Frommel, Emil - Ein Vaterunser auf hoher See - Die zweite Bitte.

Frommel, Emil - Ein Vaterunser auf hoher See - Die zweite Bitte.

Ev. Lukas 11, 1 u. 2.

Wenn ihr betet, so sprecht: Unser Vater in dem Himmel, dein Reich komme!

Das ist die kürzeste Bitte im Vaterunser, sie besteht nur aus drei Worten, und doch ist sie die längste und inhaltreichste. Auf die vielen Worte kommt's überhaupt nicht an. Man kann mit vielen Worten sehr wenig, und mit wenig Worten sehr viel sagen. Als der Heiland am Kreuze hing, sprach Er das Wort: „Es ist vollbracht.“ Das ist nur ein einziges Wort, aber es gilt in alle Ewigkeit, und unsere ganze Erlösung, unser Friede im Leben und Sterben ruht darin. So ist's auch mit dieser kurzen Bitte: „Dein Reich komme.“ Ist sie einmal ganz erfüllt, ist Gottes Reich in Herrlichkeit da, dann hören alle Bitten auf, dann ist Gottes Namen geheiligt, Sein Wille geschieht, die Schuld ist vergeben, und wir sind vom Übel erlöst. Darum hat man diese Bitte die selige genannt, weil sie alle Seligkeit in sich fasst, hier zeitlich und dort ewiglich. Die Bitte hat drei Fragen an uns, die wir beantworten wollen:

  1. Bist du in diesem Reiche?
  2. Wirkst Du für dieses Reich?
  3. Hoffst Du für dieses Reich?

I.

In einem Reich leben und sind wir von Natur und Geburt. Wir leben im Reich der Schöpfung, im Weltreich. Jeder hat sein Heimatland und seinen Heimatsort darin, und in den Büchern auf dem Rathause seiner Gemeinde steht sein Name geschrieben mit Geburts-Jahreszahl und -Datum. Gewiss, es ist unsere Freude und unser Ruhm, solchem Reiche anzugehören. Ein Mensch, der sein Vaterland, sein Volk, seine Heimat nicht liebt, ist ihrer nicht wert, und der Dichter hat Recht, wenn er sagt:

„Ans Vaterland, ans teure, schließ' dich an,
Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft.“

Aber dies Reich ist doch ein vergängliches; es kann zerstört werden und vom Erdboden verschwinden, wie denn viele gewaltige Weltreiche untergegangen sind, und deine Heimat kann dir mit Stumpf und Stiel abbrennen. Die Weltreiche haben ihre Zeit und ihre Grenzen, überall steht der Grenzpfahl: Bis hierher und nicht weiter. In dem Weltreich herrscht neben allem Schönen und Guten auch die Sünde und der Tod. Der Friede unter diesen Weltreichen ist nur ein Waffenstillstand, und Jeder muss sich wehren, dass ihm Niemand hereinbricht. Kein Weltreich ist ein Reich des Friedens. Aber Gott Lob, dass wir nicht in diesem Reich allein leben, sondern ein anderes Reich unter uns gegründet worden:

Als mir das Reich genommen,
Da Fried und Freude lacht,
Bist du, mein Heil, gekommen
Und hast mich froh gemacht.

Das ist das Reich Gottes, das uns Jesus Christus gebracht, das Himmelreich, das Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist ist. Auf dies Reich haben die Frommen des alten Bundes gewartet und haben sich dessen in allem Elend getröstet und danach ausgeschaut wie nach dem Sonnenaufgang und gefragt: „Hüter, ist die Nacht schier hin? Wann wird das Heil uns kommen?“ Und siehe, in der Weihnacht ist es gekommen, und mit ihm Gnade, Vergebung der Sünden und ewiges Leben. Zu diesem Reich ist nun Jeder berufen, und seine Tore sind weit aufgemacht. Dies Reich hat keine Grenzen und wird dauern bis auf das letzte Menschenkind auf Erden. Auch du bist berufen worden in der heiligen Taufe. Aber nun gilt es, dass du dem Rufe folgest. Es ist nicht genug, dass Einer, wenn er mit dem Zuge oder dem Schiffe fahren will, die Glocke läuten hört und den Fahrschein in der Hand hat, sondern er muss auch einsteigen, sonst kommt er nicht mit. Wie oft hat dich dein Gott gerufen, mit sanfter und ernster Stimme, in Freude und Leid, und du hast's vielleicht gemacht wie der Landpfleger Felix, der sagte: „Ein ander Mal, wenn ich gelegene Zeit habe, will ich dich hören.“ Oder hast dich entschuldigt, wie die Leute beim großen Abendmahl sich entschuldigten? Prüfe dich, du weißt nicht, ob's nicht das letzte Mal war, dass dich Gott gerufen, und nach dem Himmelreich kannst du dir keinen Extrazug bestellen. Nein, heute, so du Seine Stimme hörst, mache dich auf und komme!

II.

Wirkst du für dies Reich? Sonst kannst du ja nicht bitten: „Dein Reich komme.“ Wer einmal in diesem Reich lebt, in wessen Herzen Friede und Freude aus Gott, Trost und Hoffnung eingekehrt, der bittet auch, dass dies Reich immer mehr zu ihm selbst komme. Denn es will unser Herz ganz einnehmen. Es gibt Leute, die halbieren ihr Herz, das eine Stück geben sie Gott, das andere der Welt. Aber in der Welt schon kann man nur ganze Leute brauchen und im Reich Gottes vollends. Ein halber Freund ist schlechter als gar keiner. Darum bitte, dass das Reich Gottes immer mehr dein Herz mit allen seinen Gedanken und Begierden durchdringe. Sei keine dürre Rebe am Weinstock, kein feiger Soldat im Heere unseres himmlischen Königs. Darum singen wir:

„Herrscher, herrsche, Sieger, siege,
König, brauch' dein Regiment!
Führe deines Geistes Kriege,
Mach' der Sklaverei ein End'!“

Aber dann gilt es, dass wir das Reich auch Anderen bringen und helfen, dass es zu ihnen komme. Wir denken daran, dass noch tausend Millionen von Heiden im Schatten des Todes und in Finsternis sitzen und nichts von einem Reich des Lichts und des Lebens wissen und ohne Trost und Hoffnung in ihr Grab steigen. Ihnen müssen wir die Botschaft senden. Wer da nicht mitarbeitet und doch bitten will: „Dein Reich komme“, der wäre gerade wie Einer, der mit dem Boote wegfahren will und doch den Anker nicht lichtet. Gedenke aber auch daran, dass du mit dieser Bitte gegen deine Brüder und Kameraden eine Verpflichtung hast. In dieser Welt kann Einer des Anderen Engel werden, der ihn in den Himmel führt, oder des Anderen Teufel, der ihn in die Hölle stürzt. Da kann man nicht sagen wie Kain: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Ja wohl, das sollst du sein. Wacht denn nicht hier auf dem Schiffe in der Nacht die Wache für die Anderen alle, dass ihnen kein Leid geschieht? An der schleswigschen Küste, da gibt's Deichhauptleute, die gehen beim Sturm in stiller Mitternacht hinaus an die Dünen und Dämme und sehen zu, dass die Nordsee nicht den Damm durchbricht, und wenn sie merken, dass irgendwo die Flut durchgerissen, da verstopfen sie oft mit ihrem eigenen Leibe die Lücke, bis Hilfe kommt. So soll Jeder sich auch aufmachen, wo er sieht, dass die Flut der Sünde hereinbrechen will beim Anderen, mit Liebe und Ernst ihn warnen und ihm zurechthelfen zum Reich Gottes.

III.

Zuletzt: Hoffe für dies Reich! Zwar ist dieses Reich immer im Kommen, aber es geht durch Kampf und Leiden. Wie klein, wie verachtet war dies Reich, als der Herr zu Pilatus sagte: „Du sagst es; Ich bin ein König. Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Wie gering war es, als der Herr am Himmelfahrtstage zu der Handvoll Jünger sagte: „Geht hin und predigt das Evangelium allen Nationen!“ Durch wie viel Not und Verfolgung ist dies Reich gegangen! Man hat seine Jünger gesteinigt und verbrannt, aber die Wahrheit kann man nicht verbrennen, Sein Reich hat doch gesiegt. „Lass Christum und St. Peter und alle Heiligen sterben, am dritten Tage werden sie doch auferstehen“ sagt Luther. Aber bis dies Reich kommen wird in Herrlichkeit, wird's noch manchen heißen Kampf geben. Wir sehen, wie überall in unserer Zeit ein anderes, finsteres Reich sich aufmacht. Seine Fahne ist blutrot; es proklamiert den Krieg Aller gegen Alle, es will Gott im Himmel trogen und die Throne auf Erden stürzen und Recht und Gesetz aus dem Gewissen tilgen. Da gilt es, fest zu dem Reiche Gottes stehen und wissen: Der Herr behält den Sieg. Im siebenjährigen Kriege sangen die österreichischen Soldaten von ihrem Feldmarschall Laudon:

Wir fürchten ihre Scharen nicht,
Denn Laudon führt den Krieg,
Und Brüder, die Erfahrung spricht:
Wo Laudon, da ist Sieg!

Und doch war's nicht immer so. Wir aber singen von unserem himmlischen Heerführer: Wo Christus ist, ist Sieg! Wer aber an den Sieg glaubt, der wird ihn auch gewinnen! Amen.

Gebet.

Lieber himmlischer Vater! Wir danken dir, dass du uns in das Reich deines lieben Sohnes versetzt hast. Was ist der Mensch, dass du sein gedenkest, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst! So bitten wir dich, lass dein Reich kommen in unsere Herzen in Kraft und Frieden, auf dass wir in demselben leben und dir dienen in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit! Amen.

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autoren/f/frommel/vaterunser2/ein_vaterunser_auf_hoher_see_-_2.txt · Zuletzt geändert: von aj
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