Frommel, Emil - Ein Vaterunser auf hoher See - Siebente Bitte.
Die Gnade unseres Herrn und Heilands Jesu Christi und die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns Allen. Amen.
Ev. Lukas 11, 1 bis 3.
Wenn ihr betet, so sprecht: Unser Vater in dem Himmel! Erlöse uns von dem Übel! Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Wir beten heute die letzte Bitte im Vaterunser: „Erlöse uns von dem Übel.“ Diese Bitte wird mit der anderen: „Unser täglich Brot gib uns heute“, am meisten von den Menschenkindern gebetet; ja es ist vielleicht manchmal die einzige, die ein Mensch noch betet, wenn ihm Not und Tod an der Kehle sitzen. Gewiss! Wer wollte nicht los von allem Übel sein! Aber so schnell geht die Sache doch nicht, und wer nicht die sechs anderen Bitten zum Vorspann nimmt, wird auch die siebente nicht hinauf vor Gottes Thron bringen. Nun uns von dem Allem, was uns drückt, zu befreien, um dann recht angenehm und vergnügt leben zu können, dazu hat uns der Herr diese Bitte nicht auf die Lippen gelegt. Diese Bitte will uns vielmehr
- etwas Lehren;
- etwas fragen, und dann
- aber auch reichlich trösten.
I.
Lehren will sie uns, ein richtiges Urteil über die Welt zu haben. So viel Schönes man auch über die Welt gesagt, gesungen und gedichtet hat - hier in dieser Bitte: „Erlöse uns von dem Übel“, hat der Mund der ewigen Wahrheit ein richtiges Urteil gefällt. Ihn hat ihr Sonnenschein und Glanz nicht geblendet. Er hat ihr ins Herz geschaut und ihr Leid und Weh erblickt. Gewiss ist die Welt kein Jammertal, und der Herr hat sie nie so genannt; aber sie ist auch kein Lustgarten und kein Paradies. Und das will Er uns mit dieser letzten Bitte sagen. Sie ist ein Saatfeld, darauf Korn und Unkraut wachsen, ein Kampfplag, darauf Leben und Tod ringen, eine Schule, darin man lernen oder nichts lernen kann, eine Welt, darin das Übel seinen Play behauptet. Herausbringen lässt sich's nicht, und ist kein Kraut dagegen gewachsen. Wer das einmal mit klarem Auge sieht, der versteht die Bitte. Der weiß, dass wir ein Geschlecht sind, das mit Weinen in die Welt kommt und mit Weinen aus der Welt geht; unser Leben ein angezündetes Licht ist, das alle Tage tiefer herabbrennt. Hiob auf dem Aschenhaufen seines Hauses und Salomo auf dem Königsthron machen dieselbe Erfahrung: „Es ist Alles eitel, ganz eitel.“ So lernt man sich in diese Welt schicken und macht sich auf das Übel gefasst, hat auch ein Auge für alles Leid und Weh und verschließt sich nicht dagegen. Aber man weiß: Wir sind in der Fremde und nicht zu Haus. Das lehrt uns die Bitte.
II.
Sie hat aber auch eine Frage an uns. Zuerst fragt sie uns, ob wir wirklich bei Ihm allein die Erlösung von allem Übel suchen. So Viele gehen erst an andere Schmieden, klopfen an andere Türen an, statt dass sie gleich an die rechte gingen: Sie wollen sich selbst erlösen. Sie sehen das Übel und den Jammer der Welt, da wollen sie wenigstens sich möglichst gute Tage machen und das Leid aus dem Kopf und Sinn schlagen. „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“ ist ihre Erlösung. „Von ungefähr sind wir geboren, von ungefähr fahren wir dahin“, wozu sich also weiter grämen. So übertäuben sie das Übel, das sie drückt, und meinen, es damit los zu sein.
Andere meinen, sich zu erlösen, wenn sie dem Übel Trotz bieten oder mit stummer, kalter Resignation sich in ihr Schicksal ergeben. „So muss man des Todes Bitterkeit vertreiben“, sagte jener Amalekiterkönig, der den Tod leiden sollte, und biss die Zähne übereinander. Andere trösten sich, dass die „Zeit“ Alles heilt, und man nachgerade abgestumpft werde, je älter man wird. Aber Niemand kann sich selbst an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpfe ziehen, und was sich der Mensch selber ohne seinen Gott von Trostgründen am Tage aufgebaut hat, reißt er in der Nacht wieder zusammen.
Wieder andere kennen nur eine Erlösung und die ist der Tod. „Hinaus aus diesem Leben, das wir nicht mehr ertragen mögen“, so rufen sie und gehen den grausigen Weg des Selbstmordes, den Gang aus der Nacht des Lebens in die ewige Nacht des Gerichts und des Todes. Das sind die Deserteure, die in die Arme des Richters laufen.
Du aber hebe deine Augen auf zu deinem Vater im Himmel, bitte Ihn: Erlöse du mich! Aber prüfe dich recht: Willst du nur von leiblichem Elend und Druck befreit sein, von Krankheit, Not und Herzeleid? Und murrst du, wenn Gott dir es nicht nimmt? Gott schickt uns Vieles als heilsame Zucht, was wir als Übel anschauen, und gewiss ist viel sogenanntes Unglück nur ein verschleiertes Glück. Welcher Vater nimmt sein Kind aus der Schule, damit es nichts mehr zu lernen braucht? Nein, von einem Übel will er uns zuerst losmachen: Das ist von der Sünde, vom bösen Gewissen, von Schuld und Strafe, und danach erst von allem Anderen. Erst hat unser Herr dem armen Gichtbrüchigen gesagt: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben“, und danach erst sprach Er zu ihm: „Stehe auf, nimm dein Bette und gehe heim.“
III.
Darum fragt dich diese Bitte auch, von welchem Übel willst du zuerst los sein? Aber dann will sie dich auch reichlich trösten. Gewiss, der uns gelehrt hat, zu bitten: „Erlöse uns“, wird uns nicht in Ketten und Banden lassen. Mitten im Übel kommt uns schon die Erlösung entgegen. Der Herr erspart dem Stephanus die Steinwürfe nicht, aber er lässt ihn nicht bloß die Steinwürfe, sondern auch den offenen Himmel sehen. Wenn Gott auf unsere Bitte die Trübsal nicht nimmt, dann gibt er uns dafür Kraft, sie zu ertragen. Er stellt uns auf einen hohen Felsen, dass wir unter uns den Nebel und über uns den klaren Himmel haben. Wie kann uns doch Gott in allem Leid so getrost machen, dass wir sagen können: „Wir rühmen uns der Trübsale!“ Will ein Fürst Einen ehren, dann gibt er ihm ein Kreuz auf die Brust; wen Gott ehren will, dem gibt Er eins auf den Rücken. Nur dies letzte Kreuz folgt uns in den Himmel, die anderen bleiben auf der Erde. - Aber es schlägt auch einmal die Stunde der Erlösung. Ein „Halleluja in Tränen“ hat die Königin Luise, dieser gute Engel für die gute Sache in den Befreiungskriegen, jenen Psalm genannt, der anfängt:
Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein.“ (Psalm 126.)
Dessen wollen wir uns trösten unterwegs. Wenn man von ferne die Lichter seiner Heimat sieht und die Glocken läuten hört, dann rafft man die letzte Kraft auf, um heimzukommen. So steht auch uns eine Heimat offen, wo der Herr abwischen wird alle Tränen von den Angesichtern, und kein Leid, kein Übel, kein Tod mehr sein wird. Darum harre aus und sprich mit St. Paulo: „Er wird mich erlösen von allem Übel und aufnehmen in Seine Herrlichkeit.'
Wir sind am Schluss des Vaterunsers und fassen es nochmals zusammen mit dem Bilde, das ein alter Bischof der Brüdergemeinde einst gebraucht.
„Im Vaterunser zeigt uns der Herr alle Schätze seines königlichen Hauses. Mit dem goldenen Schlüssel der Anrede: „Vater unser in dem Himmel“ schließt er dir auf.
Wir treten mit der ersten Bitte: „Geheiligt werde dein Name“, in Seine Schlosskirche ein. Da stehen die Seraphim vor Seinem Thron und singen Ihm vor: „Heilig, heilig, heilig“, und die Scharen der Überwinder stimmen mit ein.
Mit der zweiten Bitte: „Dein Reich komme“, führt Er uns in Seinen Thronsaal. Winde und Feuerflammen sind Seine Diener. Er neigt Sein Zepter zu denen, die ihn bitten, und nimmt ihre Bittschriften entgegen.
Mit der dritten Bitte: „Dein Wille geschehe“, sind wir in Seiner geheimen Kanzlei. Da gebietet Er Wolken, Luft und Winden und bricht allen bösen Willen.
Mit der vierten Bitte treten wir in Sein großes Provianthaus und Hofküche und bitten: „Unser täglich Brot gib uns heute.“ Da speist er alle Sperlinge unter dem Himmel, gibt Sonnenschein und Regen und tut Seine milde Hand auf.
Mit der fünften: „Vergib uns unsere Schuld“, klopfen wir an Seine Rentkammer und bitten: „Herr, zerreiße unsere Schuldscheine!“
Mit der sechsten werden wir in Seine Waffenkammer geführt. Wir bitten: „Führe uns nicht in Versuchung“, und ergreifen den Helm des Heils, den Schild des Glaubens, das Schwert des Geistes, den Panzer der Gerechtigkeit.
Mit der siebenten Bitte: „Erlöse uns von dem Übel“, treten wir in seinen herrlichen Schlossgarten mit den rauschenden Bäumen des Lebens und den Palmen des Friedens. So durchwandern wir Sein reiches Schloss und haben nur das Eine Wort auf den Lippen: Ja, Vater! Du hast ein reiches Haus! „Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“„ Amen.
Gebet.
Lieber himmlischer Vater! Zum letzten Mal kommen wir hier zu dir und bitten dich: Erhöre uns! An uns ist es, zu bitten, aber an dir und deiner Treue hängt unsere Erhörung. Gib uns denn, um was wir dich nach deinem Wort und Willen gebeten haben. Bringe uns wieder heim zu allen unseren Lieben auf Erden; bringe uns heim zur ewigen Heimat, wo wir bei dir antreffen, was wir auf Erden verloren haben. Herr, stärke uns auf unserem Pilgerwege, ja:
„Lass uns deiner Pflege
Und Treu' befohlen sein,
So gehen unsre Wege
Gewiss zum Himmel ein. Amen.“
Vaterunser.
Segen.