doch ungesund, denn Christus selbst muss der Mittelpunkt bleiben. „Ringt ihr danach, dass ihr eingeht durch die enge Pforte!“ antwortet Jesus seinen Jüngern, die ihn mit allerlei Kuriositätsfragen kommen; und so sagt er auch uns. Mögen wir immerhin über jene Dinge fleißig nachdenken, uns aber von Vornherein sagen, dass hier Vieles dunkel bleiben muss, so lange wir im Fleische wallen. Vor allen Dingen lasst uns sagen, dass die eine Hauptsache immer die ist, dass wir in Wahrheit Gottes Kinder werden durch Jesum Christum, dass wir von unserer Ichheit und Sünde immer mehr erlöst und von seinem Geist und Frieden, von seiner Heiligkeit und Liebe immer mehr beseelt werden müssen. Sind wir damit in der rechten Bahn, so werden sich alle jene Nebenfragen seiner Zeit zu unserer höchsten Befriedigung lösen; ja wir werden, ähnlich wie die Königin von Saba, sagen: Ich hatte viel erwartet, aber ich hatte nicht den tausendsten Teil aller dieser Herrlichkeit und Freude geahnt.
Wenn Gott einst uns're Bande bricht,
Und führt gen Zion in sein Licht,
Dann wird's wie Träumenden uns sein;
Wir gehn mit unserm Führer ein,
Und jauchzen laut in Gottes Freuden
Nach überstand'nen Pilgerleiden.
Dann staunt die ganze Welt uns an
Und ruft: „das hat der Herr getan!“
Mittwoch nach Estomihi.
Und es begab sich, da die von ihm wichen, sprach Petrus zu Jesu: Meister, hier ist gut sein, lasst uns drei Hütten machen, dir eine, Mose eine, und Eliä eine. Und wusste nicht, was er redete.
Lukas 9,33
Petrus ist wieder der Erste, der zu einem praktischen Gedanken kommt, und der Erste, der es auch hier auf dem Tabor wagt, diesem praktischen Gedanken Ausdruck zu geben. Wir sehen, er ist immer derselbe, der Wortführer für Alle; Allen voran in der Weisheit und in der Torheit, immer eilig, aber auch voreilig, immer wohlmeinend, aber auch, ohne dass er es selbst Wort haben will, voller Eigenwillen. - Auch die Verklärungsstunden auf Tabor haben sein Temperament nicht vernichtet. Nun, das ist auch nicht die Absicht der Schule Jesu. Im Gegenteil, der Original-Mensch, der in einem Jeden steckt, soll grade herausgebildet werden. Auch im Himmel wird Petrus Petrus sein, so gut wie Elias Elias blieb. Aber unser Temperament, unsere gottgeschaffene Natureigentümlichkeit muss in den Schmelzöfen Gottes verklärt, geläutert, geheiligt und vollendet werden.
Dass aber auch ein Petrus solcher Läuterung noch sehr bedarf, zeigt er gerade durch das Wort, das er auf Tabor spricht. Es ist ja wohl recht liebenswürdig, dass er nur für Jesum, Moses und Elias Hütten bauen, sich selbst aber und seine Mitjünger ohne solche behelfen will. Dennoch gilt von seinem Wort: „Da ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind und hatte kindische Anschläge“. Der liebe Mann vergisst auf einmal die ganze übrige Welt; er vergisst, dass es außer ihm auch noch andere Menschen gibt, die ohne Jesus ewig unselig bleiben; er vergisst, dass seine neun Mitjünger unten am Berg sehnsuchtsvoll der Wiederkunft Jesu harren; er vergisst vor allen Dingen, dass er selbst noch ein Sünder ist, weit davon entfernt, still und willenlos zu sein, weit entfernt von der rechten Selbsterkenntnis, weit entfernt auch noch von dem rechten Verständnis seines Heilandes, über den er sich bald ärgern, ja den er schmählich verleugnen wird; - er vergisst, dass man in das himmlische Freudenleben nicht so „mit Sack und Pack“, mit aller seiner Sünde, Torheit, Eitelkeit und Unreinigkeit hineingehen kann, sondern „so nur als durch's Feuer“.
Oder tun wir ihm etwa Unrecht? Verstehen wir seine Gedanken nicht recht? Ach, wir verstehen ihn nur zu gut und wir danken ihm, dass er seine Empfindungen so ausgesprochen hat, uns zum großen Trost. Denn grade so sind wir, ganz dieselben Gedanken und Pläne sind in unseren Herzen!
Dass Fleisch und Blut Gottes Reich nicht ererben können, steht nicht einmal in Gottes Wort, nein, wir finden es auf jedem Blatt. Und stünde es nirgends mit Buchstaben und Lettern geschrieben, so wäre es dennoch mit flammender Geistesschrift in unserem Herzen und Gewissen verzeichnet, dass unser Eigensinn und Eigenwillen, unser Hochmut und unsere Eitelkeit, unser Fleischessinn und unsere Unaufrichtigkeit, unser Trotz und unsere Verzagtheit in den Tod gehen müssen, ehe wir das Angesicht des heiligen Gottes schauen können. Aber solche Wahrheit fasst uns nicht; wir winden uns gerne daran herum, wie sich Einer, der Spießruten läuft, an den Schlägen, die ihn treffen sollen, herumwindet. Aber es hilft nichts, der Herr kommt in seiner Schule immer auf diesen Punkt zurück und sagt auch uns, die wir ohne den Sterbensweg in's Himmelreich eingehen wollen: „Ihr wisst nicht, was ihr sagt.“
Das gilt auch Denen, die in schwerer, leiblicher Trübsal oder die, tiefbetrübt oder vereinsamt durch den Tod ihrer liebsten Angehörigen, sprechen: „Ach, wären wir doch von dieser armen Welt erlöst, wären wir doch schon oben, im Reich der Herrlichkeit!“ O, ihr, die ihr so sprecht, ihr wisst nicht, was ihr redet! Dankt Gott, dass ihr noch in der Schule seid und noch lernen könnt! Was nützt euch alle himmlische Herrlichkeit, wenn ihr nicht innerlich erst der Sünde gestorben und fähig geworden seid, in die Herrlichkeit einzugehen? Das innere Sterben ist die Sache, um die es sich handelt; das äußere Sterben wird der Herr dann zur rechten Zeit bestimmen; nicht äußerlich, nein, innerlich gilt's „in der Welt der Welt entfliehen“'; nicht das Kreuz abzuwerfen, sondern täglich und willig das Kreuz auf sich nehmen, - nicht auf Tabor feiern und Hütten bauen, nicht schwelgen und schwärmen in geistlicher Gefühlsseligkeit, sondern arbeiten, kämpfen, leiden, im Arbeiten, Kämpfen, Leiden sich bewähren, Demut lernen in den Wegen Gottes, treu werden im Kleinen, um einst das Große zu ererben, - seht das gilt's, darauf soll man den Finger legen! dazu soll dir auch jede Taborstunde, jeder Vorschmack des Himmels, dessen du etwa hienieden genießen darfst, nützen und dienen.
Ich hab' von ferne, Herr, deinen Thron erblickt,
Und hätte gerne mein Berz vorausgeschickt,
Und hätte gerne mein müdes Leben,
Schöpfer der Geister, dir hingegeben.
Das war so prächtig, was ich im Geist gesehn;
Du bist allmächtig; drum ist dein Licht so schön.
Könnt ich an diesen hellen Thronen
Doch schon von heute an ewig wohnen!
Nur ich bin sündig, der Erde noch geneigt;
Das hat mir bündig dein heiliger Geist gezeigt.
Ich bin noch nicht genug gereinigt,
Noch nicht ganz innig mit dir vereinigt.
Donnerstag nach Estomihi.
Da er aber solches redete, kam eine Wolke, und überschattete sie, und sie erschraken, da sie die Wolke überzog. Und es fiel eine Stimme aus der Wolke, die sprach: Dieser ist mein lieber Sohn, den sollt ihr hören.
Lukas 9, 34. 35.
Man hat je und je darauf hingewiesen, dass diese drei Apostel, die den verklärten Christus schauen durften, dieselben auch Christum in seiner tiefsten Anfechtung und Not sehen mussten, nämlich in Gethsemane. Ja, überhaupt waren diese Jünger bestimmt vor Anderen, in die Fußtapfen des leidenden, ringenden, angefochtenen Christus hineinzutreten. Der Anblick der Herrlichkeit Gottes sollte sie eben nur stärken zu so besonderem Kampfeslauf und in schwerer Arbeit. Das finden wir auch sonst in der Schrift, dass gerade Diejenigen, die der Herr am herrlichsten ziert und am höchsten hinaufführt, dass gerade sie auch in die tiefsten Tiefen des Leidens und an die schwersten Posten des Kampfes geführt werden. Moses, der 40 Tage lang vor Gott stehen durfte, war der „geplagteste von allen Menschen“. Jesaja schaute Jehovas Herrlichkeit, aber dieses Schauen war nur die Einführung in seinen schweren Beruf. Paulus ward entrückt in das Paradies, dafür aber ging auch sein Weg durch ein Meer der Schmerzen. Die Taborstunden sind nur die Vorbereitung auf die Gethsemanestunden. Darum sehne dich nicht nach Entzückungen, sondern wisse, dass solche Gaben auch die höchsten Aufgaben mit sich bringen.
Umgekehrt aber sollst du die Zeiten, wo dein Gott dich so freundlich und lichtvoll führt, wo er dich innerlich und äußerlich erquickt und seine Freundlichkeit schmecken und sehen lässt, - solche Zeiten sollst du wohl ausnutzen. Nicht so, dass du denkst, wie gut es müsse mit dir bestellt und wie weit du schon müsstest gekommen sein, sondern so, dass du dir sagst: Sieh', nun in diesen guten Tagen gilt's, mich innerlich festigen, stärken, gründen, in den Herrn hineinbauen zu lassen! Es werden früher oder später Tage schweren Sturmes kommen und da sollst du grade, Kraft der Himmelsspeise, die du jetzt empfängst, feststehen, streiten und leiden lernen. - So war es auch bei dem Petrus und seinen Gesellen gemeint.
Was uns nun weiter gesagt wird, dass sie jetzt, da sie die Stimme des heiligen Gottes, das Rauschen seiner Fußtritte vernahmen und von dem Mantel des Ewigen sich gestreift fühlten, dass sie da gewaltig erschrecken, - wundert uns keineswegs. An und für sich kann es uns Unheiligen ja nur grauen vor dem Heiligen. „Ich wünschte doch, wenn ich in den Himmel komme, dass dann der liebe Gott nicht zu Hause wäre, denn ich glaube, ich würde mich sehr vor ihm schämen!“ - so sagte ein kleiner Knabe zu seiner Großmutter, die ihm viel Schönes von Gott und dem Himmel erzählt hatte. Wir freilich lachen über diesen kindischen Wunsch, denn wir wissen, dass auch der Himmel ohne Gott eine Wüste ist. Und doch hat das Kind nur ausgeplaudert, was in jedem Menschenherzen schlummert und was sich doch so Viele nicht gestehen wollen, nämlich, dass wir uns vor Gott schämen müssen, ja, dass wir, auf uns selbst gestellt, total vor Ihm zu Schanden werden müssen. Das „Wehe!“ des entsetzten, Gott schauenden Jesaja, - „Wehe mir, ich vergehe, denn ich bin unreiner Lippen!“ es tönt auch durch unser Herz und muss auch darin tönen, bis wir wirklich in Jesu Christo Den gefunden haben, der uns Unheilige mit dem heiligen Vater vertraut macht, indem Er als Versöhner und Mittler uns mit Ihm verbindet.
So sind auch die drei Apostel auf dem Tabor wegen der Nähe Gottes erst gestillt und getröstet worden, als sie ihr Auge auf Jesum richteten, - auf Ihn, der ja freilich reiner wie der Sonne Glanz und doch in einer Person ihr Freund und König, ihr Bruder und ihr Erlöser war. Und so ist's noch! Niemand kann sich, ohne ein Narr zu sein, auf die himmlische Herrlichkeit und auf die Anschauung Gottes freuen, der nicht der inneren Gemeinschaft mit Christo, der Gemeinschaft seiner Liebe und seiner Zucht, seines Sterbens und seines Auferstehens gewiss geworden ist.
Er spricht zu dir: Halt dich an mich,
Es soll dir jetzt gelingen;
Ich gab mich selber ganz für dich,
Da will ich für dich ringen;
Denn ich bin dein und du bist mein,
Und wo ich bleib' da sollst du sein,
Uns soll der Feind nicht scheiden.
Freitag nach Estomihi.
Und indem solche Stimme geschah, fanden sie Jesum allein.
Lukas 9,36.
Entschwunden waren den Jüngern die verklärten Himmelsgestalten, entschwunden die ganze entzückende Gottesherrlichkeit - dunkle Wolken legten sich um den Gipfel des eben noch hellleuchtenden Tabor; entschwunden war auch bald ihre eigene Entzückung und hohe Begeisterung; der verklärte Christus war wieder in den schlichten, unscheinbaren Erdenpilger verwandelt. Er allein war geblieben, Ihn allein sahen sie, sonst Niemanden. Und dass wir Niemand sehen, als Jesum allein, dahin muss es, (wenn man solches Wort nur recht fasst,) mit jedem Christen kommen. Wir müssen es in seiner Erziehung allmählig lernen, dass Er allein es ist, der uns beseligen und befriedigen kann, und dass wir nur in Ihm Alles haben dürfen, wenn wir es ohne Schaden für unsere Seele haben wollen. Nur Wenige kommen zu dieser Erkenntnis anders als in schmerzlichen Wegen. Ach, wie manche glänzende Lebenshoffnung muss da zunichte werden, wie mancher feine zukunftsreiche Plan muss da, einem Kartenhaus gleich, zusammenbrechen, - wie manches frisch begonnene schöne Werk unvollendet bleiben, um unserer Ohnmacht willen; - wie müssen wir uns bitter täuschen in so manchen Menschen, auf deren Liebe und Treue wir Schlösser bauten, und wiederum wie unerbittlich wird oft die Gemeinschaft mit Denen zerrissen, ohne die uns das Leben eine Wüste zu sein scheint, wie schmerzlich ist es, innerlich erfahren zu müssen, dass alle Ehren, Freuden und Genüsse der Erde uns doch schließlich im innersten Grunde unseres Herzens arm und kalt lassen; am härtesten aber ist es zu erfahren, dass man mit allem eigenen Rennen und Laufen, mit aller eigenen Tugend, Bravheit und Gerechtigkeit auf den Sand geraten ist, das Alles, auf dass nichts und Niemand bleibe als - Jesus allein! Wohl dem Mann, der in dem allgemeinen Schiffbruch seine Hand gefunden hat, der wird dann in Ihm Alles wieder finden, was er je verlor und tausendmal mehr, sich selbst, seinen Gott, ewiges Leben und alle Kreatur im Stande der Verklärung.
Etlichen Menschen freilich ist es anders beschieden; sie brauchen nicht diesen Weg der äußeren Entblätterung zu gehen, wie oben angezeigt. Jahr um Jahr geht ihr Leben dahin über sonnige Höhen und alles Vornehmen ihrer Hand gelingt ihnen. Sie sind die Beneideten des menschlichen Geschlechts, aber sie sind auch die Gefährdetsten. Sie müssen am meisten darüber zittern, dass sie nicht, (ob auch in feiner Weise,) ihre Seele in den Elementen dieser Welt verlieren und des Einzigen, der uns ewig bleibt und ewig beglückt, entbehren zu können meinen. O du Glückskind, sage es dir täglich, dass du nach der Ewigkeit dürstest und dass Niemand die Güter der Ewigkeit dir spenden kann als Jesus allein; lass dich nicht verblenden durch den Glanz um dich her, - er wird schwinden, vielleicht entsetzlich bald, und er wird in Finsternis verwandelt werden. Einmal kommt die Stunde, wo dir Alles entfällt, was dir jetzt teuer ist, - dein Gut, Genuss, Besitz, Bildung, Verdienste, Ehren, Tugenden und Gerechtigkeit. Dann können auch die teuersten Menschen dein Lager nur ohnmächtig und seufzend umstehen; weiter können sie dann nichts. Nicht einmal verstehen, nicht einmal mit dir fühlen können sie dann, geschweige dir Hilfe bringen. Dann ist Nacht Alles um dich her, und du sinkst und sinkst; tiefer und tiefer und immer tiefer; o wie entsetzlich, wenn da Keiner ist, der Macht hat, dich, den Sinkenden, mit starker Hand zu fassen! Der Eine aber, der das kann, wer ist's? Keiner anders als Jesus allein. Selig, wer in der finstern Todesnacht die hehre Lichtgestalt des verklärten, holdseligen, allmächtigen Christus über die schwarzen Wasser schreiten sieht, Ihn auf sich zuschreiten sieht, mit ausgestreckter Liebeshand; - selig, wer dann durch den Glauben Macht hat anzuschauen Jesum allein; nicht anzuschauen Sünde und Satan, die dich verklagen, nicht anzuschauen die Hölle, die dich verschlingen will, nicht anzuschauen den Tod, der nach dir greift, nicht anzuschauen die Welt, die neben dir und unter dir in Trümmer fällt, - sondern einfältig und glaubensvoll anzuschauen Jesum allein.
Solcher Gnaden aber wird nur teilhaftig sein, wem jetzt schon alle Tage die Gemeinschaft mit dem unsichtbaren Jesus innigstes Bedürfnis ist. „Jesus über Alles, alles in Jesu, Alles mit Ihm und nichts ohne Ihn“, das sei unser Wahlspruch. So wird freilich unser zeitliches Leben nicht ohne ein unaufhörliches inneres Sterben sein, dafür aber wird dann auch unser äußeres Sterben nichts Anderes denn eine lichte Freudenpforte zum ewigen Leben.
Es ist noch eine Ruh' vorhanden!
Auf, müdes Herz, und werde licht
Du seufzest hier in deinen Banden,
Und deine Sonne scheinet nicht:
Sieh' auf das Lamm, das dich mit Freuden
Dort wird vor seinem Stuhle weiden!
Wirf hin die Last und eil' herzu!
Bald ist der heiße Kampf geendet,
Bald, bald der saure Lauf vollendet:
So gehst du ein zu deiner Ruh'.
Sonnabend nach Estomihi.
Es begab sich aber den Tag hernach, da sie von dem Berge kamen, kam ihnen entgegen viel Volks.
Lukas 9, 37.
Der liebenswürdigen Unvernunft des Petrus, der auf dem Tabor sesshaft werden will, ehe er aus Gott neugeboren ist, wird ihr keine Antwort zu Teil, oder doch, eine Antwort wird ihm gegeben, freilich nicht in Worten, sondern durch die Tat. Jesus gebietet seinen Jüngern mit ihm aufzubrechen und wieder in das Alltagsleben der Welt hinabzusteigen, das ist die Antwort auf die Baupläne des Petrus. Willig oder unwillig, die Jünger müssen mit dem Herrn in die alten Wege und Verhältnisse hinein. Jeder Schritt, den sie bergabwärts tun, bringt sie dem Gebrause der Welt näher und jetzt, da sie unten ankommen, merken sie, dass die Welt noch ganz dieselbe geblieben ist. Sie finden ihre Mitjünger in einem außerordentlichen Volksgetümmel; disputierende Schriftgelehrte machen ihnen das Leben sauer; ein unglücklicher Vater hat ihnen seinen mondsüchtigen Sohn zur Heilung gebracht und sie haben dem Armen gegenüber ihre Ohnmacht bekennen müssen; obenein werden sie von Jesu wegen ihres Unglaubens gestraft. (Mark. 9,14 ff.)
So kommen denn unsere entzückten Taborpilger alsobald wieder in das ganze Gewirre des Lebens hinein und sie werden sich im Stillen haben sagen müssen, dass sie es vermutlich nicht besser würden gemacht haben, wie die neun Jünger, die unten geblieben waren.
Kurzum, es geht wieder hinein in neue Arbeit, Selbstverleugnung, Kampf und Sturm; vom hohen Berg in die Tiefe, aus himmlischem Licht in's Dunkel des Erdenlebens; aus der Gemeinschaft der Verklärten in die Kreise der Sünder und der Unglücklichen; aus der heiligen Vorfeier des Himmels wieder in die Kreuzesschule. Der verklärte Christus verwandelt sich alsobald in den kämpfenden, der kämpfende in den leidenden, ja, (scheinbar wenigstens,) im Kampf unterliegenden Christus. Da heißt's dann nicht: „Selig sind, die mit mir auf Tabor gewesen sind!“ sondern: „Selig seid ihr, die ihr mit mir beharrt in meinen Anfechtungen; ich will euch das Reich bescheiden, wie mir's mein Vater beschieden hat“.
In Kampf und Anfechtung beharren lernen, den Weg durch Kampf und Anfechtung, Arbeit, Demütigung, Tränen und Täuschungen sich wohlgefallen lassen, weil der Herr ihn so führt, - das ist die Sache. Wer so gesinnt ist, der darf sich dann auf den Tabor freuen, dahin Jesus einst alle, alle seine wahren Jünger führen wird, um sie nie wieder herunterzuführen und wo sie dann nicht in selbstgebauten verwelklichen Laubhütten, sondern in den leuchtenden Wohnungen, die der Vater aller Herrlichkeit aufgerichtet hat, ihr ewiges Daheim finden werden. (Joh. 14,1 ff.)
Bis dahin muss es allen wahren Jüngern genug sein, dass Jesus bleibt, dass Er auch in der Öde und Wüste, auch in den finstersten Tälern, auch in den Tagen des Fastens und der Entsagung, der Ohnmacht und der Demütigung, - dass Er bleibt, - dass Er bleibt, ob Alles wankt, und dass nichts uns aus seiner Hand reißen kann, dass Er uns auch da, wo wir mitten in der Angst wandeln, erquickt und mit seiner Rechten hilft; ja dass in seiner Gemeinschaft uns Alles, Alles zur Seligkeit, das heißt, zu unserer inneren Vollendung dienen muss, bis alles Leidens, Streitens, Weinens, Fallens und Sinkens ewiges Ende gekommen ist, wenn wir dort oben in der Gemeinschaft aller Seligen sein Angesicht schauen in Gerechtigkeit und ewig satt werden, wenn wir erwachen nach seinem Bild. (Ps. 17,15.)
Ach bleib mit deiner Gnade
Bei uns, Herr Jesu Christ!
Dass uns hinfort nicht schade
Des bösen Feindes List.
Ach bleib mit deiner Treue
Bei uns, Herr unser Gott!
Beständigkeit verleihe,
Hilf uns aus aller Not.
Am Sonntag Invocavit.
Er nahm aber zu sich die Zwölfe, und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, das geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn.
Lukas 18,31.
Wir treten heute ein in die Zeit, da wir mit allen Christen des Erdkreises nach Golgatha und Gethsemane pilgern, um unseren Heiland in seinem Leiden und Sterben zu betrachten. Die Kirche hat dieser Betrachtung volle sieben Wochen, also fast den siebenten Teil des ganzen Jahres, gewidmet. Wir wundern uns darüber nicht, denn wir haben es nie anders gewusst. Wir wissen, dass die christlichen Dichter grade das Leiden und Sterben des Herrn mit den begeistertsten Tönen gepriesen haben; wir haben von früh auf gelernt, und die sämtlichen Apostel bezeugen das auch, dass gerade der Tod unseres Heilandes eine unermessliche Bedeutung habe. Wir wundern uns also darüber nicht mehr, und doch ist das eine höchst verwunderliche Sache.
Denn was ist am Ende Leiden und Sterben bei einem Menschen? Was ist es anders, als die traurige Auflösung dessen, was einst schön, stark und herrlich war? Was ist es anders, als der höchste Beweis der Ohnmacht und Nichtigkeit? „Es ist aus mit ihm,“ „er ist dahin,“ pflegt man im gemeinen Leben von einem Sterbenden zu sagen, gleichviel ob er ein Fürst oder ein Kellner, ein Philosoph oder ein Blödsinniger ist. „Denke an dein Ende!“ ruft man dem Hochmütigsten zu, um ihn demütig zu machen. - Es ist darum auch nur ein wehmütiges, mitleidiges Interesse, mit dem wir das Sterben selbst der größten Geister und Heroen der Menschheit betrachten. Es freut uns zu vernehmen, dass der große Napoleon auf seinem Sterbebett die Fehler seines Lebens erkannte, aber er konnte sie doch nicht wieder gut machen; es interessiert uns, dass der sterbende Goethe rief: „Mehr Licht! Mehr Licht!“ aber er konnte doch kein Licht schaffen. Hier wird die vollständigste Ohnmacht offenbar; totale Hoffnungslosigkeit, auch bei den bevorzugtesten Glückskindern dieser Welt, falls sie nämlich nur auf diese Welt zu sehen wissen. Aber auch die Frommsten und Heiligsten wissen in dieser Stunde nichts Besseres zu tun, als sich selber und all ihr Werk ganz zu vergessen und sich ohne allen Vorbehalt in die Arme der göttlichen Barmherzigkeit hineinfallen zu lassen.
Wie ein ganz anderes Ding ist's um den Tod Christi! Er ist nicht ein Zeichen seiner Ohnmacht, sondern seine mächtigste Tat; nicht stirbt er, weil er muss, sondern weil er will; der Tod verschlingt ihn nicht, weil er ihm verfallen ist, sondern weil er sich einsenkt in den Tod. Während er seine Seele in den Tod gibt, nimmt Er die Macht des Todes Dem, der des Todes Gewalt hat, und erlöst Die, so durch Furcht des Todes Knechte sein müssen im ganzen Leben lang. (Ebr. 2,14 ff.) Niemand nimmt sein Leben, sondern Er lässt es von sich selber: Er hat Macht es zu behalten und Macht es hinzugeben in's Todesleiden.
Was also bei uns immer getrennt ist, nämlich das Tun und das Leiden, das Wirken und das Sterben, ist bei Jesu ineinander. Während er scheinbar ohnmächtig und schutzlos von den Gewalten der Welt zerfleischt und zerrissen wird, ist Er in Wirklichkeit nicht nur das Opfer, sondern auch der Priester, der das Opfer bringt. Die Liebe, welche das Leben seines Lebens ist, feiert hier ihren höchsten Triumph, und wenn schon sein ganzer Erdenwandel in jedem Schritt ein Verzichten auf sich selbst und eine vollkommene Hingebung an den Vater war, zur Beseligung der Welt, so vollendet sich diese Hingebung in seinem Todesleiden, da Glauben und Gehorsam die schwersten Proben erfuhren. So wird Jesus, „von Gott verlassen“ und doch festhaltend an Gott, durch Leiden vollkommen gemacht, so gründet er die neue heilige Menschheit, da Er nicht nur die Schuld der alten trägt und tilgt, sondern auch einen neuen Lebensgrund schafft, wo nun Alle, die bußfertig und im Glauben kommen, durch Ihn Gnade um Gnade und Macht zur Gotteskindschaft empfangen sollen.
Wir sehen, dass Christi Sterben nicht ohne Erkenntnis seines Lebens, sein Leben aber nicht ohne Erkenntnis seines Todes begriffen werden kann. Es gibt eine gewisse weitverbreitete „Orthodoxie“, die, über das Leben Jesu weghüpfend, nicht schnell genug von der Krippe Bethlehems aus zu dem Kreuz auf Golgatha kommen kann. Was sie aber auch immer Herrliches und Großes von Christi Blut aussagen mag, wird gänzlich unverstanden bleiben. Es ist aber anderseits der große Fehler des alten und neuen Rationalismus, in Christi Kreuz nur einen rührenden Märtyrertod, einen Beweis seiner Wahrheitstreue bis zum letzten Atemzug zu erkennen. Nein, das Sterben Christi ist unvergleichlich mit dem Sterben jedes anderen Menschen vor Ihm und nach Ihm, denn es ist das Sterben des Heiligen; es ist ein Opferakt, die Vollendung der Opferung, die durch sein ganzes Leben hindurchgeht. Alles, was die Propheten von Christo geweissagt, - Alles, was die Engel von Ihm verkündigt, - Alles, was Er selbst durch sein ganzes Leben hindurch geredet, gewollt, gelitten, gewirkt hat, das Alles gewinnt hier erst sein volles Verständnis. Der Tod Christi ohne Kenntnis seines Lebens würde uns ewig ein Hieroglyph bleiben; aber nicht minder würde das ganze Leben Christi, wenn es statt auf Golgatha auf dem Tabor seinen Abschluss gefunden hätte, für die Welt als Heilandsleben verloren gewesen sein. Nichts wäre geblieben als die wehmütige Erinnerung an eine heilige Lichtgestalt, die einst über die Erde schritt, dann aber als ein Meteor verschwand.
Darum sind auch von der Zeit und Stunde an, da der im Tod erblassende Jesus sein „Vollbracht“ rief, alle seine Jünger mit Jubelklängen und Dankestränen nach Golgatha gewallfahrtet, als zu dem sprudelnden Quell der Gnade, zu dem aufgedeckten Thron der Liebe Gottes. Da bleibt freilich noch vieles geheimnisvoll, aber ein nach Gott dürstendes, nach Versöhnung und heiligem Geist schreiendes Herz wird hier das Zeugnis empfangen: „Du bist am Ziele! bete an!“
An deinem Kreuze steh' ich still,
Es ist mein Heil auf Erden;
Dein Kreuz ist's, was ich preisen will,
Bis ich zu Asche werde;
Kein Frühlingslobgesang
Hat süßern hellern Klang,
Als was die Liebe singt von dir:
„Du starbst für mich, du lebst in mir.“