Funcke, Otto - Tägliche Andachten – 4. Montag nach Epiphanias bis 4. Sonntag nach Epiphanias
Montag nach dem 3. Sonntag nach Epiphanias.
Es ist hier kein Unterschied; sie sind allzumal Sünder, und mangeln des Ruhms, den sie an Gott haben sollten.
Römer 3,23.
„Kein Unterschied“, - das ist eine harte Rede, wer kann sie hören? Ist es denn recht und billig, so in Bausch und Bogen alle Menschen in eine Klasse zusammenzuwerfen? Und doch finden wir diese harte Rede allenthalben in dem Wort des heiligen Gottes. Es setzt keine Kasten und Rubriken unter den Menschen. „Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch und kann nur durch eine neue Geburt fähig werden für Gottes Reich;“ spricht Jesus Christus. Dass Welt überall Welt sei, dass die ganze Welt im Argen liege, dass wir von Natur Alle Kinder des Zornes seien, ist eine gemeine Rede bei allen Aposteln. Drum sagt Paulus auch hier: „Es ist kein Unterschied“.
Scheinbar sind freilich die Unterschiede sehr groß. Wenn Jesu gegenüber die Hohenpriester und Schriftgelehrten, um ihres Herzens Zerrissenheit zu bekunden, ihre Kleider zerreißen, oder wenn die Hausknechte dieser geistlichen Herren Jesu in's Angesicht speien und ihn mit Fäusten schlagen, - da scheint doch ein großer Unterschied. Jene sind feierlich und fromm in ihren Formen, diese sind gemein und roh. Aber der Unterschied fließt nur aus der Verschiedenheit ihrer Bildung und ihres Standes. Der Grund des Herzens, der Widerwille gegen das Überweltliche, Göttliche, Innerliche ist bei den Einen und andern derselbe. Wenn Pilatus vor allem Volk seine feinen aristokratischen Hände wäscht, so ist das sehr effektvoll und ergreifend und eines so gebildeten Mannes würdig; wenn aber die Soldaten mit roher Faust Jesu eine Dornenkrone in's Haupt drücken, so scheint das viel gemeiner. Dennoch ist kein Unterschied: das Eine und Andere ist Welt, Natur, Fleisch. Wenn die „Töchter Jerusalems“ mitleidig und teilnahmsvoll hinter Jesu her weinen, die Männer dagegen unter dem Kreuz noch den Leidenden verspotten, so scheint da ein himmelweiter Unterschied zu sein. Und doch, die Weiber folgen ihrem sanfteren Zug, der mit dem tragischen Schicksal eines jungen Mannes Mitleiden hat, jene Spötter wollen sich dagegen den Stachel ihres Gewissens wegspotten. In beiden Fällen ist nur „Natur“, nichts was einen göttlichen, ewigen Wert hat.
Wenn ein Kannibale auf den Südsee-Inseln mit grinsenden Zügen Menschenfleisch verzehrt oder wenn ein Priester am Hochaltar rein geschäftlich, obgleich mit den feierlichsten Gebärden, vor der knieenden Menge die Monstranz hochhält oder meinetwegen auch, wenn ein evangelischer Prediger mit erschütternden Worten Buße predigt, sich selbst aber dabei vergisst, - das ist alles, trotz der kolossalen Unterschiede in der Form, derselbe Naturgeist. Der vornehme Herr, der, in kostbarer Kutsche einherfahrend, verächtlich auf den Proletarier niederschaut, und der Proletarier, der mit wütendem Hassesblick jenem Reichen nachschaut, - sie verraten mit ihrem Blick voll Verachtung und voll Wut nur denselben fleischlichen, weltlichen Sinn. Der Sozialist, der auf Weltzertrümmerung sinnt; der reiche Spekulant, der sich über die Sozialisten entsetzt, aber doch auch nur für seinen Beutel sorgt; der selbstzufriedene Fromme, der ehrsam Sonntag für Sonntag zur Kirche schreitet, nur weil das in seiner Familie immer Sitte war; der Sinnenknecht, der von früh bis spät nur darüber aus ist seinem Bauch zu dienen; der große Künstler, der sein ganzes Leben daran setzt, ein herrliches Kunstwerk zu schaffen sich zum bleibenden Ruhm, und von einem höheren Leben will er nichts wissen, sie Alle folgen nur dem Trieb des Fleisches, der Natur, der Welt. Vor Gott ist da kein Unterschied. Für den Staat, für den Bestand der menschlichen Gesellschaft auf Erden ist der Unterschied unermesslich groß. So lange aber der Mensch nur für sein natürliches ich, für seine Stellung in der diesseitigen Welt tätig ist, ist nach dem Urteil Gottes kein Unterschied in dem Grundwesen. Denn sie dienen alle den Weltelementen, welche dem Tod verfallen sind; sie haben Alle nichts in sich, was sie göttlicher Lebensherrlichkeit fähig macht; „sie ermangeln Alle des Ruhms, den sie an Gott haben sollten“.
Der Unterschied fängt erst da an, wo ein Mensch in sich schlägt und eben das einsieht, dass er, so wie er jetzt läuft, dem Eitlen nachläuft und in's Verderben läuft; der Unterschied fängt erst da an, wo er mit sich selber zerfällt und zu Gott schreit um ein neues Herz und einen neuen Geist; der Unterschied fängt erst da an, wo er sich über diese Welt hinaus nach einem Heiligen, Neuen sehnt, das nicht von dieser Welt ist. Das ist dann nicht mehr Welt, Natur, Fleisch, - das ist der Bruch mit diesem Allen, das ist das Auftun und Hinstrecken der Seele zu dem Gegenteil von diesem Allen.
Wie's aber für jenen „Kämmerer“, der Versöhnung suchte, auch mitten in der Wüste einen Gottesboten gab, der sie ihm verkündigte; - wie's für jene „Weisen“, die nach einem Erretter seufzen, auch einen Stern gab, der sie hinleitete, - so wird's auch noch für alle ewigkeitsdurstigen Herzen einen Führer geben, der sie nach Golgatha hinleitet, wo die Sünder dann verstehen lernen, was es heißt: „Ihr werdet ohne Verdienst gerecht aus Gnaden durch die Erlösung, welche durch Jesum Christum geschehen ist“.
Gleich wie sich fein
Ein Vögelein
In hohle Bäum' verstecket,
Wenn's trüb' hergeht,
Die Luft unstet
Menschen und Vieh erschrecket:
Also, Herr Christ,
Mein' Zuflucht ist
Die Höhle deiner Wunden.
Wenn Sünd und Tod
Mich bracht in Not,
Hab' ich mich drein gefunden.
Dienstag nach dem 3. Sonntag nach Epiphanias.
Wer auf den Wind achtet, der sät nicht, und wer auf die Wolken sieht, der erntet nicht.
Prediger Salomo 11,4.
Das Wort müsste eigentlich ein alter frommer Bauersmann erklären. Doch auch wir können begreifen, dass ein Landmann, der immer voll Bedenklichkeiten ist, ob auch wohl Wind und Wetter gut sei und gut bleibe, gar schwer zum Säen kommt; desgleichen dass dem schließlich die Ernte auf dem Felde verfaulen wird, der sich durch jedes drohende Wölklein bange machen lässt und meint: Nein, heute dürfen wir den Erntewagen nicht anspannen; es könnte möglicher Weise ein Gewitter kommen. Wer so immer voll Bedenklichkeiten, Skrupel und Ängstlichkeiten ist, der kommt zu nichts, weder zur Saat noch zur Ernte. -
Da haben wir aber ein Bild von den geistlichen Dingen. Wie oft ist zum Beispiel der sogenannte „gute Wille“ und die beste Absicht da, ein neues Leben, ein Leben mit und vor Gott, anzufangen und dem alten Wesen Valet zu geben, und es kommt doch nichts daran, weil der, den doch Gott gerufen hat, zu sehr auf Wind und Wolken sieht. Es ist eine Klage, die der Dichter im Namen von Unzähligen niedergeschrieben hat:
„Zwar der Schluss ist oft genommen,
Dass ich mich wollt reißen los,
Aber, wenn's zur Tat sollt' kommen,
Fand ich mich von Kräften bloß.“
Hier ist ein Mensch aus schwerer Krankheit vom Rand der Ewigkeit hergekommen; - dieser stand mit heißen Tränen an dem Grab seines Vaters, dieser wieder ist in einer Predigt im tiefsten Grunde seines Gewissens getroffen worden; - ein Vierter wurde bei seiner Konfirmation durch die Hand Gottes mächtig erfasst; - wieder ein anderer ist wie erschüttert durch unerwartete Segnungen Gottes oder durch Rettung aus großen Nöten; - ein Sechster - Siebenter - Achter sind auf andere Weise innerlich erweckt worden. Wie heiß waren ihre Gelübde; wie entschieden ihre Vorsätze; wie fest waren sie innerlich überzeugt, es muss ein Neues mit uns werden! Und doch wurde es kein Neues. Warum nicht? Sie sahen auf Wind und Wolken. Jetzt hieß es in ihnen: Was werden aber die und die unter meinen Bekannten und Verwandten sagen, wenn ich ihnen kund tue, dass ich nicht mehr auf dem alten Wege mit ihnen gehen kann? Wie will ich ihren Spott, ihre Verachtung ertragen? Wie will ich ihren Gegengründen antworten? - Dann wieder hieß es: Wie werde ich die und die alte süße Gewohnheit entbehren, wie werde ich mich von dieser und jener mir so liebgewordenen, wenn auch schädlichen, Gemeinschaft losmachen können? Dann wieder kamen andere Stimmen: du wirst es den Frommen doch nie recht machen können; sie werden dir nie vertrauen, weil du in vielen Punkten nicht mit ihnen übereinstimmen kannst; so wirst du dann ganz allein stehen. Am gefährlichsten aber sind die Bedenken, die aus dem eigenen Herzen aufsteigen: „Meine Sünde ist zu groß, als dass sie mir könnte vergeben werden. Ich bin zu weit abgekommen von dem guten Wege.“ Oder: „der Geist des Unglaubens und des Zweifels hat zu sehr mein ganzes Wesen ergriffen und durchwirkt, aus mir wird doch nie ein rechter Mensch Gottes!“ So denken und so sprechen, das heißt auf Wind und Wolken sehen, und so lange Einer so überlegt, wird er nicht einmal zur rechten Geistessaat, geschweige zur Ernte kommen. Nicht auf Wind und Wolken sollst du sehen, sondern auf Gottes Allmacht und Liebe, auf seine starke Hand, die sich durch Wasser und Feuer hindurch retten wird; nicht auf deine klugen Zweifel, sondern auf die schreienden Bedürfnisse deines Herzens, auf den inneren Jammer, die Öde und Leere, die eben gestillt werden müssen, es gehe wie es gehe, falls du nicht total verarmen und verkommen willst. So steh' auf, brich auf, greif' an! schaue in die Höhe glaubensvoll, - und die Berge werden vor dir zur Ebene werden.
Mittwoch nach dem 3. Sonntag nach Epiphanias.
Des Jahres, da der König Usia starb, sah ich Jehova sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron und sein Saum füllte den Tempel.
Jesaias 6,1.
Es lebt in jedem Menschen von Haus aus eine tiefe Sehnsucht nach einem Etwas, einem Leben, einem Genuss, einem Besitz, einer Liebe, die er selbst nicht näher bezeichnen kann. Die ganze Welt voller Herrlichkeit ist dennoch zu armselig, ihm dieses Etwas zu geben, und aus sich selbst, wenn er auch die reichste Natur wäre, kann er doch nicht schöpfen, was er ersehnt, und auch alle Wissenschaft und Weisheit, Poesie und Kunst der Menschen können die Leere des Herzens nicht ausfüllen. Wohl meint der Mensch, es fehle ihm zu seinem Glück dies und das Irdische, was ihm bis dahin versagt war. So rennt er denn, jagt und läuft, hetzt sich ab und zerreibt sich, das Fehlende zu erlangen. Aber ob er es erlangt oder nicht erlangt, - die alte Sehnsucht bleibt. -
Wohl Dem, der es dann lernt, sein Haupt aufwärts wenden! Wohl Dem, der dann mit den Edelsten und Besten vom Uranfang her beten lernt: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, o Gott, zu Dir! Meine Seele dürstet nach Gott“.
Dann erst, wenn wir erkennen, dass Gott der Vater aller Geister und alles Lebens Fülle ist, dann erst haben wir uns selbst verstanden. Und dann, wenn wir aufrichtig zu Gott schreien, wird auch auf die Dauer das innere Zeugnis nicht fehlen, dass der dürstende Hirsch seiner Zeit zur Quelle kommen wird. Der Prophet Jesaja war eine solche Adlernatur, die immerdar aufwärts schaute. Und weil er zu so besonderem Werk und Leiden berufen war, sollte er hier unten schon, uns Allen zum Nutzen, im Bild offenbart sehen, was seine Seele mit Sehnsucht erfüllte.
Ob im Traum, ob in der Entzückung, - genug, er schaut Jehova sitzen auf erhabenem Thron, hoch über der Welt voll Leid und Tränen, Nacht und Tod. Sollen wir uns wundern, dass er gar keinen Versuch macht, uns den Anblick Gottes zu beschreiben? Können wir doch das Schönste, was wir auf Erden sehen oder erleben, nicht einmal in Worte kleiden. Vollends müssen alle Worte Armut und Ohnmacht sein, wenn es sich darum handelt, Gott zu beschreiben. Es ist tröstlich, dass Jesaja die himmlischen Dinge nicht malen kann, - wäre es ihm möglich, so könnten sie nur verschönerte Erdendinge sein. Gerade, dass der königliche Prophet Worte und Farben nicht findet, muss unserer hoffnungsvollen Sehnsucht neue Flügel geben.
Und doch, ob auch der Prophet verzichten muss, Gottes Angesicht und Gestalt zu beschreiben, sagt er doch genug, uns die geschaute Herrlichkeit ahnen zu lassen: „Der Saum seines Gewandes füllte den Tempel“. Was ist das Kleid gegen Den, der es trägt, und was ist der Saum des Kleides gegen das Kleid selbst? Und doch ist das Geringste an Gottes Gewand genug, um das Herrlichste und Großartigste, was die Erde bot, nämlich den Tempel Jehova's, zu füllen. Welch eine Gottesherrlichkeit wird mit diesen wenigen Worten geoffenbart!
Und weiter berichtet Jesaja (V. 4), die Fundamente und Säulen des Tempels mit ihren Riesenquadern hätten gebebt und das ganze Haus habe sich mit Rauch gefüllt. Was will er Anderes sagen, als dass auch das Heiligste und Herrlichste auf Erden, der Tempel, im Gefühl seiner Nichtigkeit und Unheiligkeit erzittert sei und sich gleichsam in Angst vor dem Licht Gottes mit einer Wolke verhüllt habe? So malt ein Prophet Jehova den Herrn. Aber nicht nur die Grundfesten des Tempels, nein, auch sein Herz erzitterte ob diesem Anblick, wie wir ferner sehen werden. Er erlebte, was der Dichter singt:
Ich hab' von Ferne, Herr, Deinen Thron erblickt
Und hätte gerne mein Herz vorausgeschickt,
Und hätte gern mein armes Leben,
Vater der Geister, dir hingegeben.
Nur bin ich sündig, der Erde noch geneigt,
Das hat mir bündig dein heil'ger Geist gezeigt,
Ich bin noch nicht genug gereinigt,
Noch nicht ganz völlig mit dir vereinigt.
Donnerstag nach dem 3. Sonntag nach Epiphanias.
Seraphim standen über Ihm; ein jeglicher hatte sechs Flügel; mit zween deckten sie ihr Antlitz, mit zween ihre Füße und mit zween flogen sie. Und einer rief zum andern: Heilig, heilig, heilig ist Jehova Zebaoth; alle Lande sind voll von seiner Herrlichkeit!
Jesaia 6,2.3.
Wagt Jesaja auch nicht Gottes Bild zu malen, so sagt er uns doch etwas von der Thronwacht der Seraphim, die über Ihm schweben. Auch diese selbst schildert er nicht. Ihren Sinn und ihr Wesen aber bezeichnet er mit dem, was er erzählt. Mit je zwei Flügeln verdecken sie Antlitz und Füße, mit zweien fliegen sie. In erhabenen Chören aber rufen sie einander zu: „Heilig, heilig, heilig ist Gott!“ -
Diese majestätischen seraphischen Richtgeister also, wie herrlich sie auch sind, verhüllen sich doch Gott gegenüber in der tiefsten Demut. Gott gegenüber dünken sie sich doch nichts und suchen ganz vor Ihm zu verschwinden. Das ist das Eine. - Das Zweite ist, dass sie einander auffordern zum Preis göttlicher Heiligkeit. Nicht dass sie einer den andern verherrlichen, noch weniger jeder seine eigne Macht und Heiligkeit, - nein, Gott zu verherrlichen, darin verlieren sie sich ganz, und das scheint ihnen der höchste Beruf und die höchste Ehre des höchsten Geschöpfes.
Und endlich, wenn es heißt, „mit zwei Flügeln flogen sie“, - was ist damit anders gemeint, als dass sie ausgehen in alle Lande, um Gottes Willen zu vollbringen und allenthalben in der Kreatur sein Lob zu wecken?
Ach, und wir armseligen Menschen von Staub und Asche! Wie sollten wir dieser „seraphischen Theologie“ gegenüber in den Boden sinken! Wie viel tausendmal mehr Grund hätten wir, Füße und Angesicht Gott und Menschen gegenüber zu decken. Und doch wie ist unser falsches, arglistiges Herz darüber aus, seine Unheiligkeit wegzuleugnen und sich schön und rein zu machen. Wie gerne hören wir unser Lob und vergessen des Gottespreises. Wie gerne suchen wir Andere zu erwecken uns zu preisen und nicht Den, dem allein Ehre gebührt! O, lasst uns im Geist oft neben diese Seraphim stellen und recht klein und arm neben ihnen werden!
Aber lasst uns auch dieses beachten: Nicht die Herrlichkeit, nicht die Schönheit, nicht die Allmacht, nicht die Weisheit Gottes ist's, was diese himmlischen Geister in erster Linie besingen, sondern seine Heiligkeit. Die Heiligkeit das ist aber die Eigenschaft, wodurch Gott geschieden ist von allem Unreinen und Sündhaften, von dem ganzen Element der Finsternis, die Eigenschaft, derentwegen Er keine Gemeinschaft haben kann mit irgend einer sündhaften Kreatur. Diese Eigenschaft also wird von Denen, die Gott am nächsten stehen, als die höchste und grundlegende gepriesen. Der begreift also nichts von Gott, der von seiner Heiligkeit nichts wissen will. Das Wort: „Gott ist die Liebe“ ist eine Unwahrheit, wenn es nicht auf der Erkenntnis der Heiligkeit ruht. Der Gott, der so ein gutmütiger Vater ist, und der der Sünde gegenüber „ein Auge zudrückt“, ist nur in der Phantasie törichter Menschen vorhanden. Das Lob einer Gnade und Barmherzigkeit Gottes, darin die Heiligkeit nicht zu ihrem vollen Recht kommt, ist eine Lästerung Gottes. Wo wir Gott suchen, da müssen wir den Heiligen suchen; wo wir uns in Gott hinein retten wollen, können wir es nur, indem wir unsere Heiligung schaffen mit Furcht und Zittern und in allem Lobgesang Gottes, mit dem wir Ihn verherrlichen wollen, muss das „Heilig, heilig, heilig“ der Seraphim den Grundakkord bilden. Auch die Herrlichkeit Gottes ist nur seine enthüllte und ausgewickelte Heiligkeit. So weit nur ist ein Mensch zu Gottes Gemeinschaft tüchtig, so weit er Gottes Heiligkeit liebt und darnach sich sehnt. Wie ist dir bei diesem Gedanken zu Mute?
Majestätisch Wesen,
Möcht' ich dich recht preisen
Und im Geist dir Dienst erweisen!
Möcht' ich wie die Engel
Immer vor dir stehen
Und dich gegenwärtig sehen!
Lass mich dir
Für und für
Trachten zu gefallen,
Liebster Gott in Allem.
Freitag nach dem 3. Sonntag nach Epiphanias.
Da sprach ich: Wehe mir, ich vergehe, denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, Jehova Zebaoth, gesehen mit meinen Augen.
Jesaja 6,5.
Ist das nicht ein wunderbarer Kontrast? Wir sehnen uns zu Gott hin mit einem unendlichen Verlangen und zugleich zittern wir vor Ihm. Wir fühlen, in Ihm ist unseres Lebens Fülle, und doch graut uns vor seinem Angesicht, weil Er der Dreimal-Heilige ist. So war es selbst bei einem Gottesmann wie Jesaias. Nie hatte seine Sehnsucht ein höheres Ziel als das, Gott nahe zu kommen, und jetzt, da er ihm wirklich nahe kommt, schreit er entsetzt: „Wehe mir, ich vergehe!“
Er nennt zunächst seine Lippen unrein, nicht nur weil wir mit unseren Lippen wohl am meisten sündigen, sondern auch weil er mit diesen unheiligen Lippen Gnade und Gericht des heiligen Gottes auf Erden verkündigen soll. - Weiter aber klagt der Prophet: „Ich wohne unter einem Volk von unreinen Lippen“. Auch die Sünden des Volks, von denen er für seine Person frei war, sieht er dennoch als seine Sünden an. Die heiligen Männer Gottes haben das alle so verstanden, dass die Last ihres Volkes auch ihre Last sei. Sie haben sich nicht über den „unheiligen Haufen“ gestellt, sondern die Sünde des Volks auch mit empfunden als ihre Sünde, als ihre Not. Das gab ihnen dann bei allem Ernst die rechte Milde und Geduld und ihren Strafpredigten den rechten Ton, dass sie die Aufrichtigen nicht verbitterten, sondern in's Gewissen trafen. Ach, dass wir Alle von dieser Zusammengehörigkeit recht etwas verständen!
Aber nicht nur die Prediger müssen dieses „Wehe mir“! kennen, sondern Alle, denen es um die Gemeinschaft Gottes ein rechter Ernst ist. Wer davon nichts weiß, der weiß auch noch nichts von Gott, der hat von seiner belebenden Nähe noch nie einen Hauch verspürt. Die Erkenntnis der eignen Schuld und Unheiligkeit ist der erste Schritt, um zur wahren Heiligkeit zu gelangen.
Das ist aber gerade der Fehler unseres Geschlechts, dass man von der eigenen Sünde und von Gottes Heiligkeit nichts wissen will. Den Einen ist das Wort Sünde überhaupt ein Phantom, worüber sie hohnlachen; sie kennen nur Naturtriebe und ihnen zu folgen sei die rechte Weisheit. Andere machen sich, gleich den Pharisäern, ein Bild von der Sünde zurecht, das auf jedermann, nur auf sie selbst nicht passt. Erstaunt fragen sie: „Warum sollte ich vor Gott zittern? ich wüsste nicht, warum ich nicht Mut haben sollte vor Gottes Angesicht zu treten“? Aber die rohesten Lasterknechte, die angefangen haben an ihre Brust zu schlagen, sind Gott näher als diese Pharisäer.
Wenn wir mit zwei offenen Augen zu Gott hinauf- und in uns selbst hineinblicken, da wird dieses „Wehe uns“! in uns geboren. Da durchzuckt es uns, dass wir überall verhaftet sind mit dem Element der Finsternis und Unreinigkeit, dass wir mit tausend Ketten an die untere Welt gebunden sind und immer wieder, wenn wir uns aufwärts strecken wollen, wie mit einer eisernen Faust herabgedrückt werden.
Was hilft da alles Räsonieren und Disputieren, da man sagt, wie Gott uns verantwortlich machen könne für die Sünde, die wir doch von unseren Vätern ererbt hätten? Das Geheimnis von der Erbsünde wird gelichtet durch das Wort von der Gnade, die für Alle ist. Aber ehe wir uns deren getrösten, müssen wir doch erst erkennen, dass wir, so wie wir sind, für Gottes Reich total unfähig und rettungslos dem Tode anheimgegeben sind. Wir müssen unserer tausendfachen persönlichen Schuld gedenken und die Augen nicht verschließen vor den finsteren Gespenstern, die aus Vergangenheit und Gegenwart aufsteigen und uns an diese und jene Stunde erinnern, wo wir nicht sündigten weil wir mussten, sondern weil wir wollten. Kurz, ehe wir Gottes Liebe und vergebende Gnade erfahren, muss sich die Sehnsucht nach Gott in heilige Angst vor Gott verwandeln. - Herr, mache uns nur aufrichtig!
Ach Gott, wenn mir das kommet ein,
Was ich mein Tag begangen,
So fällt mir auf das Herz ein Stein
Und bin mit Furcht umfangen.
Da ich weiß weder aus noch ein
Und müsste stracks verloren sein,
Wenn ich dein Wort nicht hätte.
Sonnabend nach dem 3. Sonntag nach Epiphanias.
Da flog der Seraphim einer zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm; und rührte meinen Mund und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen gerührt, dass deine Missetat von dir genommen werde und deine Sünde versöhnt sei.
Jesaias 6,6.7.
Sünde offenbaren und über der Sünde Angst machen, das konnte bis auf einen gewissen Punkt auch das Gesetz, ja sogar manche der heidnischen Religionen. Aber Sünde tilgen und einen neuen heiligen Geist im unheiligen Menschen schaffen, das kann nur der Gott, der in Jesu Christo erschienen ist. Darauf deutet auch das, was Jesaja im Sinnbild schaute. Wir nehmen aus diesem geheimnisvoll-großartigen Vorgang für heute nur so viel, dass der Mensch sich nicht selbst entsühnen kann, sondern dass Gott ihn entsühnen muss durch einen Akt freier Liebe, - dass aber Gott das auch nicht nur kann, sondern dass Er es auch gerne will, und dass Er es bei einem Jeden will, in dessen Herz ein tiefes Wehe über die Sünde lebt.
Die Kohle, die den Propheten entsühnte, ist so alt wie die Sünde der Menschen alt ist. Schon im Paradies, und überall, wo Menschen in wahrhaftigem Schmerz über ihre Sünden trauerten, ist von dieser Kohle die Rede. Wir müssten auch an der Gottheit des Gottes verzagen, der die Menschheit so angelegt hätte, dass Sünde und Tod erblich sind, wenn nicht auch von Vorne herein der Weg der Rettung für Alle in seinem Plan war. Gott wäre nicht Gott, wenn Er die Sehnsucht nach seiner Gemeinschaft und nach Erneuerung des eigenen inneren Lebens in uns hineingesenkt hätte und uns doch ewig nicht aus der Sehnsucht zur Erfüllung leiten wollte. So aber heißts: „Er hat alles beschlossen unter den Unglauben, auf dass Er sich Aller erbarme“! Das stand von Ewigkeit her fest, und durch alles Donnerrollen und Sturmgebrause, Erdbeben und Feuer des alten Bundes hindurch tönt eine sanfte Stimme, die von der kommenden Versöhnung redet und nach Golgatha hinlockt. Aber erst in dem Kreuze Christi hat die Kohle des Jesaja ihre volle Wahrheit, Gestalt und Lebenskraft gewonnen; in Christo ist die Sühnkohle Gottes Person und Leben geworden.
„Nur Einer stehet an der Pforte,
Der einst mit heil'gem Feuer kam,
Und diese Welt mit sanftem Worte
Vielliebend in die Arme nahm,
Wer will, soll auf zum Kreuze sehen,
Denn Keiner wird zum Himmel gehen,
Dem nicht von diesem Brandaltar
Ein Funken in der Seele war.“
Möchte uns das Allen tief in's Herz geschrieben sein, so würde unser Keiner mutlos und trostlos über seine Sünden bleiben. Es ist eine Erfahrung, die jeder Aufrichtige machen kann, dass gerade dann, wenn wir über unsere Sünde so recht zerknirscht sind, wenn wir über unsere innere Ohnmacht und Unreinheit von Herzen trauern, - wenn wir tief gedemütigt sind wegen der so ganz unmerklichen Fortschritte in der Heiligung, oder gar über neue schmerzliche Sündenfälle, - dass wir grade dann, wenn das „Wehe“ des Jesaja am mächtigsten in uns lebt, dass wir grade dann uns auch am seligsten von der sühnenden Kohle des göttlichen Altares berührt fühlen; dann grade wird das Wort von der Vergebung eine entzückende Himmelskraft und durch die bittersten Tränen hindurch schauen wir dann ahnungsvoll einen Ausgang, da Alles, Alles Licht und Frieden und Heiligkeit sein wird. -
„Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger“, und vom Anfang der Welt her haben von der Gnade Gottes Die am meisten verstanden, die über die Sünde am tiefsten trauerten, Männer wie David, Jesaja, Petrus, Paulus, Augustinus und Luther.
Ob bei uns ist der Sünde viel
Bei Gott ist viel mehr Gnade,
Sein Hand zu helfen hat kein Ziel,
Wie groß auch sei der Schade.
Er ist allein der gute Hirt,
Der Israel erlösen wird
Von seinen Sünden allen.
Am 4. Sonntag nach Epiphanias.
Und seid begierig nach der vernünftigen lautern Milch, als die jetzt geborenen Kindlein, auf dass ihr durch dieselbe zunehmt.
1. Petri 2,2.
Man schaue doch so ein kleines Kindlein an, mit welcher Begierde und Wonne es die Mutterbrust sucht! Wie es sich erlabt an der Lebensquelle, die ihm hier sprudelt! wie es je und dann ablässt, um seine Augen voll Dank und Wonne in die Augen der Mutter einzusenken, und dann auf's Neue mit doppeltem Eifer zu trinken! Eben also, (sagt der Apostel,) sollen „die Christen begierig sein nach der vernünftigen lauteren Milch des Gotteswortes“. Der Apostel fürchtet nicht, dass die Jünger Christi, denen er schreibt, sich beklagen und sprechen werden: „Was? wir sollen noch den jüngstgeborenen Kindern ähnlich sein? Wir? Wir haben schon tiefe Erkenntnisse und Erfahrungen in den Wegen Christi gesammelt, ja wir haben schon viel erlitten um seines Namens willen“. So haben diese Leute nicht gesprochen, obgleich sie schon dergleichen hätten vorbringen können.
Sie haben gewusst, dass auch die geförderten Jünger wohl tun, sich noch als Kinder zu fühlen, die der eben so leichten wie stärkenden Nahrung der göttlichen Milch bedürfen und noch gar weit entfernt sind von dem Ziel des vollkommenen Mannesalters, dazu sie berufen wurden.
Und weil sie sich als Kinder fühlen, so wissen sie auch, dass sie sehr oft der Nahrung benötigt sind. Unzählige „Christen“ gleichen den Kamelen, welche sich auf einmal für die lange Zeit des Wüstenweges ihren Bauch mit Wasser füllen, um dann keines weiteren Trankes zu bedürfen. Nun ist's ja ein Heil, dass Gott die Dromedare so geschaffen hat, dass sie's aushalten können. Wie sollten sie sonst in der wasserleeren Wüste erhalten bleiben? Der Christ aber kann nicht von seinem inwendigen Vorrat zehren; er muss dem Kind gleichen, das, kaum getränkt, wieder begierig nach der Mutterbrust ausschaut.
Wie ist's nun mit deiner Begierde? Bist du dem Kinde ähnlich und suchst du einfältiglich nur Nahrung? „Lauter“ musst du das Christuswort haben, das heißt: ohne Zumischung von allerlei Menschenweisheit, möchte sie auch noch so fromm scheinen. „Vernünftig“ muss sie sein, das heißt: deinem Stand und Bedürfnis entsprechend. Also nicht, dass du dich in allerlei Grübeleien und Spekulationen über das 1000jährige Reich, über Prädestination und Wiederbringung, Fall der Engel und Bekehrung des Teufels, Zustand der Unterwelt und Beschaffenheit des Auferstehungsleibes und dergleichen verlierst, sondern Speise suchst mit heiliger Begierde. Was muss ich tun, Leiden und Lassen, damit ich selig werde, dass ich von meinen Sünden erlöst, Frieden, Vergebung und Gewissheit meines Heiles erlange? Was muss ich tun, um zu meinen Mitmenschen in das richtige Verhältnis zu kommen und meine Stelle auf Erden nach Gottes Willen auszufüllen? Was muss mit mir geschehen, damit ich licht und stark werde nach meinem inwendigen Menschen?
Wenn solche Gedanken dich durchflammen und zur heiligen Sehnsucht in dir werden, dann kann dir Gottes Wort die Nahrung nicht versagen. An dem kleinsten Sprüchlein, z. B.: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden,“ - wirst du dann Stunden lang, ja Tage lang, zehren können. Nicht wie ein Gelehrter, der nur zu oft die Schrift als eine Materie betrachtet, an welcher er seinen Scharfsinn beweisen kann, nein, wie ein hungerndes Kind die Mutterbrust anschaut, so musst du solch ein Sprüchlein fassen. Bei dem „selig“ sollst du dir erst einmal klar machen, was das denn eigentlich ist, was dich jetzt so unselig macht, äußerlich und innerlich, und dir dann das Gegenteil von dem Allen, so mächtig du nur kannst, ausmalen, um etlichermaßen zu fassen, welch ein freudenreich Ding das ist: „selig sein“. Nun weiter: „Selig sein sollen alle Die, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit“. Hier musst du einmal alle die großen Exempel der Gottesmenschen, von denen dich dünkt, dass sie nach der Gerechtigkeit hungerten, in's Auge fassen und so lernen, was denn wohl unter der Gerechtigkeit verstanden sei? An ihnen sollst du dich spiegeln, untersuchen, ob auch in dir so ein lauteres Verlangen sei, aus aller Gefangenschaft und Lüge und böser Lust, Eigenwilligkeit und Unlauterkeit herausgerissen und vor dem Heiligen in der Höhe so zu werden, wie du sein sollst.
Doch wir müssen hier schon einen Punkt setzen; es schadet auch nicht, wenn nur die Kindesbegierde nach göttlicher Nahrung in dir ist, wird sich das Trinken von selber machen. Die hungrigen Kinder wissen schon die Mutterbrust recht zu fassen, ohne dass sie ein Kollegium darüber gehört, wie sie's anfangen sollen. Du aber bitte, ringe nur nach lauterem Hunger, und dann falle darüber her. Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle!
Lass deines Wortes Kräfte
Mich immer mehr erfreun,
Lass es mein Hauptgeschäfte
Zu allen Zeiten sein:
Dein Wort zu wiederholen,
So wird's auf's Neue süß,
Sowohl was Gott befohlen
Als was Er mir verhieß.