Calvin, Jean - Der Römerbrief - Kapitel 1

1 Paulus, ein Knecht Jesu Christi, berufen zum Apostel, ausgesondert, zu predigen das Evangelium Gottes, 2 welches er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der Heiligen Schrift, 3 von seinem Sohn, der geboren ist von dem Samen Davids nach dem Fleisch 4 und kräftig erwiesen als ein Sohn Gottes nach dem Geist, der da heiligt, seit der Zeit, da er auferstanden ist von den Toten, Jesus Christus, unser Herr, 5 durch welchen wir haben empfangen Gnade und Apostelamt, unter allen Heiden den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter seinem Namen, 6 unter welchen ihr auch seid, die da berufen sind von Jesu Christo, - 7 euch allen, die ihr zu Rom seid, den Liebsten Gottes und berufenen Heiligen: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!

V. 1. Paulus. Über den Namen Paulus würde ich am liebsten schweigen; denn die Sache ist unbedeutend, und ich kann nur wiederholen, was längst andere Ausleger vorgetragen haben. Doch da sich mit leichter Mühe auf der einen Seite die nötige Auskunft geben lässt, ohne dass wir auf der andern Seite zu umständlich werden müssten, so soll kurz diese Frage erledigt werden. Nach einer Ansicht soll der Apostel sich den Namen Paulus als ein Siegeszeichen beigelegt haben, als er den Prokonsul Sergius Paulus zu Christus bekehrte (Apg. 13, 12). Indessen zeigt der Bericht des Lukas selbst, dass der Name Paulus schon vor jener Bekehrung geläufig war (Apg. 13, 9). Ebenso wenig glaublich erscheint, dass der Apostel jenen Namen empfing, als er an Christus gläubig wurde. Diese Vermutung greifen viele wohl nur deshalb auf, weil sie erwünschte Gelegenheit zu geistreichen Bemerkungen über den stolzen Verfolger Saul bietet, der in einen geringen Jünger Christi verwandelt ward: denn „Paulus“ heißt „der Geringe“. Annehmbar erscheint dagegen die Ansicht, dass der Apostel überhaupt zwei Namen getragen habe. Es ist ganz wahrscheinlich, dass die jüdischen Eltern ihrem Sohne den Namen Saul beilegten, als ein Zeichen der Religion und der Abstammung, dass dann aber der Name Paulus hinzugefügt wurde, der durch seinen Klang an das römische Bürgerrecht (Apg. 22, 28) erinnerte. Es sollte weder die hohe Ehre dieses Bürgerrechts verloren gehen, noch sollte um desselben willen die israelitische Herkunft vergessen werden. Des Namens Paulus bedient sich aber der Apostel in seinen Briefen wohl deshalb, weil er bei den Gemeinden, an die er schrieb, bekannter und geläufiger war, weil er überhaupt im römischen Reiche einen angeseheneren Klang besaß, und umgekehrt bei seinen Stammensgenossen weniger gebraucht wurde. Denn Paulus musste darauf halten, einerseits nicht unnützen Verdacht und Hass zu erregen, der sich bei Römern und Provinzbewohnern nur zu leicht an den jüdischen Namen hängte, und andererseits die Wut seiner Stammesgenossen nicht ohne Not zu entfesseln.

Ein Knecht Jesu Christi usw. Diese Titel sollen das Gewicht der apostolischen Lehre verstärken, und zwar in doppelter Weise: Paulus ist erstens zum Apostelamt überhaupt berufen, und zweitens kann er darauf hinweisen, dass sein Amt sich auch auf die römische Gemeinde erstreckt. Paulus nennt sich also einen Diener Christi und berufen zum apostolischen Amte: er will damit sagen, dass er hier nicht willkürlich eingebrochen ist. Weiter bezeichnet er sich als ausgesondert: er will damit bezeugen, dass er nicht als eine beliebige Persönlichkeit aus der Volksmasse auftritt, sondern als ein ausgezeichneter Apostel des Herrn. In diesem Sinne hatte er auch den Gedankenfortschritt von dem umfassenderen Begriff „Knecht Jesu Christi“ zu der engeren Bezeichnung „Apostel“ vollzogen; denn zu den Knechten Jesu Christi zählt jeder, der ein Lehramt verwaltet: aber die Ehre des apostolischen Dienstes ragt darüber noch weit empor. Als Knecht des Herrn stellt Paulus sich mit allen Predigern auf gleiche Stufe. Mit dem Aposteltitel aber erhebt er sich über sie alle: weil aber eine geraubte Autorität nicht gelten würde, so behauptet Paulus, dass er von Gott in sein Amt gesetzt sei. Des Weiteren folgt eine genauere Beschreibung des Amtes eines Apostels: derselbe ist dazu berufen, zu predigen das Evangelium. Die hier gemeinte Berufung darf man nun nicht auf die Erwählung zum ewigen Leben beziehen. Es handelt sich vielmehr um das apostolische Amt: um dem Verdachte zu wehren, als habe er in persönlicher Ehrsucht seine Stellung sich angemaßt, weist der Apostel ganz einfach darauf hin, dass er durch Gott geworden sei, was er ist. Daraus können wir lernen, dass nicht jeder, der die Berufung zum ewigen Heil besitzt, damit auch schon für ein Lehramt befähigt ist. Vielmehr sollen gerade Leute, die sich für besonders geeignet halten, Sorge tragen, dass sie nicht ohne Berufung sich eindrängen. Weiter wollen wir den Finger auch darauf legen, dass eines Apostels Aufgabe die Predigt des Evangeliums ist. Dass Paulus sich als Knecht Jesu Christi bezeichnet, bezieht sich auf seine Amtsstellung und bedeutet dasselbe wie „Diener“.

V. 2. Welches er zuvor verheißen hat usw. Weil eine Lehre, die im Verdachte willkürlicher Neuerung steht, kein Ansehen gewinnen kann, so stützt der Apostel die Glaubwürdigkeit des Evangeliums durch sein Alter. Es ist, als ob er sagen wollte: Christus ist nicht plötzlich vom Himmel gefallen oder hat irgendeine unerhörte Lehrweise aufgebracht; vielmehr war er von Anbeginn der Welt samt seinem Evangelium verheißen, und die Erwartungen richteten sich von jeher auf ihn. Weil aber das hohe Altertum von Fabeln umgeben zu sein pflegt, werden Zeugen hinzugefügt, und zwar unanfechtbare, nämlich Gottes Propheten. Und drittens heißt es, dass deren Zeugnisse ordentlich aufgezeichnet wurden, nämlich in der Heiligen Schrift. Aus dieser Stelle lässt sich schließen, wie es um das Evangelium steht: sie lehrt, dass dasselbe durch die Propheten uns nicht gegeben, sondern nur zuvor verheißen ward. Haben aber die Propheten das Evangelium verheißen, so folgt, dass es uns deutlich geoffenbart und geschenkt wurde erst durch das Fleisch des Herrn. Es geht also irre, wer Verheißungen und Evangelium ineinander wirrt. Denn das Evangelium ist, eigentlich geredet, die herrliche Predigt von dem geoffenbarten Christus, an welchem die Erfüllung aller Verheißung hängt.

V. 3. Von seinem Sohn usw. Köstlicher Spruch, der uns lehrt, dass das ganze Evangelium in Christus begriffen ist! Wer also von Christus auch nur um eines Fußes Breite zurücktritt, der weicht vom Evangelium. Christus ist des Vaters lebendiges und ausgedrücktes Bild: darum wird er allein uns vorgestellt, an welchen unser Glaube sich halten und in welchem er bestehen soll. Wir haben hierin also eine Beschreibung des Evangeliums, die uns sagt, was in demselben als Summa begriffen wird.

Der geboren ist usw. Zwei Stücke müssen wir an Christus suchen, um das Heil in ihm zu finden: Gottheit und Menschheit. Die Gottheit begreift in sich Macht, Gerechtigkeit, Leben; und das alles kommt durch die Menschheit zu uns. Darum setzt der Apostel diese beiden Stücke ausdrücklich, wenn er die Summe des Evangeliums erzählt: Christus ist im Fleische erschienen, und in demselben hat er sich als Sohn Gottes erwiesen. Ganz ebenso redet auch Johannes (1, 14): erst sagt er, dass das Wort Fleisch geworden; dann fügt er bei: in diesem Fleische sei die Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater erschienen. Dass nun der Apostel das Geschlecht und die Herkunft Christi von seinem Stammvater David genauer anmerkt, ist nicht überflüssig: diese Worte erinnern uns ja an die Verheißung, damit wir nicht zweifeln, Christus sei der längst verheißene Erlöser. Die dem David gewordene Weissagung war so bekannt, dass der Messias unter den Juden kurzweg Davids Sohn hieß. Dass also Christus von David abstammt, zielt auf die Gewissheit unseres Glaubens. Paulus fügt hinzu: nach dem Fleisch. So verstehen wir, dass Christus noch Höheres besitzt als das Fleisch. Dasselbe hat er nicht von David empfangen, sondern vom Himmel gebracht: es ist die Herrlichkeit seines göttlichen Wesens. Mit diesen Worten behauptet Paulus nun nicht nur die wirkliche Fleischesnatur Christi, sondern er macht auch einen klaren Unterschied zwischen Christi menschlicher und göttlicher Natur.

V. 4. Und kräftig erwiesen als ein Sohn Gottes usw. Statt „erwiesen“ kann man vielleicht noch besser sagen: „eingesetzt“. Es ist, als wolle der Apostel sagen: die Auferstehung wirkt wie ein göttlicher Beschluss, dass dieser Mensch fortan als Gottes Sohn erkannt und geehrt werden solle. So heißt es Ps. 2, 7: „Heute habe ich dich gezeuget“. Denn jene Zeugung besteht darin, dass Gottes Sohn nun aller Welt bekannt wird. Christus ist als Sohn Gottes eingesetzt, als seine Auferstehung von den Toten seine wahrhaft himmlische, d. h. seine Geisteskraft, öffentlich kundtat. Und diese Kraft wird in der Welt begriffen, wenn derselbe Geist sie den Herzen versiegelt. Mit diesem Verständnis stimmt gut auch das Wort zusammen, welches wir bisher noch übergangen haben: Christus ward kräftig erwiesen als ein Sohn Gottes. Gottes eigne Kraft strahlte in ihm wider und bewies unzweifelhaft sein göttliches Wesen. Sie erschien aber in seiner Auferstehung. So rühmt derselbe Paulus an einer andern Stelle (2. Kor. 13, 4), wo er ausspricht, dass die Schwachheit des Fleisches im Tode Christi offenbar geworden, die Kraft des Geistes aber in seiner Auferstehung. Uns aber wird solche Herrlichkeit nicht anders bekannt, als wenn derselbe Geist sie unsern Herzen versiegelt. Dass aber Paulus mit der wunderbaren Geisteswirkung, welche der Herr durch seine Auferstehung bewies, auch das Zeugnis zusammenfasst, welches jeder Gläubige in seinem Herzen empfindet, dafür steht sein ausdrücklicher Hinweis auf die Heiligung ein. Der Geist, der da heiligt (d. h. der uns zu Gottes heiliger Offenbarung hinführt) bestätigt und befestigt jenen Beweis seiner Kraft, den er einst in Jesu Auferstehung gab. Die Schrift pflegt auch sonst die genauere Benennung des Heiligen Geistes dem grade gegebenen Zusammenhange anzupassen. So nennt der Herr den Heiligen Geist den Geist der Wahrheit, wenn er davon spricht, dass derselbe die Jünger in alle Wahrheit leiten soll (Joh. 14, 17; 16, 13). – Dass in Christi Auferstehung seine göttliche Macht erschienen, lässt sich deshalb sagen, weil der Herr durch seine eigne Kraft von den Toten erstand, wie er selbst bezeugt hat (Joh. 2, 19; 10, 18): „Brechet diesen Tempel, und am dritten Tage will ich ihn aufrichten.“ „Niemand nimmt mein Leben von mir … Ich habe Macht, es wieder zu nehmen.“ Denn aus dem Tode, dem er um der Schwachheit des Fleisches willen gewichen war, hat ihn nicht fremde Hilfe gerissen, sondern die Wirkungskraft seines vom Himmel stammenden Geistes.

V. 5. Durch welchen wir haben empfangen usw. Nachdem der Apostel die Beschreibung des Evangeliums beendet (die er einschieben musste, um die Bedeutung seines Amtes zu erklären), lenkt er zu seiner eigenen Berufung zurück, von welcher die Römer zu überzeugen ihm hoch anlag. Er nennt gesondert Gnade und Apostelamt. Diese nachdrückliche Zerteilung der Worte besagt doch nichts anderes als: „das aus Gnaden geschenkte Apostelamt“. Paulus deutet damit an, dass er die Aufnahme in diesen Kreis nicht der eigenen Würdigkeit, sondern ganz der göttlichen Gnade verdanke. Erscheint auch das Apostelamt wegen seiner Kämpfe, Mühen, Verfolgungen und Verachtung in der Welt nicht begehrenswert: vor Gott und seinen Heiligen ist seine Würde übergroß geachtet. Mit Recht gilt es demgemäß als eine Gnade, ein Apostel sein zu dürfen. – Unter seinem Namen. Wörtlich: für seinen Namen. Dies deuten viele nach 2. Kor. 5, 20: die Apostel sind Boten für Christus, an Christi Statt; sie predigen das Evangelium in oder unter seinem Namen. Besser werden wir bei dem Namen Christi daran denken, dass Christus den Menschen bekannt gemacht werden soll. Wird doch das Evangelium gepredigt, damit wir glauben an den Namen des Sohnes Gottes (1. Joh. 3, 23). Und Paulus selbst heißt ein dazu auserwähltes Rüstzeug, dass er den Namen Christi zu den Heiden trage (Apg. 9, 15). „Für den Namen“ heißt also: zur Ausbreitung des Namens.

Den Gehorsam des Glaubens aufzurichten. Das ist: wir haben Befehl empfangen, das Evangelium zu allen Heiden zu bringen, und sie sollen demselben durch den Glauben gehorchen. Indem der Apostel den Zweck seines Berufes beschreibt, erinnert er die Römer zugleich an ihre Pflicht. Es ist, als ob er spräche: mir steht es zu, das mir befohlene Amt auszurichten, d. h. das Wort zu verkündigen; an euch ist es, dem Worte in allem Gehorsam zu lauschen, wenn anders ihr nicht den Beruf, welchen Gott mir gegeben, vereiteln wollt. Daraus schließen wir, dass der Herrschaft Gottes freventlich widersteht und deren ganze Ordnung verkehrt, wer die Predigt des Evangeliums unehrerbietig und verächtlich von sich stößt, deren Zweck doch ist, uns im Gehorsam dem Herrn zu unterwerfen. Hier lässt sich auch das Wesen des Glaubens erkennen: derselbe heißt Gehorsam, weil wir dem Gott, welcher uns durch das Evangelium zu sich ruft, durch den Glauben die rechte folgsame Antwort geben. Umgekehrt ist das Hauptstück aller Auflehnung gegen Gott der Unglaube. Hier ist also nicht wie Apg. 6, 7 bloß vom Gehorsam gegen den Glauben, sondern ganz eigentlich von dem Gehorsam gegen das Evangelium die Rede, welcher im Glauben besteht.

Unter allen Heiden …, unter welchen ihr auch seid. Es reichte nicht hin, von der Berufung des Paulus zum Apostelamt zu sprechen: sein Dienst bezog sich auch auf bestimmte Jünger. Darum fügt er hinzu, dass sein Amt sich auf alle Heiden erstrecke. Und alsbald nennt er sich noch deutlicher den Apostel der Römer, indem er sagt, dass auch sie zur Zahl der Heiden gehören, zu deren Prediger er bestellt ward. Allen Aposteln ist der Auftrag gemein, das Evangelium in der ganzen Welt zu predigen. Dadurch unterscheiden sie sich von den Hirten und Bischöfen (d. h. Pastoren und Ältesten), die an bestimmte Gemeinden gebunden sind. Dem Paulus aber war neben dem allgemeinen Bereich des apostolischen Amtes durch besondere Weisung Recht und Pflicht der Heidenmission übertragen.

V. 6. Berufene Jesu Christi. Diese Benennung fügt einen näheren Grund für den Anspruch des Apostels hinzu: Gott hatte bereits den gläubigen Römern ein Zeichen durch ihre Berufung gegeben, dass er ihnen Gemeinschaft am Evangelium schenken wolle. Sollte diese Berufung Bestand behalten, so durften sie den Dienst des Paulus nicht abweisen, welcher doch durch die gleiche Erwählung Gottes zum Dienste bestellt war. Ich verstehe also dieses Satzglied „Berufene Jesu Christi“ als eine genauere Erklärung: unter den Heiden seid auch ihr, als Berufene, und zwar Jesu Christi. Der Apostel will sagen: durch ihre Berufung sind sie Glieder Christi geworden. Denn in Christus wurden vom himmlischen Vater zu Kindern erwählt, die das ewige Leben erben sollen: aber die so Erwählten werden auch dem Schutze und der Treue Christi als ihres Hirten anbefohlen.

V. 7. Euch allen, die ihr zu Rom seid usw. Hier steht in schöner Ordnung verzeichnet, was an uns des Rühmens wert ist. Zuerst: Gott hat uns durch seine Güte und Liebe zu Gnaden angenommen. Zweitens: Er hat uns berufen. Endlich: Er hat uns zur Heiligkeit angenommen. Dies letzte findet statt, wenn wir unserer Berufung uns nicht entziehen. In dem allen wird uns eine überaus inhaltreiche Lehre dargeboten, die ich nur kurz anrühren und im Übrigen dem Nachdenken jedes Lesers überlassen will. An uns findet Paulus nichts Lobenswertes, worauf er das Heil gründen könnte. Er leitet es vielmehr aus dem Quell der freien Vaterliebe Gottes allein ab. Darin steht der Anfang, dass Gott uns liebt. Was aber wäre dieser Liebe Grund, als allein Gottes Güte? Von ihr hängt auch die Berufung ab, mit welcher Gott die Annahme zur Kindschaft bei denjenigen, die er sich zuvor frei erwählt hat, zur gegebenen Zeit versiegelt. Übrigens schließen wir auch aus dieser Wahrheit, dass niemand sich zur Zahl der wahrhaft Gläubigen rechnen darf, wenn er nicht gewisslich vertraut, dass Gott ihm, dem elenden Sünder, ohne Verdienst gnädig sei, und wenn er nicht, durch Gottes Güte erweckt, sich der Heiligkeit entgegenstreckt. Denn Gott hat uns nicht berufen zur Unreinigkeit, sondern zur Heiligung (1. Thess. 4, 7).

Da der griechische Text an die zweite Person zu denken erlaubt, so sehe ich keinen Grund, jetzt in die dritte Person überzuspringen und etwa zu übersetzen: allen, die zu Rom sind. Gnade sei mit euch und Friede. Nichts Besseres lässt sich wünschen, als dass wir eine gnädigen Gott haben: darauf deutet die „Gnade“. In zweiter Linie scheint wünschenswert, dass uns von ihm Segen und Gelingen in allen Dingen zufließe: dies bedeutet der „Friede“. Denn, wie glücklich auch alles stehen mag: wenn Gott sich wider uns kehrt, so wird auch der Segen in Fluch verwandelt. So ist das einzige Fundament unseres Glücks Gottes Wohlwollen: dieses allein schafft, dass wir wahre und bleibende Freude genießen, und dass auch durch widriges Geschickt unser Heil gefördert wird. Daraus aber, dass der Friede vom Herrn erbeten wird, merken wir, dass alles Gute, das wir erfahren, dem Wohltun Gottes als rechte Frucht entsprießt. Auch das dürfen wir nicht übergehen, dass die Bitte um diese Güter sich zugleich an den Herrn Jesus richtet. Solche Ehre gebührt ihm, welcher nicht bloß das göttliche Erbarmen uns eröffnet und austeilt, sondern welcher in allen Dingen an der Regierung des Vaters teil halt. Recht eigentlich will der Apostel zu verstehen geben, dass alle Wohltaten Gottes uns durch Christus zufließen. – Bei dem Worte „Friede“ denken manche lieber an die Ruhe des Gewissens. Ich leugne nicht, dass dieser Sinn zuweilen in dem Worte liegen kann. Da aber der Apostel hier ohne Zweifel uns die Fülle aller Güter vorstellen will, so erscheint die oben vorgetragene, von Bucer entlehnte Auffassung weit passender. Der Apostel will den Frommen die Fülle des Segens wünschen: so wendet er sich an Gottes Gnade als an die letzte Quelle; diese aber spendet uns nicht bloß ewiges Heil, sie ist die Ursache aller Güter auch in diesem Leben.

8 Aufs erste danke ich meinem Gott durch Jesum Christum euer aller halben, dass man von eurem Glauben in aller Welt sagt. 9 Denn Gott ist mein Zeuge, welchem ich diene in meinem Geist am Evangelium von seinem Sohn, dass ich ohne Unterlass euer gedenke 10 und allezeit in meinem Gebet flehe, ob sich´ s einmal zutragen wollte, dass ich zu euch käme durch Gottes Willen. 11 Denn mich verlangt, euch zu sehen, auf dass ich euch mitteile etwas geistlicher Gabe, euch zu stärken; 12 das ist, dass ich samt euch Ermunterung empfinge durch euren und meinen Glauben, den wir untereinander haben.

V. 8. Aufs erste. Hier beginnt eine überaus zweckmäßige Einleitung, in welcher Paulus mit Gründen, die aus der beiderseitigen Stellung abgeleitet sind, die Bereitschaft seiner Leser, ihn anzuhören, trefflich stärkt. Was die Stellung der Leser angeht, so ist solcher Grund die allgemein bekannte Tatsache ihres Glaubens, welche der Apostel erwähnt. Er gibt damit zu verstehen, dass diese öffentliche Anerkennung von Seiten der christlichen Gemeinden ihnen eine Pflicht auferlegt: sie können den Apostel des Herrn nicht verwerfen, ohne die allgemeine gute Meinung Lügen zu strafen; und dies wäre doch unmenschlich und eigentlich treulos. Dieses Zeugnis, mit welchem der Apostel anheben musste, stärkt also einerseits seine eigene Gewissheit, dass er williges Gehör finden werde, und erleichtert ihm, das Werk der Lehre und des Unterrichts jetzt anzugreifen; andererseits band es die Römer, die Autorität des Apostels nicht zu verachten. Was seine eigene Stellung betrifft, so muss die Bezeugung seiner tief gewurzelten Liebe die Leser zur Folgsamkeit bewegen. Nichts aber öffnet einem Berater williger die Herzen, als wenn er das Vertrauen gewinnt, dass er in reiner Absicht rate und täte. – Von Einzelheiten scheint in erster Linie bemerkenswert, dass Paulus den Glauben der Leser lobt, aber mit einer Wendung, welche den Ursprung desselben auf Gott zurückführt. Wir lernen daraus, dass der Glaube ein Geschenk Gottes ist. Denn wenn danken heißt, Wohltaten anerkennen, so gestehen wir zu, unsern Glauben von Gott empfangen zu haben, wenn wir an Gott den Dank dafür erstatten. Wenn wir aber sehen, dass der Apostel seine Anerkennung überall mit Dank gegen Gott anhebt, so sollen wir erkennen, dass alles Gute, was wir haben, uns von Gott geschenkt ward. Auch wir mögen wohl eine solche Redeweise annehmen: wir werden dadurch eifriger werden, Gott als den Geber aller guten Gaben zu erkennen, und wir werden andere mit uns zu gleichem Sinne erwecken. Soll man diese Regel bei den geringsten Danksagungen beobachten, so am allermeisten, wenn es sich um den Glauben handelt, der eine einzigartige, nicht allen gleichermaßen zuteil werdende Gnadengabe Gottes ist. – Weiter haben wir hier ein Beispiel dafür, wie wir unsern Dank durch Christus anbringen sollen (vgl. auch die apostolische Vorschrift Hebr. 13, 15): ganz ebenso durch Christus, wie wir ja auch durch seinen Namen Barmherzigkeit vom Vater erbitten und empfangen. – Endlich nennt Paulus den Herrn seinen Gott. Das herrliche Vorrecht, so zu reden, besitzen allein die Gläubigen. Darunter verbirgt sich ja die Wechselbeziehung, welche die Verheißung ausdrückt (Jes. 30, 22): Ich will ihr Gott sein, sie sollen mein Volk sein. Indessen möchte ich hier diese Redeweise noch genauer aus dem besonderen Amt des Paulus erklären: sie weist auf den persönlichen Gehorsam hin, welchen er seinen Gott leistet, wenn er das Evangelium predigt. So nennt Hiskia den Herrn des Jesaja Gott, um diesem das Zeugnis eines wahren und treuen Propheten zu geben (Jes. 37, 4). So heißt Gott in besonderem Sinne Daniels Gott (Dan. 6, 21), weil Daniel ihm ohne Unterlass diente.

In aller Welt. Für sein Urteil über den Glauben der Römer wog dem Paulus die Aussage rechtsinniger Menschen soviel wie die der ganzen Welt. Denn über diesen Glauben, welchen sie verabscheuten, konnten die Ungläubigen natürlich kein verlässiges und gültiges Zeugnis geben. Sagt man von dem Glauben der Römer in aller Welt, so denken wir an die frohe Rede aller Gläubigen. Dass die Existenz einer Handvoll verachteter Menschen den Ungläubigen selbst in Rom entging, verschlägt nichts: bei deren Urteil, welches auch in der Tat nichts bedeutete, hielt Paulus sich nicht auf.

V. 9. Denn Gott ist mein Zeuge. Paulus beweist seine Liebe mit ihren Früchten. Hätte er die Römer nicht innigst geliebt, so würde er ihr Heil nicht so eifrig dem Herrn befohlen haben, so hätte er noch weniger einen so brennenden Eifer an die Förderung desselben gewendet. Jene Fürsorge und dieser Eifer sind sichere Zeichen der Liebe. Auf einem andern Stamme wachsen solche Früchte nicht. Um nun seiner Predigt Eingang zu schaffen, will Paulus die Leser besonders kräftig von seiner lauteren Zuverlässigkeit überzeugen: darum gebraucht er eine eidliche Versicherung, das sicherste Mittel, einer dem Zweifel ausgesetzten Behauptung die erwünschte Kraft und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Denn, wenn schwören heißt: Gott zum Zeugen für die Wahrheit unserer Rede aufrufen, so wird man ganz vergeblich bestreiten, dass der Apostel hier geschworen habe. Dennoch hat er Christi Vorschrift (Matth. 5, 33-37) nicht übertreten. Wir entnehmen daraus nur, dass Christus nicht – wie der wiedertäuferische Aberglaube wähnt – den Eid ganz abschaffen, sondern lediglich zur rechten Erfüllung des Gesetzes zurücklenken wollte. Das Gesetz aber erlaubt den Eid und verbietet nur Meineid und überflüssiges Schwören. Wollen wir also richtig schwören, so müssen wir die nüchterne Wahrhaftigkeit und gläubige Gewissenhaftigkeit zum Vorbilde nehmen, welche die Apostel in diesem Stück zeigen. Zum Verständnis der Formel sei bemerkt, dass, wenn wir Gott zum Zeugen anrufen, er auch im Falle der Unwahrheit als Rächer dastehen wird. Dies hat Paulus auch einmal in die Form gekleidet (2. Kor. 1, 23): „Ich rufe Gott zum Zeugen an auf meine Seele.“

Welchem ich diene in meinem Geist. Weltmenschen, welche Gottes spotten, pflegen seinen Namen in frevler Sicherheit zu missbrauchen. Demgegenüber sichert Paulus die eigene Glaubwürdigkeit durch eine Erinnerung an seinen frommen Sinn. Denn wo man Furcht und Ehrerbietung gegen Gott kennt, hütet man sich vor falschem Schwur. Weiter aber redet Paulus von einem Dienst im Geiste, zum Unterschiede von äußerlichem Schein. Es gibt ja viele Leute, die sich als Verehrer Gottes ausgeben und auch dem Schein nach solche sind. Deshalb bezeugt aber Paulus, dass er Gott von Herzen (in seinem Geiste) dient. Möglich, dass er auch an die Zeremonien des Alten Bundes denkt, mit denen die Juden Gott allein dienen zu können meinten. Er will da also sagen: diese Gebräuche übe ich nicht, aber ich bin doch ein Verehrer Gottes. So spricht er es auch Phil. 3, 3 aus: „Wir sind die Beschneidung, die wir Gott im Geiste dienen und rühmen uns von Christus Jesus und verlassen uns nicht auf Fleisch.“ Er rühmt sich also, Gott in aufrichtiger, innerlicher Frömmigkeit zu dienen, die ja wahre Religion und Gottesverehrung ist. Des Weiteren beweist er durch ein Zeichen, dass er dem Herrn in Wahrheit dient: dies Zeichen ist seine Arbeit. Denn einen deutlicheren Beweis für jemandes Aufopferung zu Gottes Ehre kann es nicht geben, als die Selbstverleugnung, welche alle Lasten der Schande, der Dürftigkeit, des Todes und der Verhasstheit ohne Zögern auf sich nimmt, um Gottes Reich auszubreiten. Damit unterscheidet sich der Apostel von den Heuchlern, welche ganz etwas anderes wollen, als dem Herrn dienen: die meisten treibt der Ehrgeiz oder ähnliche Untugend; deshalb sind sie weit entfernt, treulich und von Herzen ihr Amt zu führen. Hier schöpfen wir eine heilsame Lehre, die den Dienern am Worte starken Mut einflößen kann, wenn sie hören, dass ihre Predigt des Evangeliums dem Herrn einen erwünschten und wertvollen Dienst leistet. Was mag aber wider sie sein, wenn sie doch wissen, dass Gott ihre Arbeit billigt und als einen wahren Gottesdienst annimmt? – „Evangelium vom Sohne Gottes“ heißt es hier, weil Christus durch dasselbe verherrlicht wird: denn Christi Aufgabe war es, seine und eben dadurch des Vaters Herrlichkeit zu offenbaren.

Dass ich ohne Unterlass usw. Einen noch größeren Beweis für die Inbrunst seiner Liebe liefert des Apostels anhaltendes Gebet. Denn das war etwas Großes, dass er in keinem einzigen Gebet vergaß, ihrer zu gedenken. Natürlich spricht er nicht von jeder flüchtigen Anrufung Gottes, sondern nur von solchen Gebeten, bei welchen die Frommen, wenn sie sich zu ihnen die Zeit nehmen, alle andern Gedanken beiseite lassen, und zu welchen sie sich völlig zu sammeln pflegen. Denn leicht mochte dem Apostel irgendein plötzlicher Gebetsseufzer aufsteigen, ohne dass er dabei an die Römer dachte: aber so oft er ausdrücklich und absichtlich zu Gott betete, vergaß er neben andern auch sie nicht. Er spricht also von solchen Gebeten insonderheit, zu welchen die Heiligen in bestimmter Ordnung sich anschicken, wie wir ja auch wissen, dass der Herr selbst dafür die Einsamkeit gesucht. Dabei finden wir eine leise Andeutung, wie häufig und regelmäßig der Apostel so gebetet hat; denn er sagt, dass er solchem Gebet ohne Unterlass obliege.

V. 10. Und flehe, ob sich´ s einmal usw. Niemand glaubt an die Lebhaftigkeit unseres Eifers für irgendein Ding, wenn wir nicht bereit sind, dieselbe mit der Tat zu beweisen. Darum rühmt der Apostel seine Besorgnis um das Heil der Leser nicht bloß mit Worten, sondern fügt vor Gottes Angesicht als einen neuen Beweis seiner Liebe hinzu, dass sein Gebet sich darauf richtet, ihnen nützlich sein zu können. Zur Verdeutlichung des Gedankenfortschritts mögen wir ein „auch“ einschieben: „und ich flehe auch“ usw. Wenn er aber den Ausdruck wählt: dass ich zu euch käme durch Gottes Willen – so erbittet er damit von Gott nicht etwa bloß Glück für die Reise, sondern ob seine Reise ein Glück sei, das ermisst er daran, ob sie mit Gottes Willen geschehen könne. Nach dieser Regel müssen sich alle unsere Gebetswünsche richten.

V. 11. Denn mich verlangt, euch zu sehen. Paulus konnte auch aus der Ferne den Glauben der römischen Christen durch seine Lehre stärken; aber weil die persönliche Gegenwart stets passenderen Rat finden lehrt, darum wünscht er nahe zu sein. Den Zweck seiner Absicht drückt er aber so aus, dass man sieht, er wolle nicht um seines, sondern um ihres Vorteils willen die Mühe auf sich nehmen. Unter geistlicher Gabe versteht er Vorzüge der Lehre, der Ermahnung oder der Weissagung, welche er sich bewusst war, von Gottes Gnade empfangen zu haben. Auf den rechten Gebrauch solchen Besitzes deutet das Wort „mitteilen“. Denn dazu hat recht eigentlich ein jeglicher seine Gaben empfangen, damit er sie den andern Gliedern mitteile (Röm. 12, 3; 1. Kor. 12, 11).

Euch zu stärken. Damit wird wieder etwas gemildert, was der Apostel soeben von der Mitteilung sagte. Es soll der Schein getilgt werden, als hielte Paulus die Leser für bedürftig, wieder in den ersten Anfangsgründen unterwiesen zu werden, als ob sie Christus noch nicht richtig kennen gelernt hätten. Er bietet ihnen also seine Hilfe an, um sie trotz aller bisherigen Fortschritte weiterzuführen. Denn der Stärkung bedürfen wir alle, bis wir das Maß des vollkommenen Alters Christi erreicht haben werden (Eph. 4, 13). Aber der Apostel unterbietet auch noch diese Bescheidenheit:

V. 12. Er verbessert gewissermaßen den bisher gebrauchten Ausdruck: nicht ein solcher Lehrer will er sein, der es verschmähte, auch wiederum von ihnen zu lernen. Er will sagen: so möchte ich nach dem Maß der mir verliehenen Gnade euch stärken, dass euer Beispiel meinem Glauben neue Frische bringt und wir vereinigt vorwärts streben. Siehe, wie tief lässt sich der wahrhaft fromme Sinn herab! Er weigert sich nicht. selbst von schwachen Anfängern Stärkung anzunehmen. Und doch redet hier nicht etwa eine erheuchelte Demut: denn so gering ist niemand in der Gemeinde Christi, dass er uns gar keinen Segen mitteilen könnte. Aber unser böser Stolz hindert uns, herüber und hinüber solche Frucht zu empfangen. Unser Hochmut und der Rausch unserer Selbstüberhebung lässt uns andere verachten, als ob wir sie nicht brauchten und uns selbst genug sein könnten. – Mit Bucer übersetze ich lieber „Ermunterung“ als Trost. Denn das erstere passt besser in den Zusammenhang.

13 Ich will euch aber nicht verhalten, liebe Brüder, dass ich mir oft habe vorgesetzt, zu euch zu kommen (bin aber verhindert bisher), dass ich auch unter euch Frucht schaffte gleichwie unter andern Heiden. 14 Ich bin ein Schuldner der Griechen und der Ungriechen, der Weisen und der Unweisen. 15 Darum, soviel an mir ist, bin ich geneigt, auch euch zu Rom das Evangelium zu predigen.

V. 13. Ich will euch aber nicht verhalten. Der bisher bezeugte Eifer, die Römer persönlich besuchen zu wollen, müsste unglaubwürdig erscheinen, wenn Paulus nicht jede dafür gebotene Gelegenheit ergriffen hätte. Darum spricht er jetzt davon, dass es nicht an Versuchen, sondern nur an der Gelegenheit gefehlt habe. Die Ausführung des längst gehegten Planes wurde immer wieder verhindert. Wir lernen daraus, dass Gott oft die Pläne der Seinen stört, um sie zu demütigen und durch solche Demütigung zu gewöhnen, dass sie mit seiner Vorsehung rechnen und sich ganz von derselben abhängig machen. Und doch werden die Frommen nicht eigentlich von ihren Vorsätzen abgebracht: denn sie hegten keine Vorsätze ohne Gottes Willen. Mit solcher Sicherheit Zukunftspläne zu entwerfen, als stünde die Ausführung ganz bei uns, das ist die Art anmaßlichen Unglaubens, welche Jak. 4, 13 kräftig tadelt. Wenn Paulus sagt, er sei verhindert worden, so will dies nur so verstanden sein, dass Gott ihm wichtigere Geschäfte zuschob, die er ohne Schädigung der Kirche nicht liegen lassen durfte. Es ist ein Unterschied zwischen den Verhinderungen der Frommen und der Ungläubigen. Diese sehen sich erst dann gehindert, wenn Gott sie mit gewaltsamem Griffe der Bewegung beraubt. Jene betrachten schon als genügenden Hinderungsgrund, dass die Pflicht oder die Rücksicht auf die Erbauung des Nächsten ihnen etwas zu tun verbietet. Dass ich auch unter euch Frucht schaffte. Gemeint ist selbstverständlich die Frucht, welche einzusammeln der Herr seine Apostel gesandt hat. Joh. 15, 16: „Ich habe euch erwählet, dass ihr hingehet und Frucht bringet, und eure Frucht bleibe.“ Solche Frucht sammelten sie freilich nicht für sich, sondern für den Herrn: und doch redet Paulus davon wie von seinem Eigentum. Denn nichts ist den Frommen mehr eigen, als Gottes Ehre zu verbreiten: daran hängt ihre ganze Seligkeit. Dass er aber unter andern Heiden Frucht geschafft habe, erwähnt der Apostel, um den römischen Christen Mut zu machen: dessen fruchtbares Wirken unter soviel Heiden verspürt ward, der wird zu ihnen nicht leer kommen.

V. 14. Der Griechen und der Ungriechen, der Weisen und der Unweisen. Das erste Glied findet seine Erklärung durch das zweite. Wenn es die Pflicht und Schuldigkeit des Apostels erheischt, so darf man es ihm nicht als Anmaßung auslegen, dass er meint, selbst die hoch gebildeten, klugen und erfahrenen Römer noch etwas lehren zu können. Gottes Wohlgefallen war es, ihn auch den Weisen zum Lehrer zu setzen. Zwei Wahrheiten gilt es hier zu erwägen: den Weisen bietet Gottes Ordnung das Evangelium an; damit will der Herr alle Weisheit der Welt sich unterwerfen und will allen Scharfsinn, jegliche Wissenschaft und hohe Kunst unter die Einfachheit dieser Lehre erniedrigen. So rücken die Weisen auf eine Stufe mit den Unweisen und müssen so demütig werden, dass sie als Mitjünger unter dem einigen Meister Christus gelten lassen, die sie zuvor nicht einmal als eigene Jünger aufgenommen hätten. Andererseits dürfen von dieser Jüngerschaft die Unweisen nicht ausgeschlossen, ja die dürfen auch nicht im Entferntesten durch einen hohen Schein davon abgeschreckt werden. Denn Paulus war ihr Schuldner, und zwar ein vertrauenswürdiger; denn er zahlte, was er schuldig war. Hier werden sie finden, was sie fassen können. Hier empfangen auch alle Lehrer die beachtenswerte Regel, dass es gilt, sich auch den Unweisen und Törichten herablassend und freundlich anzupassen. Bei solchem Verfahren werden sie die Unreife mit größerem Gleichmut ertragen und unzählige Anstöße über sich ergehen lassen, welchen sie sonst unterliegen würden. Doch sollen sie wissen: die Schuldigkeit gegen die Toren erstreckt sich nicht so weit, dass um einer gar zu großen Nachgiebigkeit willen die Torheit bleiben dürfte, was sie ist.

V. 15. Darum, soviel an mir ist usw. Damit schließt der Apostel die Aussprache über seine Sehnsucht nach Rom. Es ist seine Pflicht, auch dort das Evangelium zu predigen und dem Herrn Frucht zu schaffen. Diesem Beruf zu folgen ist sein Wunsch, soweit es Gott erlaubt. 16 Denn ich schäme mich des Evangeliums von Christo nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben, die Juden vornehmlich und auch die Griechen. 17 Sintemal darin offenbart wird die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie denn geschrieben steht: „Der Gerechte wird seines Glaubens leben.“

16 Ich schäme mich … nicht. Dies Wort kommt dem Spott der Ungläubigen zuvor und schiebt ihn achtlos zur Seite. Zugleich erhebt es die Würde des Evangeliums, damit niemand dasselbe den Römern verächtlich mache. Dabei kann man zwischen den Zeilen lesen, dass Paulus sich selbst vor der Welt verachtet sieht, wenn er sagt: ich schäme mich nicht. So bereitet der Apostel seine Leser vor, die Schmach des Kreuzes Christi zu tragen: sie mögen das Evangelium deshalb nicht geringer schätzen, weil sie es vom Hohn und Spott der Gottlosen überschüttet sehen. Vielmehr wird uns der hohe Wert des Evangeliums für die Frommen enthüllt. Fordert die Kraft Gottes unsere ganze Ehrerbietung, so sollen wir wissen: sie leuchtet im Evangelium. Ist Güte begehrens- und liebenswert -: das Evangelium ist dieser Güte Werkzeug. Denn es will uns selig machen. So erscheint es verehrungswürdig und liebenswert zugleich. Wir wollen dabei wohl beachten, welch unvergleichliche Würde Paulus der Predigt des Wortes zuschreibt, wenn er bezeugt, dass Gott eben in sie die Kraft gelegt habe, selig zu machen. Da ist nicht von irgendeiner geheimen Offenbarung die Rede, sondern von der mündlichen Predigt. Wie verachtet man also mutwillig Gottes Kraft, wie stößt man Gottes erlösende Hand von sich, wenn man sich dem Hören der Predigt entzieht! Weil aber Gottes Kraft nicht überall erfolgreich wirkt, sondern nur dort, wo der Geist als ein innerlich unterweisender Lehrer die Herzen erleuchtet, darum fügt der Apostel hinzu: alle, die daran glauben. Zur Seligkeit wird zwar das Evangelium jedermann angeboten, aber es beweist nicht überall seine Kraft. Dass es aber für die Gottlosen ein Geruch des Todes wird, das ist nicht die Folge seiner Natur, sondern ihres bösen Willens. Es offenbart nur eine Seligkeit und schneidet jede andere Hoffnung ab: wer dieser einzigen Seligkeit sich entzieht, empfängt im Evangelium gewissermaßen die Offenbarung seiner Verlorenheit. Weil also das Evangelium ohne Unterschied alle Menschen zur Seligkeit einlädt, so heißt es im eigentlichen Sinne eine selig machende Botschaft. Denn Christus ist darin, dessen eigentliches Amt es ist, selig zu machen, was verloren ist. Wer sich aber von ihm nicht selig machen lassen will, wird ihn als Richter kennen lernen. Übrigens bildet in der Heiligen Schrift die Seligkeit häufig den Gegensatz zum Verlorengehen. Daraus lässt sich abnehmen, um was es sich handelt. Weil das Evangelium uns frei macht von der Qual und dem Fluch des ewigen Todes, darum besteht die Seligkeit, welche es bringt, im ewigen Leben. Die Juden vornehmlich und auch die Griechen. Der Name Griechen umfasst hier alle Heiden, wie aus der Zweiteilung hervorgeht, welche doch die ganze Menschheit umspannen soll. Dabei bleibt den Juden ihr Vorzug, weil ihnen zunächst die Verheißung und Berufung galt. Aber die Heiden werden alsbald im zweiten Grade hinzugefügt.

V. 17. Sintemal darin offenbart wird die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Dieser Satz erläutert und begründet die vorige Aussage, dass das Evangelium eine Kraft sei, selig zu machen. Wer Seligkeit, d. h. Leben, in der Gemeinschaft Gottes sucht, muss vor allen Dingen Gerechtigkeit suchen: Gerechtigkeit macht uns Gott angenehm, und nur wenn wir einen gnädigen Gott haben, können wir das Leben besitzen, welches im Genuss der göttlichen Güte besteht. Gottes Liebe ruht nur auf Gerechten, Ungerechtigkeit ist ihm verhasst. Es wird uns also eingeschärft, dass sich Seligkeit nur aus dem Evangelium schöpfen lässt: denn nirgends sonst hat Gott seine Gerechtigkeit geoffenbart, welche allein vom Verlorengehen erlöst. Diese Gerechtigkeit ist das Fundament der Seligkeit, und weil sie im Evangelium eröffnet ward, darum heißt das Evangelium eine Kraft, selig zu machen. – Es gilt aber, genauer zu erwägen, welch seltenen und kostbaren Schatz uns der Herr im Evangelium schenkt: die Mitteilung seiner Gerechtigkeit. Unter „Gerechtigkeit Gottes“ verstehe ich diejenige, die vor Gott gilt, die in seinem Gerichte die Probe besteht. So heißt „Gerechtigkeit der Menschen“ eine solche, die nur vor Menschenurteil als Gerechtigkeit erscheint, die aber vielleicht in Wahrheit eitler Dunst ist. Ohne Zweifel schweben diesem Worte des Paulus viele Weissagungen vor, mit welchen der Geist Gottes auf die herrliche Gerechtigkeit Gottes in Christi künftigem Königreiche vorausdeutete. Andere übersetzen: „die Gerechtigkeit, die uns von Gott geschenkt wird.“ Nun kann ja dies zweifellos einen brauchbaren Sinn haben: weil Gott uns durch das Evangelium Gerechtigkeit schenkt, darum macht er uns selig. Immerhin scheint unsere Übersetzung besser zu passen. Aber ich will darüber nicht lange streiten. Viel wesentlicher erscheint, dass viele diese Gerechtigkeit nicht bloß in der Vergebung der Sünden bestehen lassen, sondern zum Teil auch in der Gnadengabe eines innerlich erneuerten Lebens. Ich aber verstehe die Sache so, dass uns Gott lediglich deshalb zum Leben annimmt, weil er uns in freier Gnade mit sich aussöhnt. Doch davon werden wir gegebenen Orts ausführlich handeln (zu 3, 21; 4, 6). – An die Stelle des früheren Ausdrucks „alle, die daran glauben“ tritt jetzt der andere: „aus Glauben.“ Denn das Evangelium bietet die Gerechtigkeit aus, und der Glaube eignet sie sich zu. Und der Apostel fügt hinzu: in Glauben. Denn soviel unser Glaube wächst und in solcher Erkenntnis fortschreitet, um soviel wächst zugleich in uns die Erfahrung von der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, und der Besitz dieser Gerechtigkeit schlägt sozusagen tiefere Wurzeln. Im Anfange unserer Erfahrung vom Evangelium zeigt sich uns zwar Gottes freundliches Angesicht zugekehrt, aber nur wie aus der Ferne: je mehr aber die Frömmigkeit ausreift, um soviel nähern wir uns gewissermaßen dem Herrn und schauen seine Gnade deutlicher und vertrauter.

Wie geschrieben steht. Jene Glaubensgerechtigkeit beweist der Apostel mit einem Spruch des Propheten Habakuk. In einer Stelle, welche das Gericht über die Stolzen weissagt, fügt derselbe hinzu: der Gerechten Leben stehe im Glauben. Nun leben wir aber vor Gott nicht ohne Gerechtigkeit: daraus folgt, dass gerade auch unsere Gerechtigkeit im Glauben beruhen muss. Die Zukunftsform des Zeitwortes erinnert dabei, dass das Leben des Gerechten in Ewigkeit währen wird. Es bleibt nicht allein in der Gegenwart, sondern in alle Zukunft. Auch die Gottlosen schmeicheln sich mit einem Trugbilde vom Leben; aber wenn sie sagen: es ist Friede, es hat keine Gefahr, wird sie das Verderben schnell überfallen (1. Thess. 5, 3). Sie haben also nur ein Schattenbild, das einen Augenblick währet: der Glaube dagegen allein ist es, der dem Leben ewige Dauer verleiht. Das kommt daher, dass er uns zu Gott führt und unser Leben in ihn hineinzieht. Denn der Apostel würde diesen Spruch nur höchst unpassender weise anführen, wenn die Meinung des Propheten nicht wäre, dass wir dann erst einen festen Stand gewinnen, wenn unser Glaube sich auf Gott stützt. Und sicherlich hängt er nur deswegen das Leben der Frommen an den Glauben, weil derselbe dem Stolz der Welt den Abschied gibt und allein unter Gottes Schutz seine Zuflucht sucht. Allerdings behandelt der Prophet diese Wahrheit nicht ausdrücklich, erwähnt also auch die frei geschenkte Gerechtigkeit nicht: aber aus dem Wesen des Glaubens lässt sich ersehen, dass der Prophetenspruch ganz wohl mit dem vorliegenden Gegenstande zusammenstimmt. Dieser Gedankengang ergibt auch, wie innerlich notwendig Glaube und Evangelium aneinander gekettet werden. Weil es nämlich heißt: der Gerechte wird kraft seines Glaubens leben -, so folgt daraus, dass man jenes Leben durch das Evangelium empfängt. Damit haben wir das Hauptthema des ersten Teiles des Briefes erreicht: wir werden gerecht gesprochen allein durch Gottes Erbarmen vermittelst des Glaubens. Dies sagen des Apostels Worte zwar noch nicht ausdrücklich. Aber der Zusammenhang wird alsbald ergeben, dass die auf den Glauben gegründete Gerechtigkeit sich ganz auf Gottes Erbarmen stützt.

18 Denn Gottes Zorn vom Himmel wird offenbart über alles gottlose Wesen und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit in Ungerechtigkeit aufhalten. 19 Denn was man von Gott weiß, ist in ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart, 20 damit dass Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen, so man des wahrnimmt, an den Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt; also dass sie keine Entschuldigung haben, 21 dieweil sie wussten, dass ein Gott ist, und haben ihn nicht gepriesen als einen Gott noch ihm gedankt, sondern sind in ihrem Dichten eitel geworden, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert. 22 und haben verwandelt die Herrlichkeit es unvergänglichen Gottes in ein Bild gleich dem vergänglichen Menschen und der Vögel und der vierfüßigen und der kriechenden Tiere.

V. 18. Gottes Zorn wird offenbart. Durch einen Gegensatz beweist der Apostel, dass man Gerechtigkeit nur durch das Evangelium bekommen kann: denn außerhalb derselben erscheinen alle Menschen der Verdammnis unterworfen. Also kann man allein durch das Evangelium selig werden. Zunächst folgt nun der Beweis für diese behauptete Verdammnis: der Bau der Welt und die herrliche Ordnung ihrer Teile hätte dem Menschen einen Anstoß zur Verherrlichung Gottes geben müssen -, aber niemand gedenkt ernstlich dieser Pflicht. So wird jedermann des Gottesraubes und gottlos-schändlicher Undankbarkeit schuldig. Einige Ausleger haben die Anschauung, als ob Paulus mit diesem Satz zum Thema kommen und also den eigentlichen Inhalt seiner Darstellung mit der Buße beginnen lasse. Ich glaube dagegen, dass er sich hier in den erforderlichen Kampf einlassen will: das, worum es geht, hat er bereits oben (1, 16.17) ausgesprochen. Er hat doch die Absicht, zu zeigen, wo das Heil zu finden sei. Oben hat er dargelegt, dass wir es einzig und allein im Evangelium erlangen können. Nun ist aber das Fleisch keineswegs bereit, sich so weit zu demütigen, dass es Gottes Gnade allein den Lobpreis für das Heil zollt. So erklärt denn Paulus alle Welt des ewigen Todes für schuldig. Daraus folgt denn: wir sind in uns selber allesamt verloren, und das Leben müssen wir also anderswoher erlangen. Im Übrigen wird eine genauere Erwägung einzelner Worte viel zum Verständnis des ganzen Gedankens beitragen. Zwischen gottlosem Wesen und Ungerechtigkeit unterscheiden manche in der Weise, dass sie das erstere als Frevel im Verhalten zu Gott, die zweite als Unbilligkeit im Verkehr mit den Menschen deuten. Da aber der Apostel schon im nächsten Satzgliede die Ungerechtigkeit mit der Verkehrung der Religion in Verbindung bringt, so beziehen wir beide Worte auf die gleiche Sache. „Alles gottlose Wesen“ ist dabei soviel wie: das gottlose Wesen aller Menschen, welche somit ausnahmslos schuldig gesprochen werden. Die eine Undankbarkeit gegen Gott wird aber mit doppeltem Worte bezeichnet, weil diese Sünde sich nach zwei Richtungen erstreckt. Gottloses Wesen ist der Raub göttlicher Ehre. Eine Ungerechtigkeit wird dieser Frevel aber unter dem Gesichtspunkte, dass er die Gott gehörige Ehre auf sich selber überträgt. – Mit Zorn Gottes bezeichnet die Schrift nach menschlicher Sprechweise Gottes Strafe, weil wir uns den Strafenden mit erzürntem Angesicht vorzustellen pflegen. In Wirklichkeit soll Gott solche Erregung nicht zugeschrieben werden; das Wort ist nur aus der Empfindung des gestraften Sünders heraus geredet. Wenn es heißt, Gottes Zorn werde vom Himmel her offenbart, so macht uns dies sehr eindrücklich, dass wir rings um uns keine Errettung finden werden: so lang und weit der Himmel sich wölbt, ergießt sich Gottes Zorn über den ganzen Erdkreis. – Die Wahrheit Gottes ist die wahre Gotteserkenntnis. Dieselbe aufhalten heißt: sie unterdrücken und verdunkeln, womit die Menschen gleichsam des Diebstahls bezichtigt werden. In Ungerechtigkeit ist soviel als: ungerechterweise.

V. 19. Denn was man von Gott weiß. Damit will der Apostel bezeichnen, was von Gott zu wissen nötig und nützlich ist. Er versteht darunter alles, was zur Verherrlichung der göttlichen Ehre dient, oder anders ausgedrückt, was uns dazu bewegen muss, Gott die Ehre zu geben. Diese eigentümliche Wendung gibt zu verstehen, dass unser Verstand nicht zu fassen vermag, was Gott an sich ist; damit ist eine feste Grenze gezogen, welcher sich auch Gott in seiner Offenbarung anpasst. Wahnsinn ist es, Gott an sich erkennen zu wollen; davon ruft uns der Heilige Geist, der Lehrer vollkommener Weisheit, zu demjenigen zurück, „was man von Gott weiß“. Wieso die Menschen das aber wissen, wird alsbald ausgeführt. Es ist offenbar in ihnen, was auch übersetzt werden kann: unter ihnen. Da aber der Apostel von einer so eindrücklichen Offenbarung redet, der man nicht entgehen kann, so ziehen wir die erstere Übersetzung vor: Jedermann spürt, dass Gottes Offenbarung ihm ins Herz geprägt ward. Gott hat es ihnen offenbart, will sagen: der Mensch ist geschaffen, um den Weltbau zu betrachten; er hat Augen empfangen, damit der Anblick dieses herrlichen Bildes ihn zum Schöpfer selbst führe.

V. 20. Gottes unsichtbares Wesen. An sich ist Gott unsichtbar; aber weil seine Majestät aus allen Werken und Geschöpfen leuchtet, mussten ihn die Menschen darin erkennen: denn das Geschöpf trägt das klare Gepräge seines Schöpfers. In diesem Sinne nennt der Apostel (Hebr. 11, 3) die Welt einen Spiegel oder eine Erscheinung unsichtbarer Dinge. Was man aber von Gott erkennen kann, wird nicht im Einzelnen aufgezählt, sondern wir erfahren nur, dass es gilt, zu Gottes Kraft und Gottheit zu gelangen. Der Schöpfer aller Dinge kann nur von Ewigkeit seinen Ursprung von sich selbst haben. Wo man dies verstanden, fasst man das göttliche Wesen: und dieses wiederum kann nicht ohne die einzelnen darin begriffenen göttlichen Eigenschaften gedacht werden. Also dass sie keine Entschuldigung haben. Hieraus lässt sich leicht abnehmen, wie viel den Menschen die allgemeine Offenbarung vermittelst der Schöpfung nützt. Dieselbe nimmt uns lediglich jede Entschuldigung in Gottes Gericht und unterwirft uns gerechter Verdammnis. Wir wollen folgenden Unterschied setzen: diese allgemeine Offenbarung der Herrlichkeit Gottes in seinen Geschöpfen ist in Hinsicht ihres eigenen Lichtes völlig klar, in Hinsicht unserer Blindheit aber ungenügend. Aber so blind sind wir nicht, dass wir Unwissenheit vorschützen dürften und dass wir nicht unseres verkehrten Wesens überführt werden könnten. Wir haben einen Eindruck von der Gottheit empfangen und müssen daraus folgern, dass wir ihr, wie sie auch sein mag, zu dienen haben. Aber hier geht plötzlich unser Verständnis zu Ende, noch bevor wir begriffen haben, wer und wie Gott ist. Darum erkennt der Apostel (Hebr. 11, 3) dem Glauben so viel Licht zu, dass er aus der Schöpfung der Welt wirklich etwas zu ersehen vermag. Mit Recht: denn nur unsere Blindheit ist schuld, dass wir das Ziel nicht erreichen. Wir sehen insoweit, dass wir keine Entschuldigung mehr haben. Diese doppelseitige Wahrheit bringt Paulus Apg. 14, 17 zu schönem Ausdruck: Gott hat in den vergangenen Zeiten die Heiden ihre eigenen Wege in Unwissenheit wandeln lassen; und doch hat er sich nicht unbezeugt gelassen, sondern hat vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben. Es ist also ein großer Unterschied zwischen dieser Gotteserkenntnis, welche nur soweit reicht, uns alle Entschuldigung zu nehmen -, und der Erkenntnis zum Heil, von welcher Christus Joh. 17, 3 redet, deren wir uns nach Jer. 9, 24 rühmen sollen.

V. 21. Dieweil sie wussten, dass ein Gott ist. Damit spricht der Apostel noch einmal deutlich aus, dass Gott aller Menschen Verständnis seine Erkenntnis nahe gebracht, d. h. er hat sich derartig in den Werken kundgetan, dass die Menschen unausweichlich erkennen müssen, was sie selbst nicht zu wissen begehrten: es ist ein Gott. Denn die Welt kann weder durch Zufall noch aus sich selbst geworden sein. Dabei müssen wir aber stetig festhalten, was auch sofort wieder klar wird, dass diese Erkenntnis auf halbem Wege stehen bleibt. Und haben ihn nicht gepriesen als einen Gott. Man kann Gott nicht denken ohne seine Ewigkeit, Allmacht, Weisheit, Güte, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Seine Ewigkeit folgt daraus, dass er der Schöpfer aller Dinge ist. Seine Macht erkennt man daher, dass er alle Dinge in seiner Hand trägt und ihnen Bestand gibt. Seine Weisheit leuchtet aus der Ordnung der Gesetze. Seine Güte muss man erkennen, weil kein anderer Grund die Schöpfung und Erhaltung der Welt erklärt. Die Gerechtigkeit waltet in der Weltregierung, straft die Schuldigen und hilft den Unschuldigen. Die Barmherzigkeit trägt mit vieler Geduld der Menschen Verkehrtheiten. Gottes Wahrheit offenbart sich darin, dass er unveränderlich derselbe bleibt. Wer also Gott in seine Erkenntnis aufgenommen, muss seine Ewigkeit, Weisheit, Güte und Gerechtigkeit anbetend preisen. Wenn die Menschen diese Eigenschaften Gottes nicht anerkennen, sondern stattdessen an irgendein Phantasiegebilde sich hängen, so hören sie mit Recht den Vorwurf, dass sie Gott seiner Herrlichkeit berauben. Dabei heißt es mit vollem Rechte: sie haben nicht gedankt. Denn sie standen alle tief in der Schuld für Gottes Wohltaten. Schon die bloße Tatsache, dass Gott sich uns geoffenbart, verpflichtet uns zum Dank.

Sie sind in ihrem Dichten eitel geworden. D. h. sie haben der göttlichen Wahrheit den Rücken gekehrt und sind ihren eigenen törichten Gedanken gefolgt. So konnte ihr in Finsternis verirrter, anmaßender Unverstand die Wahrheit nicht mehr fassen: er sank immer tiefer in Irrtum und Lüge. Das ist die Folge jener Ungerechtigkeit, welche die Samenkörner der rechten Erkenntnis in ihrer Verderbtheit vernichtete, ehe sie nur aufsprießen konnten. V. 22. Da sie sich für weise hielten usw. Gottes Majestät in unser schwaches Begriffsvermögen zu spannen und sich Gedanken über Gott nach eigenem Sinne zu bilden, hat zu allen Zeiten bei Gelehrten und Ungelehrten als Weisheit gegolten. Der Apostel erklärt es für Anmaßung: denn die Menschen, welche in ihrer Niedrigkeit Gott die Ehre geben sollten, begannen sich selbst für weise zu halten und Gott in die eigene Niedrigkeit herabzuziehen. Den Grundsatz nämlich hält Paulus fest, dass niemand ohne eigene Schuld der wahren Anbetung Gottes fern steht. Stolze Überhebung hat Gott mit Narrheit gestraft.

V. 23. Und haben verwandelt usw. Nachdem die Menschen sich eine Anschauung von Gott gebildet, die ihrem fleischlichen Sinne entsprach, entfernten sie sich immer mehr von der Möglichkeit wahrer Gotteserkenntnis. Sie erdachten einen selbst gemachten und neuen Gott, ja sie setzten an Gottes Stelle ein Schattenbild. Das will der Apostel sagen, wenn er ausspricht: sie haben Gottes Herrlichkeit verwandelt. So ist´ s, wie wenn ein fremdes Kind untergeschoben wird. Dabei dient nicht zur Entschuldigung, dass sie trotz allem Gott im Himmel suchen und das Holz nicht für Gott selbst, sondern nur für sein Abbild halten. Denn gerade dies ist eine Beleidigung Gottes, dass man von seiner Majestät so grobe Gedanken hegt und sie mit solchem Abbilde zusammen zu bringen wagt. Von dieser frechen Torheit kann kein Stand unter den Heiden freigesprochen werden: nicht die Priester, noch die Gesetzgeber und Philosophen. Unter den letzteren hat selbst der sonst so besonnene Plato die Frage nach Gottes Gestalt aufgeworfen. Dass sie alle in ihrer Verblendung Gott irgendwie figürlich darstellen wollten, ist das deutlichste Merkmal ihrer groben und unsinnigen Phantasien über Gott. Zuerst haben sie Gottes Herrlichkeit in den Staub gezogen, indem sie dieselbe dem vergänglichen Menschen gleichmachten. Dies Wort „vergänglich“ setzt nicht nur der Menschen Sterblichkeit gegen Gottes Unsterblichkeit, sondern überhaupt Gottes unbefleckten Glanz gegen der Menschen niedriges Elend. Dann haben die Heiden diesen Frevel noch überboten und sind bis zu den Tieren und sogar zu deren hässlichsten Arten herabgestiegen. Noch unverhüllter kann sich die stumpfe Torheit nicht zeigen.

24 Darum hat sie auch Gott dahingegeben in ihrer Herzen Gelüste, in Unreinigkeit, zu schänden ihre eigenen Leiber an sich selbst, 25 sie, die Gottes Wahrheit haben verwandelt in die Lüge und haben geehrt und gedient dem Geschöpfe mehr denn dem Schöpfer, der das gelobt ist in Ewigkeit. Amen. 26 Darum hat sie Gott auch dahingegeben in schändliche Lüste: denn ihre Weiber haben verwandelt den natürlichen Brauch in den unnatürlichen; 27 desgleichen auch die Männer haben verlassen den natürlichen Brauch des Weibes und sind aneinander erhitzt in ihren Lüsten und haben Mann mit Mann Schande getrieben und den Lohn ihres Irrtums (wie es denn sein sollte) an sich selbst empfangen. 28 Und gleichwie sie nicht geachtet haben, dass sie Gott erkenneten, hat sie Gott auch dahingegeben in verkehrten Sinn, zu tun, was nicht taugt, 29 voll alles Ungerechten, Hurerei, Schalkheit, Geizes, Bosheit, voll Neides, Mordes, Haders, List, giftig, Ohrenbläser, 30 Verleumder, Gottesverächter, Frevler, hoffärtig, ruhmredig, Schädliche, den Eltern ungehorsam, 31 Unvernünftige, Treulose, Lieblose, unversöhnlich, unbarmherzig. 32 Sie wissen Gottes Gerechtigkeit, dass, die solches tun, des Todes würdig sind, und tun es nicht allein, sondern haben auch Gefallen an denen, die es tun.

V. 24. Die Gottlosigkeit ist ein verborgenes Übel, und es lässt sich als solches leicht verheimlichen. Darum schreitet der Apostel zu einem handgreiflichen Beweise, um jede Ausflucht abzuschneiden. Aus der verborgenen Gottlosigkeit sind Früchte erwachsen, welche nur als offenbare Gerichte des göttlichen Zornes verstanden werden können. Gottes Zorn aber verfährt immer gerecht: also muss verdammenswerte Schuld vorausgegangen sein. Der Apostel beleuchtet also der Menschen Abfall und Untreue durch ihre Früchte: die Abkehr von Gottes Güte hat vielgestaltiges Verderben und tiefe Verkommenheit als ein Gericht Gottes nach sich gezogen. Dabei entsprachen die Laster der Menschen innerlich notwendig ihrer zuvor behaupteten Gottlosigkeit -, ein deutliches Zeichen der gerechten Strafe. Nichts pflegt dem Menschen mehr anzuliegen als seine Ehre: der Inbegriff seiner Blindheit besteht aber darin, dass er diese Ehre wegwirft. So empfängt er die gerechte Strafe für die der Ehre Gottes angetane Schmach. Dieser eine Gedanke beherrscht in immer neuen Wendungen das Kapitel bis zum Ende: denn die Sache erfordert große Deutlichkeit. – Über die Art und Weise, wie Gott den Menschen in das Laster hineinstößt, bedarf es hier keiner langen Erörterung. Soviel ist gewiss, dass Gott diesen Fall nicht bloß zulässt und duldet, sondern als gerechter Richter derartig anordnet, dass die Menschen teils von ihrer eigenen Lust teils vom Satan in diesen Strom des Verderbens hineingerissen werden. Deshalb schreibt der Apostel nach der geläufigen Denkweise der Schrift: Gott hat sie dahingegeben. Aus diesem Worte darf man nicht die Ansicht herauspressen, dass wir lediglich durch Gottes Zulassung in Sünde fallen. Denn gewiss hat uns Gott dem Satan als dem Vollstrecker seines Zornes, gewissermaßen wie dem Henker, übergeben: aber derselbe treibt sein Werk nicht bloß, weil Gott ihn gewähren lässt, sondern weil er es als Richter verordnet hat. Darum wird Gott doch nicht grausam, oder wir unschuldig. Denn Paulus sagt deutlich, dass niemand in des Satans Gewalt gerät, der er nicht wert wäre. Nur die Wahrheit müssen wir behaupten, dass der Ursprung der Sünde nicht in Gott liegt: ihre Wurzeln stecken ganz und gar im Sünder selbst. Denn es steht unerschütterlich fest (Hos. 13, 9): „Israel, du bringest dich in Unglück; bei mir steht allein dein Heil.“ – Die Verbindung, welche der Apostel zwischen den Gelüsten des menschlichen Herzens und der Unreinigkeit herstellt, zeigt, was alles ein sich selbst überlassenes Herz gebären mag. Die Worte „an sich selbst“ weisen sehr nachdrücklich darauf hin, welche tiefen und unauslöschlichen Brandmale die Frevler ihrem eigenen Leibe zufügen.

V. 25. Die Gottes Wahrheit haben verwandelt usw. Der bereits (V. 23) angegebene Grund wird hier unserm Nachdenken noch einmal mit veränderten Worten eingeprägt. Wer Gottes Wahrheit in Lüge verwandelt, schmälert seine Ehre. Und es ist nur gerecht, dass denjenigen allerlei Schande anhängt, welche Gottes Ehre zu rauben und ihm Schmach zuzufügen sich erkühnt haben. Und haben geehret usw. Gemeint ist die Sünde des eigentlichen Götzendienstes. Die religiöse Ehre, welche man der Kreatur gibt, ist dem Herrn freventlich geraubt. Dass man in den Bildern Gott selbst anbeten will, ist keine Entschuldigung: denn Gott will solchen Dienst nicht. Eine Ehre erweist man damit nicht dem wahren Gott, sondern einem Träume des Fleisches. Den Zusatz der da gelobt ist usw. verstehe ich als einen absichtlichen Hieb gegen den Götzendienst, in dem Sinne: Gott allein gebührt Ehre und Anbetung, davon soll man ihm nicht das Geringste nehmen.

V. 26. Darum hat sie Gott auch dahingegeben. Wie nach einem Zwischensatze kehrt die Rede zu dem Hauptgedanken von der Rache Gottes zurück: als erstes Beispiel derselben verzeichnet sie die unnatürliche Fleischeslust, ein deutliches Zeichen, dass die verderbte Menschheit auf, ja unter die Stufe der Tiere durch Verkehrung der Natur herabsank. Dann folgt die lange Reihe der Laster, welche teils allezeit herrschten, teils hier und dort besonders sich breitmachten. Dabei trägt es nichts aus, dass freilich nicht jeder einzelne Mensch mit diesem ganzen Haufen von Lastern behaftet erscheint. Es genügt für die Feststellung des allgemeinen schmachvollen Zustandes, dass jeder ohne Ausnahme sich gezwungen sieht, irgendein Brandmal zuzugestehen.

Schändliche Lüste sind solche, die auch nach menschlichem Urteil als Schande gelten. Diese entsprechen aber der Schändung Gottes.

V. 27. Der Lohn ihres Irrtums. Wer vor dem hellen Lichte Gottes mutwillig die Augen verschließt, wer Gottes allein wahrhaft erleuchtende Herrlichkeit nicht sehen, und, soviel an ihm ist, auslöschen will, der verdient blind zu werden am lichten Tage, damit er sich selbst vergesse und nicht mehr wisse, was recht ist.

V. 28. Und gleich wie sie nicht geachtet haben usw. Beachte das feine Wortspiel, dessen Gleichklang Sünde und Strafe innerlich miteinander verbindet: gleichwie sie verworfen haben, in der Erkenntnis Gottes zu verharren, die doch allein unsere Sinne zu rechter Einsicht leitet, so hat Gott ihnen einen verworfenen Sinn gegeben, der verlernt hat, das Böse zu verwerfen. Die haben die Erkenntnis Gottes verworfen, weil sie derselben nicht mit gebührendem Eifer nachgingen und ihre Gedanken absichtlich von Gott abwendeten. Zu tun, was nicht taugt. Weil der Apostel bisher nur jenes scheußliche, zwar weit, aber doch nicht allgemein verbreitete Laster beispielsweise genannt hatte, so beginnt er nun, schwere Fehler aufzuzählen, von denen niemand frei gefunden wird. Was nicht taugt -, dies zielt auf jegliche Unvernunft und Pflichtwidrigkeit. Das alles sind Zeichen eines verkehrten Sinnes, dass die Menschen ohne Bedenken solchen Fehlern sich hingeben, welche schon der gemeine Menschenverstand verwirft.

V. 29. In der Aufzählung der Laster würde man vergeblich versuchen, eines aus dem andern abzuleiten. Paulus schreibt, ohne einen Zusammenhang zu berücksichtigen, wie ihm die Dinge in den Sinn kommen. Wir erklären kurz einzelne Stücke. Ungerecht handelt, wer Rechtsansprüche verletzt und nicht jedem das Seine gibt. Die alsbald genannte Bosheit ist dagegen jene Verkehrtheit des Sinnes, die dazu neigt, dem Nächsten Schaden zu tun. Unter dem Hader wird Paulus Streitereien, zänkischen und unruhigen Sinn verstehen.

V. 30. Ohrenbläser und Verleumder unterscheiden sich folgendermaßen: die ersteren stören die Freundschaft zwischen guten Menschen durch heimliche Einflüsterungen, säen Hass uns Zwiespalt und verletzen dadurch Unschuldige. Die tief gewurzelte Bosheit der Verleumder schont keinen guten Ruf. Sie fallen in wahrem Wohlbehagen an der Lästerung über jeden her, er mag es verdienen oder nicht. Gottesverächter, nicht Gottverhasste, obgleich das griechische Wort an sich auch dieses bedeuten könnte: aber es wäre nicht abzusehen, weshalb Paulus die Reihe der Laster durch Angabe einer Strafe unterbrechen sollte. Gemeint sind Leute, welche sich von Gott abwenden, weil seine Gerechtigkeit ihren Verkehrtheiten im Wege steht. Frevler sind schwere Verbrecher, welche Räubereien, Diebstähle, Brandstiftungen, Giftmorde usw. begehen. Hoffärtig sind Menschen, welche hoch über alle andern herfahren, jedermann von oben herab behandeln und sich mit niemand auf gleiche Stufe stellen wollen. Ruhmredig ist, wer ein eitles, vermessenes Selbstvertrauen zur Schau trägt.

V. 31. Treulose Menschen kennen keine Pflichten gegen die Gemeinschaft: sie zerreißen dieselbe freventlich und zeigen sich unzuverlässig und wankelmütig. Lieblosen Menschen fehlt der Sinn für die menschliche Hingabe und Hilfsbereitschaft, welchen schon die Natur uns lehren kann. Aus der Tatsache, dass hier die Unbarmherzigkeit unter den Zeichen der menschlichen Verderbtheit genannt wird, zieht Augustin gegenüber den selbstgenugsamen stoischen Philosophen den Schluss, dass die Barmherzigkeit eine eigenartige Tugend der Christen sei.

V. 32. Sie wissen Gottes Gerechtigkeit usw. Hiermit beschreibt der Apostel einen Grad des Verderbens, welcher die lasterhaften Taten an sich noch überbietet. Nichts haben die Menschen an der zügellosesten Frechheit im Sündigen fehlen lassen: sie haben den Unterschied von Gut und Böse ausgeglichen, und Dinge finden ihren Beifall, von denen sie recht gut wissen, dass Gott sie verurteilt und dass sie ihm missfallen. Diese Schamlosigkeit, welche sich im Laster spiegelt, welche bei sich selbst Fehler für Tugenden erklärt und bei andern das Böse durch Rat und Beifall mehrt, bezeichnet die höchste Stufe der Verworfenheit. So beschreibt die Schrift die hoffnungslose Schlechtigkeit (Spr. 2, 14; Jer. 11, 15): „Wenn sie übel tun, sind sie guter Dinge darüber.“ Solange ein Mensch sich noch schämen kann, mag ihm wohl geholfen werden. Wo aber die gewohnheitsmäßige Sünde eine so hochgradige Schamlosigkeit erzeugt hat, dass Laster als lobenswerte Tugenden gelten, da ist alle Hoffnung auf Umkehr geschwunden. 

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