Dräseke, Bernhard - Christentum ist die Muttersprache der Menschheit.
Predigt über Apostelgeschichte 2, 1 ff. am ersten Pfingsttage 1811.
Gesegnet sei das Pfingstfest! Es heil'ge, es erfreue euch Geliebte! Wer es erfahren hat, Religion, du seist ein köstliches Kleinod; wer dich erkannt hat in manchem entscheidenden Augenblick: er juble heute, dass du ausgebreitet bist unter den Menschen! Und wer es noch nicht erfuhr; der suche dich, damit er dich finde, und einst auch Pfingsten halten könne im dankbaren Gefühl seines Glücks! Amen.
Andächtige Brüder! Wenn wir bedenken, wie die verschiedenen Religionen der Erde zunächst immer nur der Gegend und dem Volke angehörten, wo sie ihren Ursprung genommen hatten, und diese Grenzen auch in der Folge nicht überschritten: so muss es uns auffallen, dass das Christentum von solchen Grenzen nicht weiß, sondern, ausgesprochen von seinen ersten Herolden, bald nach allen Seiten hin sich verbreitete, und unter Nationen und Himmelsstrichen von ganz entgegengesetzter Beschaffenheit dennoch heimatlichen Boden fand. Wenn wir sodann erwägen, wie manche Religionsmeinung und Religionspartei nach einer längeren, oder kürzeren Zeit wieder von der Erde verschwand, und hin und wieder kaum eine Spur ihres Daseins hinterließ: so muss es uns auffallen, dass das Christentum nun schon beinahe zwei Jahrtausende hindurch unter einem ewigen Wechsel der heftigsten Verfolgungen, der blutigsten Kriege, der erschütterndsten Ereignisse besteht, allen Umwälzungen des äußeren Lebens furchtlos zuschaut, und ganz das Ansehen hat, die Verheißung seines Stifters bestätigen zu wollen. Wenn wir überdies daran uns erinnern, dass andre Religionen ihre weitausgedehnte Herrschaft unter den Völkern, oft nur der List und der Gewalt, siegreichen Waffen und glücklichen Eroberungen verdanken: so muss es uns auffallen, dass das Christentum solche Mittel von jeher verschmäht hat, und, wie der Meister, schlicht und sanft, alles „Dreinschlagen mit dem Schwerte“ zurückweisend, von der stillen, inneren Macht der Wahrheit seiner Siege über die Gemüter erwartet. Wenn endlich andre Religionen zum Teil gar keinen, zum Teil nur einen verhältnismäßig geringen Einfluss auf die Geistesbildung ihrer Anhänger äußerten, und wohl gar die Rohheit derselben kaum abschliffen: so muss es uns auffallen, dass das Christentum in eben dem Maße, als es irgendwo gläubiger angenommen, tiefer aufgefasst, und frömmer geübt ward, auch die Menschen mehr veredelt, und sichtbarer gehoben, und für die Wissenschaft, für das gesellige Leben, und für die gesamte bürgerliche Wohlfahrt heilsamer gewirkt hat.
Dies alles wäre nun aber schlechthin unerklärbar, wenn diejenigen recht hätten, die das Christentum gern als eine Sammlung willkürlich gebildeter und willkürlich zusammengestellter Sätze über Leben, Bestimmung und Schicksal des Menschen ansehen. Ihnen erscheint, was es lehrt, als weit abliegend aus unserem Gedankenkreise. Ihnen dünkt, was es fordert, als weit hinwegragend über unsre Kräfte. Ihnen kommt das, was es verheißt, als weit aussetzend vor, als ein Glück, das zu hoffen zwar recht süß, das aber auch durch gar nichts gehörig begründet, und eben daher zahllosen Zweifeln und Bedenklichkeiten zu aller Zeit unterworfen gewesen sei. Wie gesagt! Hätten sie recht, diese Menschen: es ließe sich dann, auf keine Weise, begreifen, wie eine der Menschennatur angeblich so fremde und das Menschenwesen so wenig befriedigende Religion, als die christliche, gleichwohl so viele Freunde gefunden, so viele Jahrhunderte sich gehalten, so vielen Einfluss auf das Fortschreiten unsers Geschlechts gezeigt, und dies alles durch sich selbst und die ihr inwohnende eigentümliche Kraft geleistet habe.
Es muss daher das Evangelium unsers Herrn in einem andern Verhältnis zu uns stehen, als jene glauben; und ich ergreife die Gelegenheit, welche mir der heutige Festabschnitt darreicht, umso lieber, dieses Verhältnis bestimmt auszusprechen.
Gott segne meine Worte! Gott segne eure Aufmerksamkeit! Gott segne unsern Glauben mit neuer Kraft und neuen Ermunterungen! Gott gebe uns Allen, uns Allen zu fühlen, dass wir sein und keines Andern sind! Es geschehe also!
Die Zusammenkunft der Apostel, in welcher sie zuerst des neuen Geistes sich einmütig bewusst, und in dem Glauben, dass die Vorsehung Großes mit ihnen bezwecke, selbst durch unvermutete Naturerscheinungen gestärkt wurden, stellt uns dieser Abschnitt dar, meine Brüder. Es ist eine andre Sprache, die sie führen. Es sind andre Ansichten, die sie haben. Es sind andre Kräfte, die sie zeigen. Es sind andere Hoffnungen, für die sie glühen; es ist ein anderer Mut, der sie durchdringt. - Eben darum aber ist auch die Menge, welche hier um sie her kommt, verwundert, und weiß nicht, wo das hinaus wolle. Der Leichtsinn spricht sogar: „Sie sind voll süßen Weins“. Am stärksten drückt sich Aller Befremdung in der Frage aus: „Siehe! Sind nicht diese, die da reden, Galiläer? Wie hören wir denn, ein jeglicher, doch seine Sprache, darin er geboren ist“?
Wie man das Wort „Sprache“ hier auslegen mag; ob man glaubt: die Leute hätten sich gewundert, Jesu Jünger in ihrer „Mundart“ reden zu hören; oder, es hätte sie überrascht, aus dem Munde dieser Fremden ihre „eigenen innersten Gefühle und Überzeugungen“ zu vernehmen: in beiden Fällen bezieht sich das Erstaunen doch nur darauf, dass jeder Anwesende durch ihren Vortrag sich über Erwartung befriedigt fühlte.
Seht diese Wirkung gerade tut auf alle unbefangenen Menschen die Predigt des christlichen Evangeliums. Jeden überrascht sie wunderbar; denn „jeder hört darin die Sprache, worin er geboren ist“. Allen wird ihr Innerstes durch Jesum mit einer Klarheit ausgesprochen, die das Herz ergreift. O, was kann das Verhältnis seiner Lehre zu des Menschen Natur angemessener darstellen als dieser Gedanke! Er beschäftige uns!
Bei einer jeden Religion, meine Brüder, die christliche ausgenommen, lässt es sich nachweisen, welchen Anteil die Eigentümlichkeit des Stifters, des Volkes, des Zeitalters, der Weltgegend, des herrschenden Wissens und Meinens, an der Ausbildung und Bestimmung einzelner Lehrsätze hatte; und wie, unter andern zufälligen Einwirkungen von außen, das Ganze ein Anderes geworden sein würde. Eine solche Religion spricht denn auch nur in der Umgebung das Gemüt vorzüglich an; und verliert, bei veränderter Lage, ihr Gewicht und selbst ihre Wahrheit. Beim Christentum ist es anders. Hier gilt nichts bloß einer Nation, einem Jahrhundert, einem Himmelsstriche, einer Stufe der Bildung, der Einsicht, und des Geschmacks. Hier gilt alles dem Menschen, der Menschennatur, dem wesentlichen Bedürfnis, der allgemeinen Bestimmung, dem ewigen Heil des gesamten Geschlechtes. Und eben daher muss von dem Evangelio unsers Meisters ein jeder bekennen, und der unverdorbenste, reinste Mensch, der Mensch voll Kindeseinfalt wird es am gewissesten tun: „hier find' ich die Sprache, darin ich geboren bin, in diesen Lehren, Vorschriften, Verheißungen drückt sich mein Innerstes aus“.
Wir wollen uns dies jetzt klar und gewiss machen.
Der Mensch will erfahren, woher er sein Dasein habe? Diese Frage erwacht in ihm, sobald er über sich und die ihn umgebende Welt nachzudenken beginnt. Das Christentum kommt ihm entgegen mit der Antwort: „Gott ist's, der Jedermann Leben und Odem allenthalben gibt“;1) „durch seinen Willen haben die Dinge das Wesen und sind geschaffen“2): „er hat gemacht, dass von einem Blute aller Menschen Geschlechter auf dem ganzen Erdboden abstammen, und ein Ziel gesetzt, wie lang' und weit sie wohnen sollen.“3) Der Mensch vernimmt diesen Bescheid und prüft ihn; und siehe! er findet darin „seine Sprache“. Ja, so ist es, bekennt er, so muss es sein. Ein Geist, in seiner Einsicht, Kraft und Liebe ohne Schranken, nicht eingeengt von Zeit und Raum, muss hervorgebracht haben, dieses unermessliche All, und unter den Millionen seiner Kreaturen auch mich. Hieran hab' ich genug. Indem ich mir diesen Gedanken aneigne, weiß ich von keiner Bedenklichkeit mehr, nicht über der Welt Ursprung, nicht über den meinigen. Auch das Wie des Entstehens kann mich nun nicht beunruhigen. „Gott ruft dem, das nicht ist, dass es sei;“4) und es tritt ein in den Chor der Wesen, um dem Schöpfer zu lobsingen.
Der Mensch will klug aus sich selbst werden. Er fühlt sich auf einer Seite klein, gegen ausgedehntere Gestalten, und auf einer andern groß, weil er denkend das Ganze durchdringen kann, und, indem er die Welt beschaut, gleichsam über ihr schwebt. Er bemerkt, dass er in mancher Hinsicht den Tieren gleiche, in anderer jedoch nicht so gebunden sei, wie sie. Ihn verlangt nach einer Erklärung, die seines Wesens Eigentümlichkeit ihm deute. Das Christentum erfüllt dies Verlangen. „Du bist mehr als des Feldes Blume, und als der Vogel in der Luft; du wohnst in dieser Hütte nur; du kannst des Fleisches Lust beherrschen; die Wahrheit zu erkennen und durch sie frei zu werden, hast du Kraft; du bist ein Kind Gottes, mit seinem Ebenbild geschmückt“5) Der Mensch vernimmt diesen Bescheid und prüft ihn, „und siehe! er findet darin seine Sprache“. Ja, so ist es, ruft er, so muss es sein. Ich kann mich, wie nahe sie mir auch stehen, unter den Geschöpfen um mich her, nicht verlieren. Ich vermag mehr als diesen Trieben blind zu folgen. Ich bin fähig zu überlegen, zu wählen, zu entscheiden, mich zu regieren. Ich fühle einer andern Ordnung der Dinge mich verwandt. Hier steht es: „Du bist mein Vater, und ich bin deines Geschlechts“.6)
Der Mensch will seine Bestimmung wissen. Daran zu zweifeln, ob er eine habe, gestattet die Vernunft ihm nicht. Doch welche? muss er fragen. Soll er die Ansprüche seiner Sinne gelten lassen? Soll er das größtmögliche Vergnügen suchen? Soll er nach dem Beispiel anderer sich bilden? Was er sich als seines Strebens Ziel und Regel denken mag ein Irrgarten, ohne Pfad und Ausgang, umgibt ihn. So wendet er sich an das Christentum. Es steht ihm Rede und sagt: „Liebe Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte, aus allen Kräften; das ist das vornehmste Gebot; das andre aber ist dem gleich: liebe deinen Nächsten, als dich selbst. Trachte am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird dir alles Übrige zufallen.“7) Der Mensch vernimmt diesen Bescheid und prüft ihn, und siehe! er findet darin „seine Sprache“. Ja, so ist es, so muss es sein. Wie oft verkannt' ich sie, die Stimme in meinem Herzen; und doch hat sie eben dahin mich immer gewiesen. Wenn an die Begierde ich mich hingab; da floh mich die Ruhe, die Freude. Wenn ich hinaufschaute, wenn ich absagte der Welt, und nach Schönem, nach Trefflichem rang: da war mir wohl; ich pries mich glücklich ein Mensch zu sein. Lieben soll ich, das hab' ich immer gefühlt. Ich kann ja nicht leben, ohne zu lieben. Aber ich kannte die Liebe nicht. Nun weiß ich's: das ist sie, wenn ich dich suche, Herr, mein Gott! wenn ich nichts will, als was du willst, wenn ich Gefallen habe an dem, was von dir kommt, wenn ich demütig verehre deinen Ratschluss, wenn ich wirke, wie du, für das Wohl deiner Kinder, meiner Brüder, und welche „Stund' am Tage“ es auch sei, nie einschlummre in deinem Dienst. Das ist die wahre Liebe: sie üben soll ich hier. Das meine Pflicht, mein Tagwerk, meine Seligkeit; die Stimme des Herrn hat es mir geoffenbart.
Der Mensch will seine Schicksale verstehen lernen. Wer es zuteile, das Maß von Lust und Schmerzen; wer ihn leite, der Fügungen dunkeln Gang; wer sie bestimme, die Gestalt seiner äußeren Lage; wer da verhänge über Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut, Kommen und Scheiden, Leben und Tod; und warum oft gerade ihn das Ungemach suche, während es der nachbarlichen Hütte vorbeizieht; warum oft so lange die Prüfung daure; so seltsam die Beschwerde sich häufe; so widersprechend dem Verdienste das Glück sei; so schuldloses, bescheidenes Warten unbelohnt bleibe, und festlicher Genuss und großes Leid so nahe zusammengrenze? Es will sich darüber Auskunft geben, das gepresste Herz. Grübeln bringt hier an kein Ziel, verfinstert den Blick, umwölkt den Himmel, wirft auf ein stürmisches, klippenbesätes Meer. Christentum hilft aus. „Lasst euch die Hitze nicht befremden, die euch widerfährt, dass ihr versucht werdet. Gott ist getreu; und über seine Kraft versucht er Keinen. Welchen der Herr lieb hat, den züchtigt er; und wie schwer auch die Trübsal dünke, wenn sie da ist, danach gibt sie eine beglückende Frucht.“8) Der Mensch vernimmt diesen Bescheid, und prüft ihn, und siehe! er findet darin seine Sprache. Nicht die Sprache der Anmaßung, und des Eigensinns, und der Ungeduld; aber die Sprache eines in Glauben und Liebe hingegebenen Herzens. Ja, so ist es, fährt er fort, so muss es sein. Diese freundlichen Trostworte, sie sind es ja gerade, deren ich bedarf, danach ich mich sehne. Leg' ich ihren Balsam auf meine Wunden: so schweigt die Klage, die Besorgnis entflieht, und ich atme wieder leicht und frei. „Was fehlt mir im dunkelsten Tal“, wenn die Gewissheit auf mich nieder leuchtet, „dass alle Haare auf meinem Haupte gezählt sind“! Stoße ich sie aber von mir, jene Friedensboten: so nistet in meiner Brust der Gram, und keine Schuhwehr bedeckt mich gegen eine Stimmung, die zuletzt nur mit Verzweiflung und Selbstmord endigen kann. Erziehung, o Erziehung zu höherem, zu dauerhafterem Glück, das ist die leidensvolle Zeit. Mir sagts mein Herz; ich kann nicht irren. Du hast es mir gedeutet durch Lehre, Leben, Tod und Auferstehung, Jesus Christus!
Der Mensch will mit den Hilfen sich befreunden, die er auf dieser dornenvollen Bahn gebraucht. Wer ihn nun unterstütze im ungewohnten, vielleicht ungleichen Kampf; wer sein sich annehme gegen die Reizungen der Sünde; wer ihm beispringe in den Augenblicken der Gefahr; wer ihm erleichtre das große, schwere Werk der Heiligung? Dies zu erforschen, liegt ihm an. Von seinen Brüdern kommt die Hilfe oft; doch nicht für jeden Fall. Ach, in den wichtigsten verlässt ihn ihre Macht und ihre Weisheit. Wie häufig rührt sogar sein Elend, seine Versunkenheit von ihnen her! In dieser Not weist ihn das Christentum hinauf. Baut nicht auf euch, und nicht auf Menschen; und wären's Könige: sie können ja nicht helfen. Von Gott aus zieht ein Helfer in die Welt. In jedem Teil der Schöpfung hat er Mittel für seiner Kinder Heil. Er macht zu seinen Boten die Winde und zu seinen Dienern die Feuerflammen. Er redet zu unserem Herzen durch Anblicke und durch Töne, durch das Lebendige und durch das Leblose. Nie aber hat er kräftiger zu uns geredet als durch den Sohn. Wer da wünscht, dass ihm geholfen werde, und dass er zur Erkenntnis der Wahrheit gelange; ihm reiche er folgsam und vertrauensvoll die Hand; er weicht von seinen Treuen nicht.9) Der Mensch vernimmt diesen Bescheid und prüft ihn, und siehe! er findet darin „seine Sprache“. Ja, so ist es, bezeugt er, so muss es sein. Hier empfang' ich, was mir Not tut. Immer hab' ich‘s geahnt, die Ohnmacht schaffe keine wahre Hilfe; und ich dürfte, sie zu finden, nicht unten hin, nach oben müsst ich schauen. Hier wird es mir ausdrücklich anbefohlen. Hier wird der Grund mir gelegt, darauf ich stehen kann. Hier werden die Waffen mir gereicht, damit ich kämpfen kann. Hier werden die Kräfte mir erneuert, die ich anwenden kann. Nur mit Gott lassen sich Taten tun. So wird, so muss es denn auch mir mit Gott gelingen. Ich fühle es, ich kann zu Niemand Anderem mich halten wollen als zu ihm.
Der Mensch hat aber nicht allezeit zu Gott sich gehalten. Er ist abgewichen. Drum sucht er die verlorene Ruh. Ich muss sie, spricht er, ja, ich muss sie wieder haben, deine Liebe, du, mein Wohltäter von Anbeginn! Ich muss wieder ohne Vorwurf zurückblicken lernen in die alte Zeit. Ich muss wieder dein Kind werden, dein glückliches Kind, von keiner Schuld geängstet. Doch ach! wo ist die Rückkehr, wo der Eingang in dieses Paradies? Er reicht nicht hin, dass ich fortan die Sünde fliehe. Wer nimmt mich gegen das Geschehene in Schutz? Was stumpft die Pfeile ab, womit Erinnerung nach meiner Seele zielt? Das Christentum tritt sanft zu diesem Traurigen. „Heran zu mir, Mühseliger, Belad'ner! Ich will dein Herz erquicken. Der Menschensohn hat auch für dich gelebt, auch dir zum Heil am Kreuze sich geopfert. Es ruhte auf deinem Haupt der Fluch; er nahm ihn auf das seinige. Fürwahr, er trug deine Krankheit, er duldete deine Schmerzen, die Strafe liegt auf ihm, damit du Frieden fändest, und durch seine Wunden Genesung. Das ist je gewisslich wahr, und ein teuer wertes Wort, dass Christus Jesus in die Welt kommen ist, die Sünder selig zu machen.“10) Der Mensch vernimmt diesen Bescheid und prüft ihn; „und siehe, er findet darin seine Sprache“. Ja, so ist es, sagt sein Herz, so muss es sein. Nur der, von dem ich gewichen, kann mich wieder in seine Arme ziehen durch freie Liebe, und mich versöhnen mit ihm selber“; ich kann es nicht. Nur ihm steht es zu, die Schuld mir zu erlassen, die ich gehäuft; ich kann sie nicht bezahlen. Nur von ihm hing es ab, eine Anstalt zu meiner Begnadigung zu treffen, deren geheimnisvolle Herrlichkeit das Wort nicht fasst; ich kann sie nur in Demut ehren. O sei willkommen, Wort vom Kreuze, du Lösegeld für die verpfändete Seele. Du befriedigst mein dringendstes Bedürfnis. Du erfüllst meine heißesten Wünsche. Du bringst mir den Frieden zurück in die innere Zwietracht. Du stimmst ein in das Verdammungsurteil meines Gewissens, und sprichst mich dennoch frei. Du drückst mich zerknirscht in den Staub, um mich entsündigt wieder zu erheben.
Der Mensch will endlich auch über das, was jenseits ist, beruhigt sein. Ob er mit allen seinen Gedanken und Entwürfen im Schoß der Erde sein Ziel finde, oder, ob eine neue Zeit die alte nur ablöse, um ihn höher zu vollenden; ob es verklingen soll, sein Leben, in widrigen Misslaut, oder, ob ein Übergang in reine Harmonien ihm bevorstehe; ob, was ihm hier geschah, des Himmels ganze Vergeltung war für seine Werke, oder, ob noch ein anderes und ein gerechteres Gericht die Zukunft halten möge über Alle, die hier gelebt: nein, das gilt ihm nicht gleich. Ist er ein edler Mensch, desto lieber wird er seinen Ahnungen trauen und desto glücklicher sich fühlen in der Erwartung eines Zustandes, der die seligsten Genüsse der Gegenwart in sich vereinigen soll, ohne einen ihrer Mängel zu haben. Wenn nur nicht durch so manche Zweifel diese Aussicht getrübt würde! Wenn nur in ihrem Hoffen die Seele nicht so oft wankte, als dürfe sie sich selbst nicht trauen! Wenn es hier nur einen Weg gebe zu jener inneren Gewissheit, daran alle Bedenklichkeiten von außen sich brechen müssten, wie am ewigen Felsen die leichte Flut! Hier nahet das Christentum, und verheißt uns eine „Stunde, in welcher Alle, so in den Gräbern sind, hervorgehen werden auf des Menschensohns Stimme; und einen Richterstuhl, vor welchem wir erscheinen müssen, um zu empfangen, je nachdem wir gehandelt haben; und eine Vereinigung der Tugendhaften zur Teilnahme an der Herrlichkeit ihres Mittlers; und eine Dauer dieser Wonne, die nimmer enden wird.“11) Der Mensch vernimmt diesen Bescheid und prüft ihn und traut ihm gern; denn siehe; der Auferstandene, der erhöhte Heiland ist es, der also zu ihm redet; und er findet in jedem Worte seine Sprache, die Sprache seiner süßesten und seiner edelsten und seiner vernünftigsten und seiner gerechtesten Wünsche. Ja, es ist so, ruft er, es muss so sein. Ich bin entweder die abenteuerlichste Missgeburt, und mein Leben ist ein Gemisch von Widerspruch und Verwirrung, und die Augenblicke, wo ich am nächsten der Gottheit mich fühle, sind die lächerlichsten und meine heiligsten Gefühle sind die heilloseste Täuschung; oder, - oder ich werde kommen zu dem Berge Zion, zu der Stadt des lebendigen Gottes, zu dem himmlischen Jerusalem, und zu der Menge vieler tausend Engel und zu der Gemeine der Erstgebornen, die im Himmel angeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über Alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten.“12)
Blickt nun auf diese Reihe von Darstellungen zurück, geliebte Brüder! Was findet ihr? Was wir gleich anfangs behaupteten: Im Christentum hört jeder Mensch „die Sprache, darin er geboren ist“, die Sprache seines innersten, eigentümlichsten Wesens. Können wir nämlich das, was unsre Vernunft erkennt, was unser Herz ahnt, was unser Gewissen fordert, was unsre Sehnsucht stillt, was sich anschließt an unsre heiligsten Bedürfnisse, was unsre ganze Natur in Einklang mit sich selbst bringt, was über Zweifel und Unruhe uns erhebt, und in Augenblicken der Anfechtung uns gewiss macht, dass wir festen Grund haben, und auf rechtem Wege sind; können wir das unsre Sprache nennen, weil das Gegenteil davon die Harmonie in unserem Wesen unmittelbar und schlechterdings zerstören würde: so ist es durch das Bisherige entschieden: Reiner, kräftiger, bestimmter ist diese Sprache, darin wir geboren sind, nirgends geredet worden, als von unserem angebeteten Meister, Jesus Christus.
Wie geschieht es denn aber, dass so Viele diese Sprache gleichwohl nicht verstehen, wenn doch ein Jeglicher nur seine eigene darin erkennen muss?
Meine Brüder, die Sprache der Sinnlichkeit, die der Mensch immer zuerst reden lernt, ist eine andre als die Sprache des vernünftigen und unsterblichen Geistes. Sind wir noch weiter nichts als rohe, eitle, der Begier unterworfene Geschöpfe: so vermögen wir diese legte nicht zu fassen.
Die Sprache der Weltsitte, die der gewöhnliche Mensch am liebsten redet, weil sie sich am leichtesten lernt, ist eine andre als die Sprache des Wesens, das, unabhängig von zufälligen Eindrücken, sich selbst gestalten will nach eigenem besten Wissen und Erkennen. Sind wir nun bloß Nachtreter in fremde Fußstapfen: so ist diese letztere für uns so gut als nicht vorhanden. Wer sie anstimmt, redet, für unser Ohr, in andern Zungen“, und weil er sich selbst klar ist, muss er uns dunkel werden. Seine gesammelteste Fassung nennen wir ein Außersichsein und eine Begeisterung für das Schöne, die bei ihm aus der hellsten Besonnenheit hervorsprüht, „kommt uns vor, wie ein süßer Rausch“.
Die Sprache des Lasters endlich und der Abgestorbenheit für Gott, die der Verworfene redet, um sich selbst zu betäuben, ist eine andere als die Sprache des frommen Glaubens und des zarten Gewissens. Bist du daher erst eingeweiht in jene und übst sie täglich: so hört diese zuletzt mehr und mehr auf, dir geläufig und verständlich zu sein. Du magst sie nicht einmal reden hören. Und auch dich trifft der Vorwurf, den Jesus seinen Feinden machte: „Wäret ihr Kinder Gottes, warum kennet ihr denn meine Sprache nicht? Wer von Gott ist, der fasset Gottes Wort; darum begreifet ihr nicht, denn ihr seid nicht von Gott.“13)
So können wir es denn nicht für eine Widerlegung unsers Hauptgedankens ansehen, dass es Menschen gibt, denen das Christentum nicht wie eine Stimme aus dem eigenen Gemüte tönt, sondern wie ein fremder, verworrener Laut aus unbekannter Welt her. Das Christentum bleibt Ausdruck, reiner, treuer Ausdruck des inneren Menschen. Wer aber noch nicht Mensch geworden ist, oder es nicht mehr ist, der kann ja auch sich nicht wiederfinden in den Worten des Menschensohns.
Teuerste Brüder! Es ist ein Gedanke, der uns erheben muss, dass die Sprache des Christentums die Sprache unsers innersten Wesens ist, und dass wir uns, als in dieser Sprache gleichsam geboren, denken sollen. Wie Vielen heißt das Überspannung, oder Schwäche, wenn in christlichem Geiste ein Mensch auftritt, das Leben anschaut und sein Tun bestimmt! Heißt's uns auch jetzt noch so? Ist es Unverstand, oder ist es Menschenfurcht, oder ist es Sucht, dem großen Haufen zu gefallen, oder welch eine Art der Verkehrtheit ist es, dass wir uns vor der Welt nicht verraten“ wollen durch eine Sprache, die unsre „Muttersprache“ ist? Sind wir denn im Kreise der Gemeinheit nur daheim? Und was nicht niedrige Natur ist, gilt das uns gleich für Unnatur? - Es ist hoch am Tage“, meine Brüder, und wir „sind nüchtern“. O lasst uns fühlen, dass nichts uns höher ehren kann, als Christen zu sein. Lasst uns einsehen, von unserer Willkür hänge es gar nicht ab, Religion zu haben, oder zu verschmähen; vielmehr mache sie den Charakter der echten Menschennatur aus, und die Aufgabe unsers Daseins auf Erden werde nur mit ihr vollständig gelöst. Lasst uns nie anders, als im Lichte der Offenbarungen Jesu unser Wesen anschauen, und unsre Pflichten, unsre Leiden und unsre Hoffnungen; damit wir uns tiefer ergründen und völliger verstehen. Lasst uns erkennen, ein herrliches Geschöpf, mit allen seinen Gebrechen, sei der Mensch; eben darum aber, je erhabener der Standpunkt sei, den wir nehmen, desto gewisser sei er der rechte, und wer sich am edelsten ausspricht, der spreche sich am natürlichsten aus; ein Mensch, ohne diese Weihe, habe entweder sich selbst schon verloren oder auch noch überall nicht gefunden.
Es ziert jedoch nicht allein uns, dass die Sprache des Christentums die eigentümliche Sprache unserer Natur ist, sein Inhalt wird dadurch ebenso sehr verherrlicht. Denn der doppelte Beweis liegt hierin, dass es die einzig wahre, und eben deshalb eine von Gott selbst ausgegangene Religion sei. Alle übrigen sogenannten Religionen sind zwar auch Versuche, und zum Teil schätzbare Versuche, die Verbindung des Menschen mit der übersinnlichen Welt darzustellen, und sein Leben in Beziehung auf dieselbe anzudeuten; aber, sie sind nicht alle in gleichem Maße gelungen, und dem Evangelio Jesu ist keine auch nur an die Seite zu stellen, geschweige denn vorzuziehen. Dankbar denn, o innig dankbar, nehme jedes Herz des Christentums heilige Lehren auf! Dankbar erwäge Jeder, wie viel, für die Verbreitung derselben, durch Gottes Güte veranstaltet, und durch den hohen Sinn preiswürdiger Menschen gewirkt, geduldet, geopfert ist! Dankbar begehe dich jeder Anhänger Jesu, du ehrwürdiges Fest, das die Erinnerung hieran neu beleben soll! Dankbar streue, in seinem Wirkungskreise, auch der Geringste, des Glaubens und der Tugend schönen Samen aus, damit immer gesegneter unter den Menschen werde der Name des Meisters.
Denn, dass sein Werk untergehen solle, dazu ward es nicht vollbracht, meine Brüder. Es entstand zwar in der Zeit, aber nicht für die Zeit, zwar durch Menschen, aber nicht aus Menschen, sondern aus Gott. Ein Werk aus Gott“ ist es, und es „dämpfen“ wollen, hieße „streiten wider den Allmächtigen“. Lasst daher noch Veränderungen über Veränderungen eintreten: lasst verloren gehen, was euch für Kind und Kindeskinder gesichert schien; lasst Neues veralten und Gewesenes wiederkehren in ewigem Kreislauf, und Begriffe sogar und Meinungen wechseln, mit Kleidertracht: das werdet ihr nie erleben, niemals, und kein künftiges Zeitalter wird es erleben, dass das Christentum verschwände vor einem neuen und andern Glauben. Kann Wahrheit denn je aufhören Wahrheit zu sein? Oder kann die Menschennatur eine andere werden, als sie nach des Schöpfers Ratschluss ist? Seht! So kann auch kein Meister kommen, und wäre er ein „Engel vom Himmel“, der durch eine neue Predigt das Wort des Einen, der „unser Aller Meister ist“, abschaffte.14) So gewiss, als im Christentume jeder Mensch die Sprache vernimmt, darin er geboren ist, so gewiss kann das Christentum nur mit der ganzen Menschheit und Menschennatur zugleich untergehen.
Fasst hier den Sinn, meine Brüder, und den Grund der Beteuerung Jesu: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht.“15) Erwägt den Ernst des Ausspruchs: „das Wort, das ich geredet habe, das wird euch richten am jüngsten Tage.“16) Lernt endlich, weil die Menschheit von Natur keine andre Sprache hat und haben soll als dieses Wort, wie auch das für Jeden unter uns sich einst bestätigen müsse: „Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt, aus deinen Worten wirst du verdammt werden.17) Eben darum aber werde allezeit eine Sprache von uns geführt, die, wie fremd“ auch der „Menge“, doch unser würdig, eine echte „Prophetensprache“ sei. Meine ich bloß Worte? Nein! In unserem ganzen Tun und Lassen, in allen unsern Ansichten und Gesinnungen, in unserem stillen und öffentlichen Leben spreche es sich aus, dass wir „von oben herab“ wie unser Meister, dass wir Kinder Gottes, und Erlöste des Herrn sind.