Calvin, Jean - Der Römerbrief - Kapitel 2
1 Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der da richtet. Denn worin du einen andern richtest, verdammst du dich selbst; sintemal du eben dasselbe tust, was du richtest. 2 Denn wir wissen, dass Gottes Urteil ist recht über die, solches tun.
V. 1. Diese Strafpredigt richtet sich gegen die Heuchler, welche dem menschlichen Auge einen Schein äußerlicher Heiligkeit vorspiegeln und welche zuletzt auch vor Gott so sicher werden, als hätten sie allen seine Ansprüchen Genüge geleistet. Zu diesem scheinheiligen Geschlechte, welches durch den zuvor aufgestellten „Lasterkatalog“ sich nicht getroffen fand, wendet sich Paulus nun, nachdem die gröberen Laster hinreichend abgehandelt: denn keiner sollte sich der Gerechtigkeit vor Gott noch rühmen dürfen. Die sehr durchsichtige Beweisführung nimmt solchen Heuchlern alle Entschuldigung, weil auch sie Gottes gerechtes Gericht kennen und trotzdem das Gesetz übertreten. Paulus gibt zu verstehen: wenn du auch die Laster der andern nicht billigst, ja dich geflissentlich als Feind und Richter des Lasters aufspielst, so hast du doch keine Entschuldigung, weil du bei ehrlicher Betrachtung dich selbst von solchen Fehlern nicht frei finden wirst. Denn worin du einen andern richtest usw. Damit steigert sich die Rede: du bist doppelt verdammlich, weil du deine eigenen Fehler bei andern aufsuchst und unter Anklage stellst. Es ist ja eine bekannte Wahrheit, dass, wer von Andern Rechenschaft über ihr Leben fordert, sich selbst in besonderem Maße zur Reinheit, Zucht und jeglicher Tugendübung verpflichtet. Lässt er sich aber die Fehler zu schulden kommen, die er andern vorhält, so verdient er keine Gnade. Sintemal du eben dasselbe tust. Mit diesem Tun muss nicht gerade die äußerliche Handlung gemeint sein: es deutet vielmehr auf die innere Gesinnung. Denn die Sünde wurzelt recht eigentlich im Herzen. Darum fällt unser Urteil auf uns selbst zurück. Der Tadel, den wir aussprechen, kann ja nicht auf die Person des Diebes, des Ehebrechers, des Verleumders usw. beschränkt werden. Er trifft die Sünde als solche -, und deren Keime stecken auch in uns.
V. 2. Denn wir wissen, dass Gottes Urteil usw. Paulus will den Heuchlern den Selbstbetrug austreiben: es hilft ihnen gar nichts, dass die Welt sie lobt, oder dass sie sich selbst freisprechen. Denn eine viel strengere Prüfung wartet ihrer im Himmel. Wenn Paulus uns der inneren Befleckung bezichtigt, die doch Menschen nicht sehen, also auch nicht beweiskräftig feststellen können, so zieht er uns damit vor das Gericht Gottes, vor dem auch die Finsternis licht ist, welchem niemand entgehen wird. Gottes Urteil aber ist recht in doppeltem Betracht: es straft die Sünde ohne jedes Ansehen der Person, bei der sie festgestellt wird; und es gründet sich nicht auf den äußeren Schein: man befriedigt es nicht mit Werken, die nicht aus reinem Herzen kommen. Keine Maske zur Schau getragener Frömmigkeit wird Gottes Gericht abhalten, in die verborgenen Winkel der Sünde einzudringen.
3 Denkst du aber, o Mensch, der du richtest die, so solches tun, und tust auch dasselbe, dass du dem Urteil Gottes entrinnen werdest? 4 Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmütigkeit? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet? 5 Du aber nach deinem verstockten und unbußfertigen Herzen häufest dir selbst Zorn auf den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, 6 welcher geben wird einem jeglichen nach seinen Werken: 7 Preis und Ehre und unvergängliches Wesen denen, die mit Geduld in guten Werken trachten nach dem ewigen Leben; 8 aber denen, die da zänkisch sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber der Ungerechtigkeit, Ungnade und Zorn; 9 Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die da Böses tun, vornehmlich der Juden und auch der Griechen; 10 Preis aber und Ehre und Friede allen denen, die da Gutes tun, vornehmlich den Juden und auch den Griechen.
V. 3. Denkst du aber, o Mensch usw. Die bisherigen Sätze hatten das Ziel erreicht, Menschen, die sich mit selbst gemachter Heiligkeit betrügen, im Gerichte Gottes und des eigenen Gewissens zum Einverständnis ihrer Sündhaftigkeit zu bewegen. Nun gestaltet sich die Rede zu strengerem und eindringlichem Vorwurf. Und das ist nötig: denn derartige Menschen pflegen sich in eine wunderbare Sicherheit zu hüllen. Man muss ihr falsches Selbstvertrauen schon heftig angreifen. Hier lernen wir die beste Methode für die Erschütterung des heuchlerischen Selbstbetrugs kennen: die Menschen müssen aus ihrer Trunkenheit aufgeweckt und in das Licht des göttlichen Gerichts gestellt werden. Dass du dem Urteil Gottes entrinnen werdest. Die Schlussfolgerung steigt vom Geringeren zum Größeren auf: schon das irdische Gericht straft die Missetäter, wie viel mehr wird Gott, der einige vollkommene Richter, sie strafen! Ein göttlicher Triebe leitet die Menschen an, Verbrechen zu ahnden: aber solches Verfahren ist nur ein trübes und mattes Abbild des göttlichen Gerichts. Wie töricht ist es, zu glauben, wir könnten dem Urteil Gottes entrinnen, da wir doch unsere Mitmenschen unserm vernichtenden Urteil nicht leicht entgehen lassen! Sehr nachdrücklich wiederholt der Apostel die Anrede: o Mensch! So wird der Mensch seinem Gott gegenüber gestellt.
V. 4. Oder verachtest du usw. Dies könnte ein anderweitiger Erklärungsgrund für die Sicherheit der Menschen sein sollen. Und so verstehen es in der Tat einige Ausleger. Ich deute den Satz lieber als einen voreiligen Schluss, welchen viele Leute aus ihrem gegenwärtigen Wohlergehen auf den Ausfall des göttlichen Gerichts ziehen könnten. Werkheilige Menschen lassen sich ja leicht durch glückliche Erfolge zu dem hochmütigen Irrtum verleiten, als hätten sie Gottes Gnade mit ihren guten Taten verdient, wodurch sie natürlich noch mehr in der Leichtfertigkeit ihres Umgangs mit Gott bestärkt werden. Solcher Anmaßung tritt der Apostel entgegen und zeigt, dass Gott es ihnen äußerlich wohl gehen lässt, nicht etwa, weil sie ihm besonders gefielen, sondern ganz im Gegenteil, um sie als Sünder zu sich zu bekehren. Wo also nicht Gottesfurcht herrscht, da ist Sicherheit im Glück nur Verachtung und Spott der göttlichen Güte. Daraus folgt, dass Gott dereinst nur kräftiger bestrafen wird, die er in diesem Leben geschont hat: denn sie haben zu ihren übrigen Sünden die Verachtung des freundlich - lockenden Bußrufs gefügt.
Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte usw. Gott zeigt uns durch seine Güte, dass wir uns zu ihm kehren müssen, wenn wir es gut haben wollen; und zugleich macht er uns damit Mut, auf seine Gnade zu hoffen. Gottes Güte in anderem Sinne gebrauchen heißt sie missbrauchen. Und doch fordert die Absicht dieser Güte eine etwas verschiedene Deutung, je nachdem wohin sie sich richtet: wenn Gott seinen Knechten Freundlichkeiten und Wohltaten im Irdischen erweist, so enthüllt er ihnen als solchen Zeichen allerdings seine Gnade und gewöhnt sie zugleich, in ihm den Inbegriff aller Güte zu suchen. Trägt er aber Gesetzesverächter mit der gleichen Sanftmut, so will gewiss seine Gütigkeit ihren Widerstand brechen: aber seine gegenwärtige Gnade beweist Gott solchen Menschen noch nicht; er will sie nur zur Buße leiten. Wollte aber jemand sagen, dass Gott doch tauben Ohren predige, solange er die Herzen nicht innerlich anrührt – so diene zur Antwort: anklagen darf man dabei nichts als die eigene Verkehrtheit.
V. 5. Nach deinem verstockten und unbußfertigen Herzen usw. Wo man sich gegen Gottes Lockungen verhärtet, erwächst ein unbußfertiges Wesen. Wer aber nicht um Besserung und Bekehrung sich besorgt zeigt, versucht Gott offensichtlich. Aus dieser wichtigen Stelle lernen wir die schon soeben berührte Wahrheit: die Gottlosen häufen sich nicht allein täglich schweren Gotteszorn auf, solange sie leben, sondern gerade auch die göttlichen Gaben, die sie fortwährend brauchen und missbrauchen, werden ihnen zum Gerichte dienen: denn sie müssen von allem Rechenschaft geben. Was ihnen aber zur schwersten Schuld gereicht, wird dereinst offenbar werden, dass sie nämlich durch die Güte Gottes, die sie bessern sollte, sich haben schlechter machen lassen. Hüten wir uns, durch Missbrauch der Gaben Gottes uns solche Last zu häufen! Auf den Tag des Zorns. Jetzt sammeln die Gottlosen Gottes Unmut wider sich: aber dereinst erst wird dessen Gewalt sich auf ihr Haupt entladen. Sie häufen verborgenes Verderben, welches einst aus Gottes vorbehaltener Macht hervorbrechen wird. Der Tag des Jüngsten Gerichts heißt aber Tag des Zornes im Hinblick auf die Gottlosen: für die Gläubigen ist er ein Tag der Erlösung. So wandeln sich auch andere Heimsuchungen Gottes für die Gottlosen in Furcht und Schrecken: dem Frommen sind sie lieb und süß. So oft ferner die Schrift der Nähe Gottes gedenkt, heißt sie die Frommen fröhlich springen: wo aber Gott zu den Verworfenen sich kehrt, erregt er Zittern und Grausen. „Dieser Tag“, sagt Zeph. 1, 15, „ist ein Tag des Grimms, ein Tag der Trübsal und Angst, ein Tag des Wetters und Ungestüms, ein Tag der Finsternis und Dunkels, ein Tag der Wolken und Nebel.“ Vgl. auch Joel 2, 2. Auch Amos 5, 18 ruft aus: „Wehe denen, die den Tag des Herrn begehren! Was soll er euch? Denn des Herrn Tag ist Finsternis und nicht Licht.“ Das Wort Offenbarung deutet auf die endliche klare Enthüllung des göttlichen Gerichts, dessen undeutliche Spuren zwar schon täglich sich zeigen, dessen vollen Ausbruch aber erst jener Tag des Zornes bringen wird. Dann werden die Bücher aufgetan, die Schafe von den Böcken geschieden, der Weizen vom Unkraut gereinigt.
V. 6. Welcher geben wird einem jeglichen usw. Weil Paulus es mit blinden Scheinheiligen zu tun hat, die ihre Herzensverkehrtheit mit der Schminke irgendwelcher hohlen Werke hinreichend bedeckt glauben, so beschreibt er eine wirkliche Gerechtigkeit aus Werken, welche wohl vor Gott bestehen könnte. Es soll eben niemand glauben, dass es zur Abfindung Gottes hinreicht, Worte und bloßen Tand oder Blätter statt der Früchte zu bringen. Dieser Ausspruch ist nicht so anstößig, wie er zu sein scheint. Denn wenn Gottes gerechte Strafe über die Verworfenen ergeht, so empfangen sie, was sie verdient haben. Und andererseits: weil Gott zuerst heilig macht, die er dereinst herrlich machen will, so empfangen auch in ihnen die guten Werke ihre Krone, aber nicht aus Verdienst. Dies kann man aus unserem Satze nicht herauslesen: derselbe sagt nur, dass gute Werke belohnt werden, keineswegs aber sagt er, dass sie an sich etwas wert sind oder einen bestimmten Preis beanspruchen könnten. Denn das ist töricht, aus dem Gedanken des Lohnes auf ein Verdienst zurück zu schließen.
V. 7. Mit Geduld. Diese Geduld ist mehr als bloße Ausdauer, die nicht müde wird, Gutes zu tun: sie begreift auch die für den Christen unentbehrliche Widerstandskraft gegen das Leiden in sich, welche vielerlei Anfechtungen erduldet und dennoch standhält. Denn Satan lässt es nicht zu, dass wir graden Wegs zum Herrn kommen: er wirft uns zahllose Hemmnisse vor die Füße, um unsern Lauf in falsche Bahn zu lenken. Dass aber die Gläubigen mit Geduld in guten Werken nach Preis und Ehre und vergänglichem Wesen trachten, will nicht besagen, dass sie etwas anderes, Besseres und Höheres suchten als Gott selbst: aber wenn sie ihn haben wollen, müssen sie sich zugleich nach den Gütern seines Reiches ausstrecken. Und diese sind mit diesen Worten gemeint. Der Sinn ist: Gott wird denen das ewige Leben schenken, welche durch ihr Trachten nach guten Werken beweisen, dass sie etwas Besseres suchen als das vergängliche Wesen.
V. 8. Die das zänkisch sind und der Wahrheit nicht gehorchen. Zänkisch, d. h. aufrührerisch und widerspenstig gegen Gott, sind die Scheinheiligen, welche mit ihrer groben und trägen Abneigung gegen wirklichen Gehorsam tatsächlich Gottes spotten. Unter Wahrheit sind kurzweg die Anordnungen des göttlichen Willens zu verstehen, welcher allein uns über die Wahrheit Licht gibt. Das ist nämlich das gemeinsame Kennzeichen aller Gottlosen, dass sie viel lieber die Knechtschaft der Ungerechtigkeit als Gottes Joch auf sich nehmen: gehorchen sie auch zum Scheine, so widerstreben und widerstreiten sie doch dem Worte Gottes hartnäckig und unaufhörlich. Die offenbar Abtrünnigen treten der Wahrheit offen entgegen: die Scheinheiligen trennen sich von ihr in feinerer Weise durch selbst erwählten Gottesdienst. Und der Apostel fügt hinzu, dass solche eigenwilligen Menschen der Ungerechtigkeit dienen. Denn einen Mittelweg gibt es nicht: entweder nimmt man Gottes Gesetz ganz auf sich oder man übergibt sich dem Dienst der Sünde. Darin offenbart sich die gerechte Strafe über den zügellosen Eigenwillen, dass der Sünde Knecht wird, wer Gott den Gehorsam versagt.
V. 9. Trübsal und Angst sind die notwendige Folge dessen, was kurz zuvor steht: Ungnade und Zorn Gottes. Also mit nicht weniger als vier Worten beschreibt der Apostel das Unglück der Gottlosen, obgleich hierfür wie für das Glück der Frommen je ein Wort wohl ausreichend gewesen wäre: aber der hier wie dort ausführlichere Ausdruck soll einerseits die Furcht vor Gottes Zorn, andererseits die Sehnsucht nach Christi Gnade heftiger entzünden. Gottes Gericht muss uns in lebhaften Farben vor die Augen gemalt werden, wenn wir es lebhaft fürchten sollen. Und um einen brennenden Eifer für das zukünftige Leben zu erwecken, bedarf es vieler Lockmittel.
Vornehmlich der Juden usw. Ohne Zweifel werden hier von den Juden die Heiden ganz im Allgemeinen unterschieden. Denn an die Stelle des nur scheinbar engeren Begriffes „Griechen“ tritt alsbald (V. 14) das deutlichere Wort „Heiden“. Die Juden aber stehen hier voran, weil sie vor andern die Verheißungen und Drohungen des Gesetzes besaßen. Paulus gibt zu verstehen, dass dies die Ordnung des göttlichen Gerichtes ist, bei den Juden anzuheben und von dort aus den ganzen Erdkreis zu umspannen.
11 Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott. 12 Welche ohne Gesetz gesündigt haben, die werden auch ohne Gesetz verloren werden; und welche unter dem Gesetz gesündigt haben, die werden durchs Gesetz verurteilt werden 13(sintemal vor Gott nicht, die das Gesetz hören, gerecht sind, sondern die das Gesetz tun, werden gerecht sein.
V. 11. Es ist kein Ansehen der Person. Nachdem der Apostel bisher die Menschheit als Ganzes vor Gottes Gericht gestellt, denkt er nun an die gesonderten Gruppen der Juden und Heiden: mögen die Gegensätze zwischen beiden noch so groß sein -, der ewige Tod droht ihnen ohne Unterschied. Versteckten sich die Heiden hinter ihrer Unwissenheit, rühmten sich die Juden des Gesetzes: so nimmt Paulus den einen die Entschuldigung, den andern den falschen und eitlen Ruhm. Unter der „Person“, welche Gott nicht ansieht, ist der gesamte äußere Bestand des Lebens zu verstehen, welchem Menschen Wert und Ehre beizulegen bei zu legen pflegen. Lesen wir also, dass Gott die Person nicht ansieht, so heißt dies: er sieht auf Reinheit des Herzens und innere Unschuld und hält sich nicht bei Dingen auf, an welche die Menschen sich hängen, wie Herkunft, Heimat, Stellung, äußere Mittel und dergleichen. Wenn Gott die Person nicht ansieht, so begründen für sein Urteil alle solche Dinge keinen Unterschied zwischen Volk und Volk. Aus der Tatsache, dass innere Reinigkeit vor Gott etwas gilt, könnte nun freilich der Schluss sich zu ergeben scheinen, dass Gottes Erwählung nicht mehr auf freier Gnade ruhe. Es ist aber zu erinnern, dass in doppelter Weise von unserer Annahme vor Gott gesprochen werden kann. Einmal beruft uns Gottes Gnade aus dem Nichts und nimmt uns ohne alles Verdienst an. Dann aber, nach der Wiedergeburt, nimmt uns Gott an mit den Gaben, die er uns geschenkt hat: sein Gnadenblick ruht dann mit Wohlgefallen auf dem Bilde seines Sohnes, welches er in uns wieder erkennt.
V. 12. Welche ohne Gesetz gesündigt haben. Dieser Satz behandelt zuerst die Gruppe der Heiden. Ihnen war kein Moses geschenkt, der in Vollmacht Gottes ihnen ein Gesetz geben konnte: nichtsdestoweniger zog ihnen ihre Sünde die gerechte Strafe des Todes zu; denn für die rechtmäßige Verurteilung eines Sünders bedarf es nicht, dass er das Gesetz kennt. Es ist also verkehrtes Mitleid, die Heiden, welche das Licht des Evangeliums nicht haben, um ihrer Unwissenheit willen dem Gerichte Gottes entnommen zu glauben. Welche unter dem Gesetz gesündigt haben. Wie die Heiden, die von dem Irrtum ihres Sinnes sich leiten lassen, in die Grube hinabfallen, so steht für die Juden das Gesetz bereit, sie zu richten. Denn längst war das Urteil verkündigt (5. Mose 27, 26): „Verflucht sei, wer nicht alle Worte dieses Gesetzes erfüllt, dass er danach tue.“ Der Sünder aus den Juden wartet also eine schlimmer Strafe: denn sie empfingen ihre Strafandrohung schon im Gesetz.
V. 13. Nicht, die das Gesetz hören usw. Dieser Satz kommt einem möglichen Einwande der Juden zuvor: weil diese ihr Gesetz als Regel der Gerechtigkeit betrachten durften, so genügte ihrer Selbstzufriedenheit das bloße Wissen. Um diesen Betrug zu zerstören, behauptet der Apostel, dass man deshalb durchaus noch nicht gerecht ist, weil man das Gesetz hört und kennt. Sondern es gilt, wirkliche Taten zu zeigen; wie es 5. Mose 4, 1 heißt: „Ihr sollt die Gebote tun, auf dass ihr lebet.“ Unser Satz schärft also ein, dass man das Gesetz auch erfüllen muss, wenn man von Gerechtigkeit aus dem Gesetze spricht. Denn das Gesetz will ganz gehalten sein. – Kindisch ist der Missbrauch dieser Stelle für eine Lehre von der Rechtfertigung durch die Werke. Es lohnt sich nicht, zur Widerlegung solcher Torheit hier eine lange Untersuchung über die Rechtfertigung zu führen, zu welcher unser Satz an sich keinen Anlass bietet. Denn einen so starken Nachdruck gibt der Apostel dem Urteil des Gesetzes, dass man ohne vollkommenen Gehorsam durch das Gesetz keine Rechtfertigung empfange, in Rücksicht auf die Juden: sie finden jede Übertretung mit Fluch bedroht. Wir unsererseits bestreiten nun nicht, dass das Gesetz uns das Bild einer wirklich vollkommenen Gerechtigkeit zeigt; aber wir behaupten, dass kein Mensch von Übertretung frei erfunden wird und dass es deshalb gilt, die Gerechtigkeit anderswo zu suchen. Unsere Stelle gibt also den Beweis dafür an die Hand, dass aus Werken niemand gerecht wird. Denn wenn durch´ s Gesetz nur gerecht werden, die das Gesetz halten, so folgt, dass keiner gerecht wird, weil keiner einen vollkommenen Gehorsam gegen das Gesetz aufweisen kann.
14 Denn so die Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun des Gesetzes Werk, sind dieselben, dieweil sie das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz, 15 als die da beweisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihrem Herzen, sintemal ihr Gewissen ihnen zeugt, dazu auch die Gedanken, die sich untereinander verklagen oder entschuldigen), 16 auf den Tag, da Gott das Verborgene der Menschen durch Jesum Christum richten wird laut meines Evangeliums.
V. 14. Denn so die Heiden usw. Jetzt empfängt der so eben entwickelte Gedanke eine weitere Begründung. Paulus begnügt sich nicht damit, uns mit dem Worte zu verdammen und uns Gottes gerechtes Gericht anzukündigen. Er sucht vielmehr klare Gründe vorzubringen, um uns desto mehr zum Verlangen nach Christus und zur Liebe zu ihm zu reizen. Paulus zeigt nun, dass die Heiden vergeblich Unwissenheit vorschützen werden, da sie durch die Tat kundtun, dass ihnen keineswegs jedes Bewusstsein von einem Gesetz des Guten fehlt. Denn kein Volk hat sich je auf einem so untermenschlichen Standpunkte befunden, dass es sich nicht innerhalb gewisser Ordnungen bewegte. Da nämlich alle Völker von Natur und ohne besonderen Unterricht sich zu einer Gesetzgebung geneigt zeigten, so müssen dem menschlichen Gemüte zweifellos gewisse Urbegriffe von Recht und Billigkeit, sozusagen gesunde moralische Vorurteile, angeboren sein. Ohne Gesetz haben sie doch ein Gesetz, freilich kein geschriebenes wie das mosaische, wohl aber eine gewisse Erkenntnis davon, was recht und billig ist. Sonst könnten sie ja überhaupt nicht zwischen Untaten und tugendhaften Handlungen unterscheiden: und doch strafen sie die ersteren, fordern die letzteren und zollen dem, was nach ihrer Meinung anerkennenswert ist, hohes Lob. Unter dem, was die Heiden von Natur, im Gegensatze zum geschriebenen Gesetz, haben, versteht Paulus das natürliche moralische Licht, kraft dessen die Heiden sich selbst ein Gesetz sind und welches ihnen das ersetzt, was den Juden ihr Gesetz bedeutet.
V. 15. Die da beweisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben usw. D. h. sie liefern den Beweis, dass in ihren Herzen ein Unterscheidungsvermögen sich befindet, welches den Gegensatz von billig und unbillig, ehrbar und schändlich wohl zu fassen weiß. Dass dieser Gegensatz ihren Willen derartig beherrsche, dass sie sich wirklich und mit ganzem Eifer von demselben leiten ließen, behauptet Paulus nicht, sondern nur, dass die Macht der Wahrheit sich ihnen unwidersprechlich aufdrängt. Wie kämen sie sonst dazu, Religionsübungen einzurichten, wenn sie nicht wüssten, dass man Gott verehren muss? Warum schämen sie sich der Hurerei und des Diebstahls, wenn sie nicht solche Dinge für schlecht ansehen? Für eine Überschätzung der Willensfreiheit bieten diese Ausführungen keinen Anlass. Denn nur von der Wahrheitserkenntnis ist die Rede, nicht von der Fähigkeit, das erkannte Gesetz auch zu befolgen. Unter dem Herzen wird also weniger der Sitz der Willenskraft, als vielmehr nur der Erkenntnis zu verstehen sein. Wie es an andern Stellen (5. Mos. 29, 3; Luk. 24, 25) heißt: „Der Herr hat euch nicht gegeben ein Herz, das verständig wäre“; „o ihr Toren und trägen Herzens, zu glauben“ usw. Übrigens darf man auch dies nicht aus unserer Stelle entnehmen, dass die Menschen eine vollkommene Erkenntnis des Gesetzes besitzen: nur Samenkörner der Gerechtigkeit tragen sie in sich. Dazu rechne ich die Tatsache, dass alle Völker gleichermaßen Religionsübungen pflegen, dass sie den Ehebruch, den Diebstahl, den Mord bestrafen und bei Handels- und Rechtsgeschäften Treu und Glauben hochhalten. Es macht dabei nichts aus, was das für ein Gott ist, den sie sich bilden oder wie viele Götter sie sich machen; hier genügt es, dass sie überhaupt wissen, dass es „Gott“ gibt und dass man ihn ehren, ihm dienen soll. Auch verschlägt es nichts, dass sie das böse Begehren und den Hass nicht verbieten; wenn sie den Vollzug einer Tat für böse halten, so kann ihnen das Begehren im Grunde doch auch nicht erlaubt erscheinen!
Sintemal ihr Gewissen ihnen zeugt, dazu auch die Gedanken usw. Schärfer konnte der Apostel die Menschen nicht angreifen, als mit dem Zeugnis ihres eignen Gewissens, welches soviel wiegt wie das Zeugnis von Tausenden. Mit dem Bewusstsein seiner guten Taten pflegt man sich ja zu stärken und zu trösten: das böse Gewissen dagegen quält und martert. Daher haben schon die Heiden Sprichwörter wie die: ein gutes Gewissen sei besser als der Beifall der größten Volksversammlung, ein schlechtes Gewissen sei der peinlichste Henker und quäle die Menschen mehr als die Furien. Es gibt also eine gewisse natürliche Erkenntnis des Gesetzes, welche manche Handlungen für gut und nützlich, andere für verwerflich erklärt. Beachtenswert ist die feinsinnige Beschreibung des Gewissens, welche uns vor Augen führt, wie die Gründe im Gedächtnis aufsteigen, welche eine Tat noch als gut erscheinen lassen, oder welche andererseits uns eines Vergehens anklagen und überführen. Diese Klage- und Entschuldigungsgründe stehen nun in Bezug (V. 16) auf den Tag des Herrn, nicht weil sie etwa dann erst aus der Vergessenheit auftauchen werden: denn sie sind schon jetzt lebendig und treiben unablässig ihr Geschäft, sondern weil sie dann noch so stark sein werden, dass niemand sie als bedeutungslosen Schein beiseite schieben kann.
V. 16. Da Gott das Verborgene der Menschen richten wird. Diese Beschreibung des Gerichts passt vortrefflich in den gegenwärtigen Gedankengang: wer sich gern in dem Schlupfwinkel stumpfer Unwissenheit verbergen möchte, soll wissen, dass seine innersten, in den Falten des Herzens versteckten Gedanken alsdann ins Licht gezogen werden. Wenn deshalb der Apostel an einer andern Stelle (1. Kor. 4, 5) die Nichtigkeit menschlichen Urteils einprägen will, welches an der äußeren Maske hängen bleibt, so richtet er unsern Blick auf die Wiederkunft des Herrn, der, was im Finstern verborgen ist, ans Licht bringen und den Rat den Herzen offenbaren wird. Diese Erinnerung mag uns dazu anleiten, wenn wir die rechte Zufriedenheit mit uns selbst haben wollen, zu jener vollen Klarheit und Gewissheit des Sinnes den Weg zu suchen. Wenn Paulus hinzufügt: laut meines Evangeliums, so erhebt er den Anspruch, dass seine Lehre sich mit der ursprünglichen Anlage des Menschengemütes decke. „Sein“ ist das Evangelium, weil ihm der Dienst an demselben befohlen war. Denn ein „Evangelium“ zu offenbaren, steht allein bei Gott: und dasselbe auszuspenden, hat er den Aposteln verliehen. Weiter heißt das Evangelium ganz passend in einem gewissen Betracht eine Verkündigung und Predigt vom zukünftigen Gericht. Denn wenn die völlige Auswirkung der im Evangelium verheißenen Güter uns erst bei der vollen Offenbarung des Himmelreichs zuteil werden wird, so erscheint die Verbindung mit dem letzten Gerichte fest geknüpft. Christus wird als die Auferstehung für die einen, als der Richter für die andern gepredigt: und beides hängt auf das engste mit dem Tage des Gerichts zusammen. Dieses Gericht wird gehalten durch Jesus Christus. Dass er vom Vater eingesetzt ward, zu richten die Lebendigen und die Toten, rechnen die Apostel überall unter die Hauptstücke der evangelischen Predigt. Durch den Hinweis auf diesen Richter empfängt unser Satz erst die nötige Abrundung.
17 Siehe aber zu: du heißest ein Jude und verlässest dich aufs Gesetz und rühmest dich Gottes 18 und weißt seinen Willen; und weil du aus dem Gesetz unterrichtet bist, prüfest du, was das Beste zu tun sei, 19 und vermissest dich, zu sein ein Leiter der Blinden, ein Licht derer, die in Finsternis sind, 20 ein Züchtiger der Törichten, ein Lehrer der Einfältigen, hast die Form, was zu wissen und recht ist, im Gesetz. 21 Nun lehrst du andere, und lehrst dich selber nicht; du predigst, man solle nicht stehlen, und du stiehlst; 22 du sprichst, man solle nicht ehebrechen, und du brichst die Ehe; dir gräuelt vor den Götzen, und du raubest Gott, was sein ist; 23 du rühmest dich des Gesetzes, und schändest Gott durch Übertretung des Gesetzes; 24 denn „eurethalben wird Gottes Name gelästert unter den Heiden“, wie geschrieben steht.
V. 17. Du aber (so nämlich muss nach den besten Handschriften der Text lauten), du heißest ein Jude usw. Nach genügender Auseinandersetzung mit den Heiden wendet sich die Rede nunmehr zu den Juden. Deren Selbstbetrug soll vollends zerstört werden. Paulus erkennt alles an, worauf sie so stolz waren. Aber er zeigt, dass es nur zureicht, eine höhere Verantwortlichkeit, nicht aber einen gerechten Stolz zu begründen. Der Name Jude erinnert an alle Vorzüge des Volkes, welche in Gesetz und Propheten ihren Ursprung hatten und an welche Israel abergläubisch sich klammerte. Gemeint sind also alle Israeliten, welche damals sämtlich „Juden“ hießen. Wann dieser Sprachgebrauch sich eingebürgert, lässt sich nicht genau sagen, jedenfalls nach der Gefangenschaft und Zerstreuung. Da hielt sich das ganze zerrissene und zersprengte Volk an den Namen des Stammes Juda, welcher die Reinheit des Gottesdienstes am längsten bewahrt hatte, welcher von jeher eine besondere Würde besaß, aus welchem auch der Erlöser kommen sollte: war doch der Trost dieser Messiashoffnung die letzte Zuflucht. Auf verschiedene andere Gründe, welche die Übertragung des Stammesnamens auf das ganze Volk vielleicht erklären könnten, brauchen wir hier nicht einzugehen: jedenfalls wollen die „Juden“ die Erben des Bundes sein, welchen Gott mit Abraham und seinem Samen geschlossen hat. Du verlässest dich aufs Gesetz und rühmest dich Gottes: nicht als ob sie das Gesetz ernstlich und vollständig zu halten bestrebt gewesen wären, um sich dann darauf zu verlassen; vielmehr erhebt Paulus den Vorwurf, dass sie ohne Achtsamkeit auf den eigentlichen Zweck des Gesetzes und ohne genügende Sorge für seine Erfüllung in stolzer Selbstzufriedenheit sich auf die eine Überzeugung zurückgezogen, dass Gottes Offenbarungen sie beträfen. Ebenso rühmten sie sich Gottes, nicht wie Gott es nach dem Spruche des Propheten (Jer. 9, 23) haben will, dass man demütig auf allen Selbstruhm verzichtet und seinen Ruhm allein in ihm sucht. Vielmehr ohne jede wirkliche Erkenntnis der Güte Gottes beanspruchten sie den Gott, dem sie doch innerlich fern standen, in eitler Ruhmsucht vor den Menschen als ihr alleiniges Eigentum und gaben sich für sein Volk aus. Das war kein Rühmen des Herzens, sondern Prahlerei der Zunge.
V. 18. Du weißt seinen Willen, und … prüfest, was das Beste zu tun sei. Diese Erkenntnis des göttlichen Willens besaßen die Juden allerdings, und zwar aus dem Gesetze. Von einer prüfenden Auswahl des Guten kann aber in doppelter Weise geredet werden: einmal denken wir dabei an das wirkliche Erwählen dessen, was man als gut erkannt hat; das andere Mal denken wir nur an das Urteil, kraft dessen man dem Guten vor dem Bösen den Vorzug gibt, ohne vielleicht nur den geringsten Eifer einzusetzen, dasselbe auch zu tun. In dieser letzteren Weise gingen die Juden mit dem Gesetze um: sie hatten daraus gelernt, sich als Sittenrichter aufzuspielen -, aber das eigene Leben diesem Urteil anzupassen, lag ihnen weniger an. Aus dem Tadel, welchen der Apostel gegen solch heuchlerisches Wesen richtet, ergibt sich nun allerdings der Rückschluss, dass (wenn nur das Urteil aus einem lauteren Sinne hervorgehen würde) man da, wo Gottes Offenbarung sich hat vernehmen lassen, tatsächlich zu prüfen vermag, was das Beste zu tun sei: denn der Wille Gottes, wie das Gesetz ihn kundtat, wird hier als Lehrer und Führer zur rechten Prüfung anerkannt.
V. 19. Und vermissest dich, zu sein ein Leiter usw. Noch mehr wird zugestanden: die Juden haben nicht allein für sich selbst genug empfangen, sondern sie besitzen noch einen Überschuss für andere. Gott schenkt ihnen einen Überfluss der Lehre, der sich recht wohl auch auf andere überleiten lässt.
V. 20. Die Worte: du hast die Form, was zu wissen und recht ist, im Gesetz, geben den Grund an, weshalb der Jude imstande ist, andere zu unterweisen. Deshalb gebärdeten sie sich als Lehrer, weil sie glauben durften, alle Geheimnisse des Gesetzes in ihrer Brust zu tragen. Das Gesetz ist nun nicht irgendeine, sondern die Form der Wahrheit schlechthin, ihre majestätisch-klare Erscheinung. Wenn sie sich prahlend mit dieser Erkenntnis brüsteten, so waren die Juden ohne Zweifel innerlich derselben bar. Aber das lässt sich wiederum gegensätzlich erschließen: wenn Paulus den Missbrauch des Gesetzes verspottet, so will er dem Gesetze an sich allerdings die richtige und gewisse Wahrheitserkenntnis entnommen wissen.
V. 21. Nun lehrst du andere, und lehrst dich selber nicht. Die bisher anerkannten Gaben der Juden hätten einen wirklichen Wert erst empfangen, wenn sie durch noch wahrhaftigere Güter gekrönt worden wären. So aber verdiente die bloße Erkenntnis, welche auch Gottlose besitzen und in schnödem Missbrauch verkehren mochten, eine ernsthafte Anerkennung nicht. Und Paulus, nicht zufrieden der jüdischen Anmaßung einfach entgegen zu treten, sieht sich sogar in der Lage, den Vorzug, auf welchen ein falsches Vertrauen ohne alles Weitere sich stützte, in einen schmählichen Nachteil zu verkehren. Denn dies erscheint doch im höchsten Grade tadelnswert, hohe und herrliche Gaben Gottes nicht bloß ungenützt liegen zu lassen, sondern sogar mit schnödem Missbrauch zu beschmutzen. Und der ist ein wunderlicher Ratgeber, der sich selbst nicht rät und nur für andere klug ist. So wandelt sich das begehrte Lob in Tadel. Du predigst, man solle nicht stehlen, und du stiehlst. Das ist wahrscheinlich eine Anspielung an Ps. 50, 16-18: „Zu dem Gottlosen spricht Gott: Was verkündigst du meine Rechte und nimmst meinen Bund in deinen Mund, so du doch Zucht hassest, und wirfst meine Worte hinter dich? Wenn du einen Dieb siehst, so läufst du mit ihm und hast Gemeinschaft mit den Ehebrechern.“ Dieser Vorwurf traf die Juden, welche, zufrieden mit dem bloßen Wissen vom Gesetz, so lebten, als hätten sie kein Gesetz. Es ist zu besorgen, dass er auch manchen von uns treffe. Wie viele rühmen sich doch einer besonderen Erkenntnis der evangelischen Wahrheit und stürzen sich dabei in allerlei Unflat, ohne zu bedenken, dass das Evangelium auch eine Regel für das Leben bedeutet. In solcher Sicherheit dürfen wir aber nicht mit Gott spielen: vielmehr sollen wir wissen, dass solche Schwätzer, die Gottes Wort nur auf der Zunge haben, ein schweres Gericht treffen wird.
V. 22. Dir gräuelt vor den Götzen, und du raubest Gott, was sein ist. Eine feine Gegenüberstellung von Götzendienst und Gottesraub: denn beide Verbrechen gehören zur gleichen Kategorie. Als Gottesraub können wir kurzweg jede Entweihung der göttlichen Majestät bezeichnen. Wo nun, es sei im Heidentum oder mitten in der Christenheit, die Religion in lauter äußerem Glanz besteht und Gottes Majestät an die greifbaren Götzen gehängt wird, versteht man unter Gottesraub freilich viel zu eng nur den Diebstahl von Tempelgut oder die Beseitigung des kirchlichen Prunks. Wir entnehmen hier für uns die Erinnerung, dass man nicht selbstgefällig sich nur an einen Teil des göttlichen Gesetzes halten und darüber andere verachten darf. Ferner, dass wir uns nicht allzu hoch rühmen dürfen, wenn wir den äußerlichen Götzendienst abgeschafft, während es doch noch viele Fürsorge fordert, die verborgene Gottlosigkeit der Herzen bis auf die Wurzel auszurotten.
V. 23. Du rühmest dich des Gesetzes, und schändest Gott durch Übertretung des Gesetzes. Jeder Mensch, welcher das Gesetz übertritt, schändet Gott: denn wir sind alle dazu geschaffen, den Herrn durch Gerechtigkeit und Heiligkeit zu ehren. Aber die Juden trifft mit Recht ein besonderer Vorwurf. Sie rühmten sich Gottes als ihres Gesetzgebers, aber ihr Leben nach seinem Gesetze zu gestalten – dafür zeigten sie geringen Eifer. Damit bewiesen sie, dass ihnen an Gottes Majestät, die sie so leichtfertig verachteten, in der Tat nicht viel gelegen war. So machen auch viele unter uns dem Herrn Christus Unehre, indem sie über die Lehre des Evangeliums ein müßiges Geschwätz führen, dabei aber in ihrer zügellosen Lebensweise das Evangelium mit Füßen treten.
V. 24. „Der Name Gottes wird gelästert“ usw. Ich glaube, dass dieses Schriftwort aus Hes. 36, 20-23 entnommen ist, nicht aus Jes. 52, 5. Denn die letztere Stelle enthält weiter nichts von Vorwürfen gegen die Juden, während das 36. Kapitel des Propheten Hesekiel ganz von solchen angefüllt ist. Wir sehen, dass alle Flecken des Volkes Israel auf Gott selbst zurückfallen. Israel ist und heißt Gottes Volk, es trägt sozusagen Gottes Namen auf seiner Stirn geschrieben: so muss bei den Menschen der Gott, auf dessen Namen es sich beruft, unter Israels Schmach gewissermaßen mit leiden. Es ist ein unwürdiger Zustand, dass dieselben Leute, die Gottes Ruhm für sich entlehnen, dem heiligen Namen Gottes einen Schandfleck anhängen. Sie wären schuldig gewesen, ihrem Gott einen besseren Lohn zu erstatten.
25 Die Beschneidung ist wohl nütz, wenn du das Gesetz hältst; hältst du aber das Gesetz nicht, so bist du aus einem Beschnittenen schon ein Unbeschnittener geworden. 26 So nun der Unbeschnittene das Gesetz hält, meinst du nicht, dass da der Unbeschnittene werde für einen Beschnittenen gerechnet? 27 und wird also, der von Natur unbeschnitten ist und das Gesetz vollbringt, dich richten, der du unter dem Buchstaben und der Beschneidung bist und das Gesetz übertrittst. 28 Denn das ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, auch ist das nicht eine Beschneidung, die auswendig am Fleisch geschieht; 29 sondern das ist ein Jude, der´ s inwendig verborgen ist, und die Beschneidung des Herzens ist eine Beschneidung, die im Geist und nicht im Buchstaben geschieht. Eines solchen Lob ist nicht aus Menschen, sondern aus Gott.
V. 25. Die Beschneidung usw. Einen weiteren Einwand, welchen die Juden zu ihrer Verteidigung vorbringen konnten, widerlegt der Apostel im Voraus: war die Beschneidung das Zeichen des Bundes, in welchem Gott sich Abraham und seinen Samen zum besonderen Eigentum erwählt hatte, so schienen die Juden darauf ihren Ruhm mit Recht gründen zu dürfen. Aber sie hängten sich an das äußere Zeichen und vergaßen dessen wahre Bedeutung. Deshalb antwortet ihnen der Apostel, dass das bloße Zeichen keine Ansprüche begründen könne. Das wahre Wesen der Beschneidung lag in der daran geknüpften geistlichen Verheißung; und diese erforderte Glauben. Um beides aber, Verheißung und Glauben, kümmerten sich die Juden nicht. Ihr Vertrauen war also ein törichtes. Indem nun der Apostel seine Rede diesem groben Irrtum anbequemt, übergeht er hier ebenso wie im Galaterbrief (Gal. 5, 3-6; 6, 15) den wesentlichsten Nutzen der Beschneidung. Dies will wohl beachtet sein. Denn wenn eine vollständige Abhandlung über Wesen und Absicht der Beschneidung gegeben werden sollte, dürfte ein Hinweis auf die Gnade und die Gnadenverheißung unter keinen Umständen fehlen. Da aber Paulus sowohl hier wie im Galaterbriefe seine Rede völlig auf die gegebenen Umstände zuspitzt, so berührt er nur das Stück, was gerade in Frage steht. Die Juden hielten die Beschneidung an sich für ein Werk, mit welchem man Gerechtigkeit erwürbe. Also geht Paulus auf ihre Denkweise ein und antwortet: wenn man in der Beschneidung nach Werken fragt, so ist dies ihre Bedingung, dass der Beschnittene sich als einen wahren und vollkommenen Anbeter Gottes erweise. Erst dieses Werk macht die Beschneidung vollkommen. Ganz ebenso kann man ja auch von unserer Taufe sprechen. Wenn jemand in bloßem Vertrauen auf die Wassertaufe sich einfach durch den Vollzug der äußeren Handlung für gerechtfertigt und geheiligt ansehen sollte, so hält man ihm den Zweck der Taufe entgegen: dass uns Gott durch dieselbe zu einem heiligen Leben berufen will. Dabei würde von der Verheißung und Gnade, welche die Taufe uns bezeugt und versiegelt, gar keine Rede sein. Denn wir würden eben mit Leuten zu tun haben, welche, mit dem leeren Schatten der Taufe zufrieden, vernachlässigen und vergessen, was in der Taufe das Wesentliche ist. Es lässt sich auch bei Paulus beobachten, dass er, wo er unter Gläubigen und ohne Polemik von den heiligen Wahrzeichen handelt, dieselben stets mit ihren Verheißungen zusammen greift, in denen ihre Wirksamkeit und Vollkommenheit besteht. Wo er aber auf ein verkehrtes Verständnis der heiligen Zeichen Rücksicht nimmt, muss er diese Hauptsache übergehen und seine Rede dem Zwecke der Auseinandersetzung anpassen. – Die Tatsache, dass Paulus unter allen Werken des Gesetzes sich vornehmlich mit der Beschneidung beschäftigt, hat vielen die Meinung beigebracht, dass der Apostel lediglich den zeremoniösen (nicht aber den moralischen) Werken die Kraft abspreche, gerecht zu machen. Doch die Sache liegt ganz anders. Wer nämlich seine Verdienste vor Gottes Gerechtigkeit zu erheben strebt, wird immer geneigt sein, seinen Ruhm mehr in der Beobachtung äußerer Zeremonien als in ernstlicher Rechtschaffenheit zu suchen. Denn wer ernste Furcht Gottes kennt und fühlt, wird niemals wagen, seine Augen gen Himmel zu erheben: je mehr er nach wahrer Gerechtigkeit strebt, umso mehr wird er innewerden, wie weit er von derselben entfernt ist. Dass aber die Pharisäer, die sich mit einer äußerlich vorgespiegelten Heiligkeit begnügen, mit Äußerlichkeiten prunken, erscheint nicht verwunderlich. Deshalb entreißt Paulus den Juden auch diesen letzten elenden Vorwand, als könne jemand durch die Beschneidung gerecht werden.
V. 26. So nun der Unbeschnittene usw. Dieser Beweis erscheint durchschlagend. Jedes Ding ist ja seinem Zwecke angepasst und demselben untergeordnet. Die Beschneidung hängt nun mit dem Gesetze zusammen und soll dem Selben dienstbar sein. Es ist also wertvoller das Gesetz zu halten als die Beschneidung, welche doch nur um des ersteren willen eingesetzt ward. Daraus folgt, dass ein Unbeschnittener, wenn er nur das Gesetz halten würde, besser ist als ein Jude mit seiner armseligen und nutzlosen Beschneidung, der als Gesetzesübertreter dasteht. Wer von Natur befleckt ist, wird durch den Gehorsam gegen das Gesetz geheiligt werden: und die Vorhaut gilt als Beschneidung. – Das Wort „Vorhaut“ (Unbeschnittensein) in unserm Vers steht, wo es zum zweiten Male vorkommt, in seinem eigentlichen Sinne. Zuerst aber steht es ungenauer weise als eine Artbezeichnung der Heiden: die Sache soll die damit behaftete Person bezeichnen. – Die Frage übrigens, wo denn solcher Gehorsam gegen das Gesetz tatsächlich zu finden sei, muss man nicht aufwerfen: er existiert nirgends. Paulus redet lediglich bedingungsweise: wenn es einen Heiden gäbe, der das Gesetz hielte, so würde dessen Gerechtigkeit in der Vorhaut mehr wert sein als die Beschneidung des Juden ohne Gerechtigkeit. Deshalb sind auch die folgenden Worte (V. 27):
Und wird also, der von Natur unbeschnitten ist und das Gesetz vollbringt, dich richten usw., nicht im Bezug auf bestimmte Personen, sondern nur beispielsweise geredet, ganz ebenso wie die Wendungen (Matth. 12, 42.41): die Königin von Mittag wird aufstehen, oder die Leute von Ninive werden auftreten am Jüngsten Gerichte.
Unter dem Buchstaben und der Beschneidung. Eine nachdrückliche Zerteilung der Worte, die soviel besagt wie: unter der vom Gesetzesbuchstaben geforderten Beschneidung. Natürlich will Paulus es nicht für eine Gesetzesübertretung ausgeben, dass die Juden den Buchstaben des Beschneidungsgebotes festhalten, sondern nur dies, dass sie die Anbetung Gottes im Geiste: die wahre Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Gericht und Wahrheit, fortwährend hinter jener äußerlichen Zeremonie zurücktreten lassen.
V. 28. Denn das ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist usw. Will sagen: ob jemand ein wahrer Jude ist, bemisst sich nicht nach der fleischlichen Abstammung, dem mündlichen Bekenntnis oder einem äußeren Zeichen. Auch besteht die Beschneidung, welche zum Juden macht, nicht allein in einer sichtbaren Handlung, sondern will innerlich verstanden sein. Was hier aber über die wahre Beschneidung steht, entnimmt der Apostel mehreren Bibelstellen oder vielmehr der allgemeinen Lehre der Schrift. Denn öfter heißt es, das Volk solle sein Herz beschneiden, und Gott verheißt, diese Beschneidung selbst vornehmen zu wollen (5. Mose 10. 16; 30, 6; Jer. 4, 4; Hes. 16, 30 vgl. 11, 19). Nicht ein Stück eines Körperteiles bloß, sondern die Verderbnis der ganzen Natur galt als weg zu schneiden. Die Beschneidung galt als Abtötung des Fleisches überhaupt. Wenn nun der Apostel (V. 29) hinzufügt, dass dieselbe im Geist und nicht im Buchstaben geschieht, so denkt er beim Buchstaben an die äußere Beobachtung des Gesetzes ohne innerliche Anteilnahme, beim Geist an den Zweck der Handlung, welcher geistlich ist. Hängt der ganze Wert der heiligen Zeichen und Formen an ihrem Zwecke, so bleibt lediglich ein an sich nutzloser Buchstabe, wenn man diesen Zweck hinweg nimmt. Der tiefere Grund dieser ganzen Aussprache liegt in folgender Wahrheit verborgen: wo auch immer Gottes Wort gepredigt werden mag -, seine Vorschriften bleiben solange Buchstabe und tote Worte, als sie nicht von Menschen mit reinem Herzen aufgenommen werden; erst wo sie in die Seele dringen, werden sie gewissermaßen in Geist verwandelt. Dabei liegt eine Anspielung an den Unterschied zwischen Altem und Neuem Bunde vor: nach Jer. 31, 33 will ja Gott seinen Bund erst dadurch zur Vollendung bringen, dass er ihn in die Herzen schreibt. Eben dahin zielt auch ein anderes Wort des Paulus (2. Kor. 3, 6), wenn er das Gesetz im Gegensatze zum Evangelium einen nicht bloß toten, sondern auch tötenden Buchstaben nennt, dem Evangelium aber den auszeichnenden Besitz des Geistes vorbehält. Doppelt unsinnig ist es daher, wenn man das, was Paulus „Buchstaben“ nennt, als den ursprünglichen Sinn versteht, und wenn man das, was er „Geist“ nennt, durch sinnbildliche Auslegung zu ersetzen sucht.
V. 29. Eines solchen Lob ist nicht aus Menschen, sondern aus Gott. Weil Menschenaugen leicht am Scheine hängen bleiben, so erklärt es der Apostel für unzureichend, sich mit der Anerkennung leicht täuschbarer Menschen zufrieden zu geben. Den Augen Gottes müssen wir standhalten, vor denen auch die verborgensten Geheimnisse des Herzens offen liegen. So werden die Heuchler, die sich nur zu leicht mit ihren Irrtümern beschwichtigen, immer wieder vor Gottes Gericht gezogen.