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Calvin, Jean - Psalm 78.

Calvin, Jean - Psalm 78.

Inhaltsangabe: Dieser Psalm fasst vielerlei Dinge kurz zusammen und zerfällt dabei in zwei Hauptabteilungen. Einerseits nämlich erzählt der heilige Sänger, wie Gott eine Gemeinde aus dem Samen Davids angenommen, wie milde und gütig er sie gepflegt, wie wunderbar er sie aus Ägypten geholt hat, und mit wie mannigfaltigen Wohltaten er ihr nachgegangen ist. Anderseits spricht er tadelnd aus, wie verkehrt und sündhaft die Juden von einem solch gütigen Vater alsbald abfielen, sie, die er sich doch so sehr verpflichtet hatte, so dass die unschätzbare Güte Gottes zutage tritt, nicht nur in der anfänglichen Annahme aus freier Gnade, sondern auch darin, dass er nicht abließ, gegen den Trotz eines so treulosen und unbezähmbaren Volkes fortwährend anzukämpfen. Endlich erwähnt er die Erneuerung der Gnade und sozusagen die nochmalige Erwählung, da Gott aus dem Stamme Juda sich den David zum Könige ersah!

V. 1 u. 2. Höre, mein Volk. Aus dem Schluss des Psalms ergibt sich mit Wahrscheinlichkeit, dass er lange nach Davids Tode verfasst wurde, indem dort das Königtum gepriesen wird, das von Gott im Hause Davids aufgerichtet worden war, und dieser Königsfamilie der Stamm Ephraim als ein wegen seines ehebrecherischen Verhaltens verworfener gegenübergestellt wird. Daraus geht hervor, dass die zehn Stämme damals aus der Gemeinschaft des übrigen Volkes bereits ausgeschieden waren. Übrigens sind die ersten Verse nicht etwa, wie manche meinen, als Rede Gottes gedacht, sondern der Prophet redet selbst als ein Lehrer zu den Juden. Dem widerspricht der Umstand nicht, dass er das Volk mit „mein Volk“ anredet und so auch vom Gesetz als „seinem“ Gesetz spricht. Ist es doch bei den Propheten nichts Ungewohntes, dass sie gleichsam die Person dessen, der sie gesandt hat, borgen, um ihrer Lehre desto mehr Nachachtung zu verschaffen. Die ihnen anvertraute Wahrheit aber wird nicht unpassend so dargestellt, als ob sie von ihnen herkäme. So rühmt sich auch Paulus (Röm. 2, 16) seines Evangeliums, nicht weil er es ersonnen hätte, sondern weil er dessen Herold und Zeuge war. – Wenn wir nun erwägen, wie lässig auch Leute, die am meisten sich für Gottes Jünger ausgeben, auf sein Wort hören, so müssen wir gestehen, dass der Prophet nicht umsonst seine Rede mit solchen Worten einleitet. Findet sich doch selbst bei Gläubigen meistens nur zu viel Trägheit.

Um sich nun desto willigeres Gehör zu verschaffen, gibt er an, er werde von großen und hohen Dingen reden. Mit dem Ausdruck „Sprüche“ bezeichnet man nämlich im Hebräischen wichtige, bedeutsame Aussagen, wie z. B. Sinnsprüche, Sprichwörter. Weil nun der Gegenstand selbst, wenn er wichtig und gehaltvoll ist, die Aufmerksamkeit der Zuhörer erregt, so bezeichnet der Psalmist den Inhalt seiner beabsichtigten Rede als lauter Sinnsprüche. Das Wort, das wir, dem Beispiel anderer folgend, mit „Rätsel“ übersetzt haben, steht nicht sowohl für dunkle als für tiefsinnige und des Nachdenkens werte Sprüche. Denn der Prophet will in seinem Liede nicht auf verschlungenen Wegen sich ergehen, sondern durchsichtig und klar sich über die Wohltaten Gottes wie auch über den Undank des Volkes aussprechen. Seine Absicht ist nur, wie gesagt, die Sinne der Leser zu schärfen, dass sie diese Rede desto aufmerksamer erwägen. Die Stelle wird von Matthäus (13, 33) angeführt und auf die Person Christi angewendet, der durch dunkle Gleichnisse die Gedanken des Volkes im Ungewissen ließ. Er wollte nämlich auf diese Weise sich als hervorragenden Propheten Gottes erweisen, damit sein Wort mit desto größerer Ehrfurcht aufgenommen werde. Indem er also darin einem Propheten zu vergleichen ist, dass er in hohen Worten von tiefen Geheimnissen redete, wird das, was der prophetische Sänger von sich bezeugt, in entgegengesetztem Sinn (wirkliche Rätsel) auf ihn übertragen. Wenn übrigens schon im Psalm solch eine Hoheit hervorleuchtet, dass sie von selber die Leser zu eifrigem Nachsinnen anspornt, so geht daraus für uns hervor, mit welch ernster Aufmerksamkeit es uns geziemt, das Evangelium aufzunehmen, worin uns Christus die Schätze himmlischer Weisheit eröffnet.

V. 3. Die wir gehört haben. Wenn der Psalmist in der Vorrede ausgesagt hat, er werde von großen und geheimnisvollen Dingen reden, und nun fortfährt, es handle sich um eine allgemein bekannte und überlieferte Lehre, so scheint das sich sehr zu widersprechen. Musste doch das, was die Väter ihren Kindern, wie hier gesagt ist, erzählten, jedermann im Volk, selbst den Ungebildetsten, ja den Schwachsinnigen bekannt und vertraut sein. Wo sind also die vorhin erwähnten, rätselhaften Sprüche? Dennoch sind die Aussagen leicht in Einklang zu bringen. Wohl enthält der Psalm allbekannte Dinge, aber er preist sie mit glänzendem Redeschmuck, um die Herzen der Menschen zu reizen und um sich Gehör zu verschaffen. Dabei ist zu bemerken: So erhaben auch die Herrlichkeit des göttlichen Wortes ist, so hindert das doch nicht, dass es auch für die Kleinen und Ungelehrten zugänglich und brauchbar ist, wie auch der heilige Geist dieselben nicht umsonst daraus zu lernen einlädt. Das müssen wir uns wohl merken. Denn wenn Gott, um sich dem Fassungsvermögen der Menschen anzubequemen, gar zu einfach redet, so erntet er mit seiner anspruchslosen Redeweise nur Verachtung. Wenn er hingegen zu hoch steigt, um Ehrerbietung gegen sein Wort zu erwecken, so schützt man seine Unverständlichkeit vor, um dahinter die eigene Trägheit zu verstecken. Da nun die Welt an diesen beiden Fehlern leidet, so mäßigt der heilige Geist seine Redeweise so, dass seine erhabene Lehre auch den Geringsten nicht verborgen bleibt, wenn sie ihm nur stille Empfänglichkeit und ernstlich strebsamen Sinn entgegenbringen. Der Prophet hat aber auch die Absicht, jeden Zweifel an dem, was er sagt, auszuschließen, indem er nichts Neues vorzubringen unternimmt, sondern nur Dinge, die ehedem bestimmt erlebt worden waren und in der Gemeinde keinem Zweifel begegneten. Darum sagt er nicht bloß: wir haben diese Dinge gehört, sondern fügt auch hinzu: und wissen sie. Denn es wird gar manche Kunde leichthin ausgestreut, deren Wahrheit durchaus nicht feststeht. Ja, es ist nichts gewöhnlicher, als dass die Leute voll Märlein stecken. Nicht ohne Grund also besiegelt der Prophet das, was man „gehört“ hatte, mit gewissem Zeugnis. Die Juden, setzt er hinzu, seien in diesem Sinne von den Vätern belehrt worden; nicht als ob familiäre Überlieferung immer fehlerlos wäre; aber was erst aus fernen Gegenden herbeigebracht werden muss, unterliegt doch noch mehr sagenhafter Umbildung. Aber wohl gemerkt! Es sind nicht beliebige Väter hier gemeint, sondern nur die, die durch göttliche Erwählung zum besonderen Gottesvolke gehörten und denen die vom Himmel geoffenbarte Lehre anvertraut war.

V. 4 bis 6. Dass wir es nicht verhalten usw. Gott wollte, dass das von den Vätern Überlieferte sich durch die Geschlechter und Familien fortpflanze und so bis auf die spätesten Nachkommen gelange. Und als Zweck dessen wird bezeichnet, dass die Nachkommen verkündigen den Ruhm des Herrn und seine Macht und Wunder, die er getan hat. Da übrigens das übereinstimmende Zeugnis von Menschen nicht genügt, um den vollen Glauben an eine Lehre zu begründen, so geht der Prophet weiter und bezeichnet Gott als den Urheber derselben. Die Väter haben also, berichtet er, nicht aus eigenem Antrieb, sondern aus göttlichem Auftrag die Söhne in diese Lehre eingeweiht.

Unter (V. 5) „Zeugnis“ und „Gesetz“ ist nach meiner Meinung das geschriebene Gesetz zu verstehen, das zum Teil dazu gegeben wurde, damit durch das Gedächtnis an die Erlösung das einmal erwählte Volk im Gehorsam gegen Gott erhalten bliebe. Der Prophet will also sagen, Gott habe nicht nur mit mächtiger Hand die Juden zu seinem Eigentum erworben, sondern auch seine Gnade an ihnen besiegelt, damit die Kunde davon niemals verloren ginge. In der Tat ist sie, als der Bund durch das geschriebene Gesetz bestätigt wurde, gleichsam auf öffentlichen Tafeln verzeichnet worden, damit die Nachkommen Abrahams wüssten, sie seien aus den übrigen Völkern ausgesondert worden. Es wäre ja nicht der Mühe wert gewesen, lediglich die geschichtlichen Ereignisse festzuhalten, wenn es bei denselben nicht auf die gnädige Annahme des Volkes und auf deren Frucht abgesehen gewesen wäre. So war es also Gottes Ratschluss, dass die Väter, in der Gesetzeslehre gleichsam durch Gottes Mund unterwiesen, den Söhnen einschärften, dass sie nicht nur einmal erlöst, sondern auch zu einer Gemeinde als zu einem Leibe vereinigt worden seien, damit sie Gott, ihrem Retter, zu allen Zeiten mit reinem, heiligem Sinne dienten. Im folgenden Satzglied bestätigt der heilige Sänger, was er über die fortlaufende Lehrüberlieferung gesagt hat. Denn es ist für uns von großer Wichtigkeit, zu wissen, dass das Gesetz nicht nur einem Jahrhundert gegeben ist, sondern dass der Herr es den Vätern gebot, zu lehren ihre Kinder und es ihnen als Erbstück zu hinterlassen, damit es nie verloren gehe, sondern immerdar erhalten bleibe bis ans Ende der Welt. Im selben Sinne sagt Paulus (1. Tim. 3, 15), die Gemeinde sei ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit, nicht als ob diese an sich schwach wäre und fremder Stützen bedürfte, sondern weil Gott sie durch seine Diener ausbreite, die durch treue Verwaltung ihres Lehramts gewissermaßen die Wahrheit auf ihren Schultern tragen. Der Prophet mahnt aber, man solle darauf halten, dass einer dem andern im Amt der Unterweisung folge. Wie es aus der Zeit, da das Gesetz noch nicht geschrieben war, von Abraham (1. Mo. 18, 19) heißt: „Er wird befehlen seinen Kindern und seinem Hause nach ihm, dass sie des Herrn Wege halten und tun, was recht und gut ist“, - so wurde auch nach seinem Tode den Erzvätern dieselbe Pflicht auferlegt. Als dann das Gesetz gegeben war, setzte Gott seiner Gemeinde Priester vor als öffentliche Lehrmeister. Und durch Jesaja (59, 26) bezeugte er, dass eben dasselbe auch im Reiche Christi beobachtet werden solle, indem er spricht: „Meine Worte, die ich in deinen Mund gelegt habe, sollen von deinem Munde nicht weichen noch von dem Munde deines Samens und Kindeskindes von nun an bis in Ewigkeit“. Doch wird den Vätern der besondere Auftrag gegeben, dass ein jeder von ihnen seine Familie fleißig unterrichte; und zugleich werden alle darauf aufmerksam gemacht, dass das eine vor Gott sehr wohlgefällige Arbeit sei, wenn sie sich befleißigen, seinen Namen an die künftigen Geschlechter weiterzugeben. Denn mit den Worten: „die noch sollten geboren werden“, bezeichnet der Prophet nicht nur einige wenige; sondern so viele ihrer geboren werden, so viele sollen als Herolde in die Lücke treten, damit durch ihr Wirken immerfort die reine Religion blühe und in Kraft bestehe.

V. 7. Dass sie setzten usw. Der Psalmist schildert nun den Wert solcher Unterweisung. Erstlich sollten die Väter durch die köstliche Frucht ihrer Mühe kräftig ermuntert werden, ihre Kinder zu lehren, da sie sehen, dass sie damit den reinen Gottesdienst sicher stellen und für das Heil ihrer Söhne sorgen. Sodann sollen die Söhne ihrerseits mit desto brennenderem Verlangen sich auf das Lernen verlegen und nicht in leichtfertige Träumereien sich verlieren, sondern ihr Augenmerk auf das rechte Ziel richten. Ein unseliges und erbärmliches Bemühen ist es ja, wenn man immerdar lernt und doch nie zur Erkenntnis der Wahrheit kommt (2. Tim. 3, 7). Hören wir also, wozu das Gesetz gegeben ist, so ist daraus leicht zu entnehmen, wie man es am besten anstellt, um innerlich recht vorwärts zu kommen. Voran steht die Hoffnung. Hernach fordert der Psalmist das Halten der Gebote; zwischenhinein aber stellt er das Gedenken an Gottes Taten, die dem Glauben zur Stärkung gereichen. Er will etwa sagen, das sei die Summe göttlicher Weisheit, dass das Volk dem Herrn anhange, ihn in aufrichtigem Glauben anrufe und zur Stärkung des Vertrauens sich im Betrachten seiner Wohltaten übe, ferner dass es sich lauter in seinen Gehorsam ergebe. Im Übrigen wollen wir daraus erkennen, dass der rechtmäßige Gottesdienst mit dem Glauben anfängt. Denn wird um das vornehmste Stück seiner Ehre betrogen, wenn wir unsere Hoffnungen anderswohin richten.

V. 8. Und nicht würden wie ihre Väter. Mit dieser Erinnerung weist der Verfasser noch deutlicher darauf hin, wie notwendig diese seine Rede sei; sind doch die Juden zum Abfall geneigt, wenn sie nicht mit festen Banden zurückgehalten werden. Er nimmt es nämlich als eingestandene Tatsache an, dass sie von keiner besseren Gesinnung erfüllt sind als die Väter, von denen er sagt, sie seien treulos, widerspenstig, ränkevoll und sittenlos gewesen. Sie würden also alsbald im Gehorsam nachlassen, wenn ihre Herzen nicht beständig unterstützt und gefestigt würden. Ja, es bewahrheitet sich erfahrungsgemäß überall, was Horaz1) von seinem Volk sagt:

„Das ist das Los der Menschengeschlechter stets,
Dass abwärts steigend jedes geringer schon
Als seine Ahnen, weiter zeuget
Kinder, an denen noch größere Fehler.“

Wohin kämen wir also, wenn nicht Gott der sinkenden Welt zu Hilfe käme? Wenn nun der Prophet durch die Erinnerung an die Bosheit und Verkehrtheit der Väter nachweist, wie sehr den Juden eine strenge Zucht nottue, die sie vom üblen Beispiel abhält, so sehen wir daraus, wie töricht es ist, wenn sich die Welt einredet, das Vorbild der Väter habe uns als Gesetz zu gelten. Der Prophet handelt hier aber nicht von beliebigen Völkern, sondern vom erwählten, heiligen Geschlecht Abrahams; er tadelt auch nicht nur wenige, sondern so ziemlich das ganze Volk, in welchem durchweg sowohl Halsstarrigkeit als Vergesslichkeit gegenüber der Gnade Gottes und treulose Heuchelei im Schwange ging. Er erwähnt auch nicht nur Väter aus einem Zeitalter, sondern umfasst die ganze, lange Vergangenheit, damit man die Sünde nicht etwa darum verteidige, weil sie so alt ist. Es gilt deshalb wohl zu überlegen, welchen von den Vätern man folgen will. Und weil es schwer hält, eine verkehrte Nachahmung der Väter, vor denen wir eine angeborene Ehrfurcht empfinden, auszurotten, so hebt der Prophet die Vergehen derselben mit mehreren Worten hervor: Abfall, Zorn, Untreue, Heuchelei. Das sind freilich überaus schwere Vorwürfe, aber keine übertriebenen, wie es sich im Zusammenhange bald herausstellen wird. Den Ausdruck, dass die Kinder Israel ihr Herz nicht recht richteten, übersetzen andere abweichend, nämlich dass ihr Herz „nicht fest war“. Mir scheint der Prophet aber sagen zu wollen, dass sie ihr Herz durch allerlei Querwege von der Richtung auf Gott ablenkten (vgl. V. 37). Wir dürfen übrigens aus dieser Stelle nicht, wie die Papisten tun, die Meinung herleiten, es stehe in der Gewalt des Menschen, sein Herz zu regieren und nach Belieben zu lenken. Denn wenn der Prophet auch mit Recht diejenigen anklagt, die ihrem Herzen nicht die rechte Richtung gegeben haben, so spricht er doch damit nicht etwas aus, was sie aus sich selbst vermöchten. Obwohl es nämlich Gott zusteht, die Herzen der Menschen durch inneren Geistesantrieb zu sich zu kehren, so werden doch die ihre Schuld nicht leugnen noch der Strafe entgehen können, die sich von ihrer Willkür und Verkehrtheit irre leiten lassen. Übrigens ist aus den hier gerügten Lastern zu ersehen, in welcher Weise Gott will, dass wir ihm dienen. Vor allem sollen wir den Trotz ablegen und uns unter sein Joch fügen, sodann einen sanftmütigen Sinn annehmen, die Herzenstriebe zum Gehorsam gegen Gott richten und der Rechtschaffenheit nachjagen, - und das nicht bloß in einer vorübergehenden Anwandlung, sondern in aufrichtiger Beharrlichkeit.

V. 9 bis 11. Wie die Kinder Ephraim. Als Beispiel jener Untreue hält uns der Verfasser die Kinder Ephraim vor. Und weil Menschen, die dem Bösen anhaltend ergeben sind, nicht leicht durch eine bloße Belehrung sich zur Besinnung bringen lassen, weist er die Verworfenheit der Kinder Ephraim an den Strafen nach, die Gott über sie verhängte. Bei ihrer Kriegstüchtigkeit war es nämlich ein Zeichen des Zornes Gottes, dass sie in der Schlacht die Flucht ergreifen mussten. Es wird auch bedeutsam hinzugesetzt, dass sie als erfahrene Schützen „den Bogen führten“, da es umso schmählicher ist, wenn Leute, die von weitem ihre Geschosse auf den Feind schleudern sollten, vor Schrecken die Flucht ergreifen. Es geht daraus umso klarer hervor, dass Gott ihnen feind war, da er ihnen nicht nur seinen Beistand entzog, sondern auch ihre Herzen feig machte. Man fragt, warum der Psalmist hier nur die Kinder Ephraim anklagt, da er doch vorhin von allen Stämmen insgemein geredet hat. An ein spezielles Ereignis wie 1. Chron 7, 21 zu denken, geht nicht wohl an. Der Wahrheit kommen die Ausleger näher, welche die Ephraimiten einfach für das ganze Volk setzen; nur übersieht man dabei, dass absichtlich gerade sie besonders genannt sind, weil sie den Abfall der anderen verursachten, indem Jerobeam den Kälberdienst aufbrachte. Man halte sich gegenwärtig, was wir schon sagten, dass am Schluss des Psalms (V. 67 ff.) nicht umsonst die Verwerfung des Stammes Ephraim neben die Erwählung des Stammes Juda gestellt wird. Deshalb ist auch hier von den Kindern Ephraim in der Absicht die Rede, um die wahren Kinder Abrahams vor dem Beispiel jener zu warnen, die sich von der Gemeinde getrennt hatten und sich doch eitler Weise mit dem Namen der Gemeinde schmückten. Da sie nämlich an Zahl und Reichtum obenan standen, so ließen sich die Einfältigen nur zu leicht durch ihr Ansehen täuschen. Dieses Ansehen nun nimmt ihnen der Prophet weg, indem er zeigt, wie sie der Hilfe Gottes ermangelten.

Dahin nämlich deutet auch die Begründung mit den Worten (V. 10): Sie hielten den Bund Gottes nicht. Diese Sünde war zwar allen gemein; aber jener Stamm, der durch sein Ansehen fast das ganze Volk verderbt hatte, muss ihm als warnendes Beispiel der göttlichen Vergeltung dienen. Weil also Ephraims Glanz und Würde das Zeichen gab zum schmählichen Abfall, so wollte der Prophet verhüten, dass noch weiterhin einfältige Leute durch das trügerische Ansehen jenes Stammes irregeleitet würden. – Er erhebt denn auch keine geringfügigen Anklagen gegen sie, sondern beschuldigt sie der Treulosigkeit, die sie durch Verachtung des ganzen Gesetzes bewiesen hätten. Indem er aber zuerst den „Bund“, den sie gebrochen, erwähnt, zeigt er klar genug, dass es sich ihm hier nicht bloß um die Vorschriften für ein rechtschaffenes Leben handelt, sondern um den Dienst Gottes überhaupt, um den Glauben an seine Verheißungen, um die Anrufung, um die Unterweisung im Glaubensleben, dessen Grundlage die Annahme zur Gotteskindschaft war. Bundesbrüchig nennt er sie demnach, weil sie den Glauben an Gottes Verheißungen verlassen hatten, nachdem er doch sich feierlich verpflichtet hatte, ihr Vater zu sein. Das Gesetz aber fügt er bei, weil darin der Bund wie in einer öffentlichen Bekanntmachung aufgezeichnet war. Die Schwere der Versündigung wird noch mehr hervorgehoben durch den Ausdruck: „Sie wollten nicht, das heißt: sie ließen sich nicht nur von einer unüberlegten Anwandlung fortreißen, dass sie aus Leichtsinn, Unerfahrenheit oder Irrtum sündigten, sondern mit offenem Vorsatz und bewusster Beharrlichkeit verletzten sie den heiligen Bund Gottes.

Als Quelle dieser abscheulichen Gottlosigkeit bezeichnet der Psalmist die Undankbarkeit, womit sie die ewig denkwürdige Erlösung auf unverantwortliche Weise vergaßen und für nichts schätzten. Es gehörte in der Tat ein ungeheures Maß von Herzenshärtigkeit dazu, dass die Israeliten Gott verließen, dem sie doch auf so mannigfaltige Weise verbunden waren; und sie hätten nimmermehr vom Satan so bezaubert werden können, wenn sie nicht die zahlreichen Wundertaten vergessen hätten, deren jede ein Band hätte sein müssen, das sie in der Gottesfurcht und im Gehorsam erhalten hätte. Und damit ihnen keine Entschuldigung oder mildernder Umstand übrigbleibe, hebt er nun in glänzendem Lobpreis jene Gottestaten hervor, womit er sagen will, etwas so Arges wie dieses Vergessen finde man nicht leicht wieder; aus lauter Verkehrtheit und Nichtswürdigkeit hätten die Israeliten die Augen geschlossen, um ja nicht durch den Anblick der Herrlichkeit Gottes in Zucht gehalten zu werden.

V. 12 bis 14. Vor ihren Vätern tat er Wunder. Der Psalmist fängt nun an, von den ersten Vätern des Volkes zu reden, während bisher seine anklagenden Worte deren Nachkommen gegolten haben. Er will damit sagen, dass schon von Anfang an alle von bösem, aufrührerischem Sinn beseelt gewesen seien. Dabei leitet er passend von den Ephraimiten, von deren Abfall von Gott und Vergessen seiner Wundertaten eben die Rede war, hinüber zu den Vätern, die nun desselben Verhaltens beschuldigt werden. Zuerst berührt er die Wunder, die mitten in Ägypten selbst vor dem Auszuge des Volkes geschehen waren, wobei er, der Anschaulichkeit halber, Zoan als die berühmteste Stelle des Landes besonders namhaft macht.

Dann geht er weiter zum Durchzug durch das Meer, wo er wieder, wie wir es schon früher gesehen, berichtet, wie das Naturgesetz sich veränderte, indem die Wasser in ihrem Lauf innehielten und sich zu starren Haufen wie zu Bergen auftürmten.

Drittens erzählt er, wie Gott nach dem Überschreiten des Roten Meeres dem Volke sich als Wegführer erwies und, damit die Erlösung nicht bloß eine augenblickliche wäre, fortfuhr, mit ausgereckter Hand seine Gnade zu beweisen. Denn da sonst die Reise durch dürre und sandige Gegenden schwierig und mühsam war, so war es eine außerordentliche Wohltat, unter dem Schatten der Wolke vor der Sonnenhitze geschützt zu werden. Das war aber wieder der erste Pfand einer noch größeren Gnade, indem nämlich Gott damit bezeugte, dass dies Volk unter seinem Schutze stehe, bis es einst ins himmlische Erbteil gelange. Auch Paulus zeigt (1. Kor. 10, 2), dass jene Wolke, wie auch der Durchzug durch das Meer, ein Vorbild auf die Taufe war, deren Wert sich nicht auf dieses hinfällige Leben beschränkt, sondern bis in das ewige Heil reicht.

V. 15 u. 16. Er riss die Felsen. Ein weiteres Zeichen der Vaterliebe, womit Gott bewies, wie sehr ihm das Heil des Volkes am Herzen lag. Dabei wird nun nicht etwa einfach gesagt, dass Gott ein Getränk verschaffte, sondern auch, dass er es auf übernatürliche Weise tat. Es entspringen ja wohl etwa Flüsse aus Felsen, aber der Fels, an den Mose schlug, war gänzlich trocken; so steht fest, dass jenes Wasser nicht aus irgendeiner vorhandenen Quelle hervorgeholt wurde, sondern aus verborgenen, tiefen Klüften hervorbrach, sozusagen aus der Mitte der Erde.

Im folgenden Verse wird dasselbe bestätigt, nämlich dass ein reicher, großer Fluss sich da ergoss, wo ehedem kein Tropfen Wasser gewesen war. Wenn nur ein spärliches Bächlein geflossen wäre, so hätte die Gnadentat Gottes von Ungläubigen verdunkelt werden können. Wo aber plötzlich eine solche Menge Wasser hervorbricht, - wer wird darin nicht eher eine Verwandlung der Natur erblicken, als nur eine Öffnung einer verborgenen, unterirdischen Wasserader?

V. 17. Dennoch sündigten sie. Nachdem der Prophet kurz dargelegt hat, dass Gott durch eine fortlaufende Reihe von Wohltaten seine große Liebe gegen die Kinder Abrahams kundgetan, fügt er bei, wie sie nach ihrer gewohnten Gesinnung sich frech gegen ihn aufgelehnt hätten, nachdem er doch sie durch solch heilige Bande an sich gebunden hatte. Zuerst nun klagt er sie an, dass sie Schuld auf Schuld häuften und so Gottes Zorn herausforderten; darauf kennzeichnet er die Art, wie sie ihn erzürnten. Auch die örtlichen Verhältnisse lassen die Größe der Versündigung hervortreten, indem die Israeliten noch in der Wüste, wo das Andenken an die Befreiung noch frisch war und ihnen täglich die Wahrzeichen der Gegenwart Gottes vor Augen traten und ihre bedürftige Lage sie ohnehin zum Gehorsam hätten bringen sollen, ihre Unverschämtheit nicht bezwangen. Dass sie also selbst vor Gottes Angesicht, der sie mit dem Anblick seiner glanzvollen Gegenwart schreckte und der so gütig und milde sie zu sich lockte, während die Entziehung aller Güter das trefflichste Mittel zu ihrer Bezähmung gewesen wäre, doch sich anmaßend aufführten, das war in der Tat ein ungeheuerlicher Trotz.

V. 18 bis 20. Und versuchten Gott. Darin bestand jenes vorhin erwähnte Reizen des Zornes Gottes. Nicht als ob es an sich unerlaubt wäre, Speise zu begehren, wenn der Hungern dazu zwingt. Wer wollte es zum Verbrechen stempeln, wenn Hungernde Gott als ihren Ernährer anflehen? Aber darin haben sie gefehlt, dass sie, unzufrieden mit der von Gott ihnen beschiedenen Speise, ihren Begierden die Zügel schießen ließen. Gott hatte ja bereits begonnen, sie mit Manna zu speisen, wie wir bald nochmals hören werden. Aber indem sie dieser Nahrung überdrüssig wurden, begehren sie neue Speisen, wie Kinder, die das verschmähen, was ihr Vater ihnen zugemessen. In diesem Sinne sagt der Prophet: „Sie versuchten Gott“, indem sie sich über die von Gott ihnen bestimmten Schranken hinwegsetzten. Wer nämlich Gottes Erlaubnis gering schätzt und vernachlässigt, um sich dafür seiner Unmäßigkeit hinzugeben, wer mehr, als recht ist, begehrt, von dem heißt es, er versuche Gott. Es ist, als ob er den Herrn seinem eigenen Willen unterwerfen oder erkunden wollte, ob Gott auch mehr vermöchte, als es sein Wille zugelassen. Es ist auch so: wer Gottes Macht und seinen Willen voneinander trennt, der zerteilt gewissermaßen Gott selbst. Das tun aber die, die in Erfahrung bringen wollen, ob er mehr geben werde, als er zu bitten erlaubt hat. So wollen wir denn, damit nicht die fleischliche Lust uns zum Gott-Versuchen reize, lernen, unsere Begierden zu zügeln und bescheiden und ruhig innerhalb der Grenzen zu bleiben, die uns vorgezeichnet sind. Denn wenn unser Fleisch ausgelassen und übermütig wird, dann werden wir mit dem täglichen Brot unzufrieden und lehnen uns bald auf allerlei Weise gegen Gott auf.

Da der heilige Sänger aber gesagt hat, sie hätten Gott „in ihrem Herzen“ versucht, so fügt er nun bei (V. 19), sie hätten sich auch nicht gescheut, ihre Gottlosigkeit ganz offen mit unreinem und lästerlichem Munde auszusprechen. Dadurch wird es umso deutlicher, dass ihr Herz von Bosheit und Niederträchtigkeit ganz erfüllt war. Denn so gebiert die Lust die Sünde, wenn man ihr aus böser Gesinnung zustimmt und sie einlässt. Alsdann hat die Sünde selbst weiterhin freien Lauf, wie wir denn an den Israeliten sehen, dass sie es bis zu lästerlicher Überhebung trieben, indem sie Gottes Macht in Frage stellten, wie wenn ihnen dieselbe nur dann etwas gälte, wenn sie ihren Lüsten freien Spielraum ließe. Dass Gott ihnen einen Tisch bereiten soll, sagen sie in Erinnerung an die Üppigkeit, die sie sich in Ägypten angewöhnt hatten. Einerlei und einfache Speise war ihnen eben nicht gut genug, sie wollten an reich und mannigfaltig besetzter Tafel schwelgen.

Die Worte: Siehe, er hat wohl den Felsen geschlagen usw., wollen offenbar mit beißendem Spotte ihre Begehrlichkeit strafen. Denn wahrscheinlich haben sie nicht selbst also gesprochen, sondern der Prophet drückt gleichsam in ihrem Namen das aus, was vor ihren Augen geschehen war.

V. 21 u. 22. Da nun das der Herr hörte usw. Dieses „Hören“ Gottes bedeutet so viel als eine rechtmäßige Kenntnisnahme. Der Ausdruck ist von den irdischen Richtern herübergenommen, welche die Missetäter erst dann bestrafen können, wenn sie ihre Sache gründlich untersucht haben. Wie es also von Gott heißt, er höre die Seinen, deren Bitten er sich geneigt zeigt, so sagt man anderseits: er „hört“ die Schmähungen, die seinem Urteil nicht entgehen.

Damit man übrigens nicht meine, dass der Zorn Gottes ein übertriebener sei, schildert der heilige Sänger nochmals die Schwere des Verbrechens der Israeliten (V. 22), indem sie Gott nicht glaubten und nicht auf sein Heil hofften. Er setzt dabei als bekannt voraus, dass ihnen Verheißungen gegeben waren, auf die sie sich hätten verlassen sollen, wenn nicht ihr Wahnwitz sie verführt hätte. „Auf Gottes Hilfe hoffen“ heißt so viel als in seiner väterlichen Vorsehung ruhen, also dass wir in ihm unser volles Genüge finden. Wir können daraus auch ersehen, nicht nur, wie abscheulich vor Gott der Unglaube, sondern auch, welcher Art der wahre Glaube ist, und welche Früchte er hervorbringt. Denn wie kommt es dazu, dass die Menschen sich demütig Gott unterwerfen? Nur dadurch, dass sie überzeugt sind, dass ihr Heil ihm ganz besonders teuer sei, und dass es ihnen feststeht, er werde ihnen geben, was ihnen irgend heilsam ist, so dass sie sich nur seiner Leitung nach seinem Willen überlassen. Die Wurzel wahrer Frömmigkeit ist demnach der Glaube, der uns lehrt, alles Gute allein von Gott zu erhoffen und zu erbitten, und uns zu seinem Gehorsam geschickt macht, wie anderseits alle, die ihm misstrauen, notwendig gegen Gott murren und sich auflehnen müssen. Darauf zielt der Gedankengang des Verfassers, dass Leute, die ihr Heil nicht von ihm erwarten, sich fälschlich Gläubige nennen; denn wo man an Gott glaubt, geht daraus sogleich auch die Zuversicht des Heils hervor, die für alles Gute ihm die Ehre gibt.

V. 23 bis 25. Und er gebot den Wolken. Dieses Wunder ist natürlich nicht nach der geschichtlichen Folge eingereiht. Es ist vielmehr dem Propheten darum zu tun, die Israeliten durch diese Nebeneinanderstellung noch schärfer zu tadeln, da sie, von Manna gesättigt, nicht abließen, das Wohlleben zu begehren, von dem sie wussten, dass Gott es ihnen versagt hatte. Es war ja drei- und vierfach schnöder Undank, die Himmelsspeise zu verschmähen, durch die sie gewissermaßen den Engeln zugesellt wurden. Wenn jemand bei uns zu Lande murren wollte, weil er kein ägyptisches Brot oder asiatischen Wein bekommt, würde der nicht in ungeheuerlichem Trotz gegen Gott und Natur streiten? Und bei den Israeliten war ihre ungezügelte Begierde noch weniger entschuldbar, da Gott ihnen nicht nur irdische Speisen zu ihrer Sättigung darreichte, sondern sie mit Himmelsbrot nährte. Selbst wenn sie lange Hunger gelitten hätten, so geziemte sich doch, mit mehr Bescheidenheit Speise von Gott zu erbitten: selbst wenn sie nichts Besseres als Kleien und Abfall gehabt hätten, um ihr Leben zu fristen, so hätte es ihnen noch angestanden, die außerordentliche Gnade Gottes anzuerkennen, die in der Wüste sich ihrer annahm; wenn aber ihnen gewöhnliches Brot gereicht worden wäre, so hätten sie Ursache zu überaus großem Dank gehabt. Was soll man aber sagen, da Gott ein neues Lebensmittel schuf, das er dann vom Himmel her gleichsam mit ausgereckter Hand in reichlicher Menge ihnen zukommen ließ? Es ist klar, dass das Wunder deshalb so gepriesen und gefeiert wird, damit die Gottlosigkeit des Volkes desto verwerflicher erscheine. War es doch viel merkwürdiger, wenn es Manna vom Himmel regnete, als wenn sie mit Kräutern oder Früchten oder anderen Erzeugnissen des Erdbodens gesättigt worden wären. Einen anderen Sinn noch legt Paulus (1. Kor. 10, 3) dem Manna bei: er nennt es eine geistliche Speise, indem es ein Vorbild auf Christus war. In unserer Stelle aber ist die Absicht des Propheten, die zwiefache Undankbarkeit des Volkes nachzuweisen, da dasselbe nicht nur gewöhnliche Speisen, wie die Erde sie hervorbringt, sondern selbst das Engelsbrot verachtete.

V. 26 bis 29. Es ließ wehen den Ostwind usw. Der Prophet erzählt, wie Gott nun seinem Volke den Willen tat. Nicht dass er ihr zudringliches Bitten nun aus größerer Gnade erhört hätte; sondern er wollte durch die Tat beweisen, dass es in seiner Gewalt stehe, zu tun, was jene nicht geglaubt hatten. Es ist offenbar ganz verkehrt, wenn einige Ausleger das Fleisch mit dem Manna auf dieselbe Linie stellen. Die beiden Dinge sind ja in ihrer Bedeutung einander gerade entgegengesetzt. Denn in der Spendung des Manna waltet Gott seines Vateramtes; dagegen mit dem Fleisch füllte er den Leuten ihren Bauch, damit sie in ihrer Gefräßigkeit erstickten. Obschon es übrigens für Gott kein schwieriges Ding gewesen wäre, mitten in der Wüste Wachteln zu erschaffen, so zog er doch vor, dieselben durch Gewalt der Winde herbeizuführen, damit die Israeliten erkennen sollten, dass alle Elemente ihm zu Gebote stehen und dass Entfernungen für ihn kein Hindernis bilden, sondern seine Kraft in kurzer Zeit vom Sonnenaufgang bis zum Niedergang sich betätigen kann. Die Ungläubigen hatten also hierin einen klaren Tatbeweis von der Kraft Gottes, die sie in böser Absicht verkleinern wollten, indem sie sehen müssen, wie alle Naturkräfte bereit sind, ihm zu gehorchen, und jeden seiner Befehle hurtig ausführen. Die Richtung, aus welcher Gott den Wind wehen lässt, ist übrigens ohne Zweifel der Lage des Lagers angepasst, obwohl er an sich fähig gewesen wäre, auch ohne solche Vermittlung die Fleischvorräte herbeizuschaffen.

Der Prophet sagt nun, sie hätten gegessen und wären satt geworden, womit er nicht nur die Tatsache der reichlichen Spendung von Fleisch berichten, sondern zugleich andeuten will, dass sie aus lauter unmäßiger Esslust und nicht etwa aus Besorgnis für ihren Lebensunterhalt Fleisch verlangt hatten. Er hat schon vorher gesagt, sie hätten genug Manna empfangen, um sich zu sättigen, will also jetzt ihre Üppigkeit geißeln, in der sich ihre zügellose Lüsternheit zeigte. Wohl verheißt Gott an anderen Stellen den Gläubigen die besondere Gunst, dass er tun werde, was sie begehren; aber etwas anderes ist, wenn wir hier hören, dass er die verkehrten Bitten des gottlosen Volkes gewährt habe: er gewährte ihnen ihr Begehren. Denn aus Zorn gab er, was seine Gnade verweigert hätte. Es ist das ein bemerkenswertes Beispiel für uns, damit wir uns nicht beklagen, wenn unsere allzu ungemäßigten Bitten nach Gottes verborgenem Rat in die Schranken gewiesen werden. Denn eben dann erhört Gott uns wirklich, wenn er unserem törichten Begehren nicht nachgibt, sondern seine Wohltat so einrichtet, wie es uns frommt, wie auch umgekehrt: wenn er den Gottlosen mehr gewährt, als ihnen gut ist, so erhört er sie damit eigentlich nicht, sondern legt ihnen eine verderbliche Last auf, die sie dem jähen Untergang zutreibt. Das drückt der Prophet noch deutlicher aus, indem er sofort beifügt, jene Sättigung habe ihnen den Tod gebracht, wie wenn sie mit der Speise zugleich das Feuer des göttlichen Zorns verschlungen hätten.

V. 30 u. 31. Noch standen sie von ihrem Begehren nicht ab, d. h. sie waren noch von ihrer Begierde entzündet. Dies könnte man freilich als einen Widerspruch gegen den vorigen Satz ansehen, wo wir hörten, sie seine vollständig gesättigt worden. Wir wissen aber, dass die Menschen, wenn sie sich nicht durch Vernunft und Mäßigkeit zu beherrschen wissen, unersättlich sind, und auch nach Stillung des Hungers ihr verkehrter Appetit nicht aufhört.

Noch während also jene Israeliten in Schlemmerei und Tollheit begriffen waren, trat die Rache Gottes ein (V. 31): da kam der Zorn Gottes über sie; Gott erhob sich plötzlich zum Gericht. Zuvor, da er sich verstellte, hatte es den Anschein, als ob er gegenüber ihren Sünden die Augen zudrücke. Obschon nun das Strafgericht über alle Stände erging, nennt der Prophet absichtlich die Vornehmsten und die Besten besonders, damit das Gericht Gottes desto glänzender hervortrete. Denn es geschah nicht von ungefähr, dass gerade die Rüstigsten und an Körperkraft Ausgezeichnetsten von der Pestilenz verzehrt wurden. Da die Menschen sich durch ihre Kräfte allermeist täuschen lassen, dass sie nur umso frecher sich gegen Gott gebärden, ihre Schwachheit vergessen und sich einbilden, sie könnten sich alles erlauben, so ist es nicht zu verwundern, dass der Zorn Gottes gegen jene Leute besonders hart wütete.

V. 32 u. 33. Aber über das alles usw. Ein bekannte Sprichwort sagt: Durch Schaden wird man klug. Also muss der Zustand derer, die selbst durch öftere Züchtigungen Gottes nicht zur Vernunft kommen, ein ganz verzweifelter sein. Solcher Trotz, der durch keine Schläge zur Besserung zu bringen war, beherrschte nach der Schilderung des Propheten die Israeliten. War es doch eine furchtbare Vergeltung, als Gott beschloss, unter den starken Männern eine solche Niederlage anzurichten. Und wenn auch das ihnen nicht zu Herzen ging, so ist das ein Beweis von einer ungeheuren Verhärtung. Mit dem Ausdruck „seine Wunder“ ist allerdings nicht nur die eben erwähnte Strafe gemeint, sondern auch noch andere Zeichen, von denen früher die Rede war. Einer doppelten Bosheit sind sie also schuldig, nämlich indem sie nicht nur den Glauben an Gottes Wort verleugnet, sondern auch seine Wunder verachtet haben. Darum, fügt der Verfasser bei, seien die Strafen vermehrt worden, wie Gott durch Mose ankündigt (3. Mo. 26, 18), er werde mit den Frechen, die in ihrem bösen Tun fortfahren, noch siebenmal härter verfahren. Da übrigens vom ganzen Volk geredet wird in dem Sinne, dass alle ohne Ausnahme vom Kleinsten bis zum Größten schnell umgebracht worden seien, so können wir das mit gutem Grund auf jene schwerste Strafe beziehen, als Gott mit einem Eide bestimmte, dass mit Ausnahme Josuas und Kalebs alle in der Wüste untergehen sollten, weil sie, schon ganz nahe beim Lande Kanaan, sich wieder zurückgewandt hatten. Nachdem sie also sich den Eingang dorthin verschlossen hatten, fiel in der Wüste während vierzig Jahren eine gewaltige Menge.

Von „Tagen“ redet der Prophet zuerst (V. 33), dann von „Jahren“, und will sagen, ihre Lebenszeit sei durch den Fluch Gottes abgeschnitten worden, damit es recht deutlich werde, wie sie mitten unterwegs dahinsanken. Ihre Tage schwanden also in Eitelkeit dahin, wie ein Rauch vergeht, und ihre Jahre in Eile, in schnellem Fluss. Es war der rechte Lohn ihrer Hartnäckigkeit, dass er ihre Kräfte, worauf sie stolz waren, verschmachten ließ, so dass sie schnell wie ein Schatten vergingen.

V. 34 bis 37. Wenn er sie erwürgte usw. Der hier geschilderte Umstand lässt die Sünde noch größer erscheinen. Denn wenn man seiner Übertretungen überführt wird und gestehen muss, dass man gerechte Strafe leidet, und demütigt sich doch nicht aufrichtig, sondern hält im Gegenteil mit gemeiner Heuchelei den Herrn zum Besten, so ist das eine umso unentschuldbarere Gottlosigkeit. Wenn einer aus Unverstand seine Fehler nicht empfindet, so wird es seinem Schwachsinn verziehen; wer aber seine Schuld zugeben muss, weil er nicht mehr anders kann, dann aber derselbe bleibt, der er war, oder nach einer scheinbaren Abbitte sogleich wieder zu seiner vorigen Gesinnung zurückkehrt, der beweist mit solcher Falschheit, dass er unverbesserlich ist. Der heilige Sänger lässt auch durchblicken, dass es ganz ungewöhnliche und unverkennbare Strafen waren, durch die jenes so hartnäckige Geschlecht getrieben wurde, nach Gott zu fragen.

Er weiß auch nicht bloß davon zu sagen, dass sie ihrer Sünden überführt wurden, sondern auch (V. 35), dass sie eine Empfindung und ein Bewusstsein von der Erlösung besaßen, aus der sie gefallen waren. Auf diese Weise ist es ihnen unmöglich gemacht, Unwissenheit vorzuschützen; haben sie doch nicht aus bloßer Unbedachtsamkeit oder aus Irrtum gehandelt, sondern sozusagen mit Fleiß den Zorn Gottes gegen sich herausgefordert, wie denn Gott eben dazu ihnen die Augen öffnete, um ihnen ihre bodenlose Bosheit aufzudecken und sie aus ihren Schlupfwinkeln ans Licht zu ziehen, indem er ihre heuchlerische Verstellung vereitelte.

Indem der Prophet ihre Falschheit anklagt, da sie nicht mit aufrichtigem Herzen ihre Schuld bekannt, noch über ihrer Rettung Gott wahrhaftig die Ehre gegeben hatten, sagt er (V. 36): sie heuchelten ihm mit ihrem Munde und logen ihm mit ihrer Zunge. Nicht, dass es bei ihnen am Zugeständnis gefehlt hätte, sondern es war ein Lippenbekenntnis ohne Herzensbewegung. Das müssen wir uns wohl merken; denn wir entnehmen daraus, dass wir uns nicht nur vor grober Verstellung hüten sollen, indem die Zunge vor den Leuten etwas anderes bekennt, als man im Herzen fühlt, sondern auch vor einer mehr versteckten Heuchelei, wo der Sünder, von der Angst getrieben, in knechtischer Ergebenheit vor Gott schön tut, während er doch am liebsten sich seinem Gericht entzöge. Es leiden aber die meisten Menschen in bedenklichem Maße an dieser Krankheit. Denn ob auch Gottes Majestät ihnen eine gewisse Scheu abnötigt, so wäre es ihnen doch erwünscht, wenn alles Licht der Lehre erlöschte. Es ist also nicht genug, zum Worte Gottes Ja zu sagen, wenn nicht eine ernstliche Willensregung hinzukommt und unser Herz nicht einfältig und ungeteilt ist.

Der Prophet bezeichnet darum noch die Ursache und Quelle der Heuchelei (V. 37): Ihr Herz war nicht recht vor ihm, und hielten nicht treulich an seinem Bunde. Mit anderen Worten: Lug und Trug ist vor Gott alles, was nicht aus einem reinen und aufrichtigen Herzen entspringt. Da aber solche Rechtschaffenheit im Gesetz durchweg gefordert wird, so werden Leute, die den Bund Gottes nicht mit der schuldigen Treue pflegen, des Bundesbruchs beschuldigt. Es ist nämlich, wie anderswo erwähnt wurde, die gegenseitige Beziehung zwischen unserem Glauben und dem Bund Gottes festzuhalten. Es darf nicht der letztere wahr und der erstere falsch sein.

V. 38. Er aber war barmherzig. Um recht ins Licht zu rücken, wie jene Israeliten sich so gar nicht umstimmen und zur Besinnung bringen ließen, spricht der Prophet nun davon, dass Gott viele Sünden an ihnen getragen habe. Aber so oft er wieder Vergebung gewährte, hätten sie seine Gütigkeit ebenso sehr missbraucht, wie sie vorher seiner Strenge gegenüber halsstarrig gewesen waren. Dabei gibt der die Ursache an, warum sie nicht ganz und gar untergingen. Obgleich sie nämlich den Untergang verdient hätten, so mäßigt doch Gott seinen Zorn, um vom Volk noch einen Rest als Samen übrig zu lassen. Damit also niemand im Glick auf jene Beispiele von Strafgerichten denke, Gott habe von der verdienten Strafe nichts nachgelassen, erinnert der Prophet an unserer Stelle daran, dass die Strafen mäßig, sogar milde waren im Vergleich mit den entsetzlichen Versündigungen. Gott hat eben seine Hand zurückgehalten, indem er weniger darauf sah, was die Menschen verdient hätten, als dass er seiner Barmherzigkeit Raum geben wollte. Es ist aber deswegen kein Anlass vorhanden, uns einzubilden, Gott sei veränderlich, weil er das eine Mal uns strenger züchtigt, das andere Mal uns freundlich zu sich lockt; er versucht eben nach seiner unvergleichlichen Weisheit verschiedene Mittel, ob noch Hoffnung auf Besserung vorhanden sei. Aber dadurch wird unsere Schuld noch größer, wenn weder sein Ernst uns bessert, noch seine Güte uns rührt. Man merke aber: die Schonung, die Gott dem Volke angedeihen ließ, wird auf die Barmherzigkeit zurückgeführt, die von jeher in ihm wohnt; es ist also nicht anderweitigen Einflüssen zu danken, dass er so gnädig und seine Vergebung so leicht zu erbitten ist. Weil aber Gott nicht nur einmal und auf einerlei Weise Vergebung übte, so sagt der Prophet: Er vergab die Missetat, und vertilgte sie nicht, sodann: obschon des Öfteren gereizt wurde, hörte er doch nicht auf, seinen Zorn abzuwenden; endlich: er milderte die Strafen, damit sie nicht durch ihre Schwere das Volk vernichteten.

V. 39. Denn er gedachte usw. Nun führt der Psalmist einen zweiten Beweggrund an, warum Gott die von Natur unbeständigen und hinfälligen Menschen nicht seine Gewalt fühlen lassen wollte. Die Ausdrücke nämlich, die er gebraucht, bezeichnen die Gebrechlichkeit der Menschen, die ihre Lage so erbarmungswürdig macht. Fleisch und Geist2) stellt die Schrift öfters nebeneinander, nicht nur, wo unter dem Fleisch die verderbte und fehlerhafte Natur und unter dem Geist die Rechtschaffenheit zu verstehen ist, zu der die Kinder Gottes wiedergeboren werden; sondern die Menschen werden auch in dem Sinn Fleisch genannt, weil an ihnen nichts Festes und Dauerhaftes ist, wie in Jesaja 31, 3 Ägypten „Fleisch ist und nicht Geist“. In unserer Stelle aber spricht der Prophet vom Fleisch und vom Wind in verwandtem Sinne, indem er mit dem ersteren Wort das Verderben und die Verwesung bezeichnet, der die Menschen verfallen sind, mit dem zweiten aber einen Hauch, etwas Schattenhaftes. Weil nämlich die Menschen in ihrer Hinfälligkeit beständig dem Untergange zutreiben, so vergleicht er sie mit dem wehenden Winde, der von selbst vergeht und nicht wiederkommt. Denn wenn wir einmal unsere Laufbahn durchmessen haben, dann beginnen wir kein neues Leben auf Erden, wie es auch im Buch Hiob (14, 7) heißt, dass die Bäume alljährlich eine Wiedergeburt erleben und das im Winter erstorbene Laub wieder ergrünt, der Mensch aber, wenn er einmal dahin ist, seine Kräfte nicht wiedergewinnt. Somit verstehen wir, was der Sänger meint: Gott habe die Juden aus Erbarmen geduldet, nicht weil sie dessen wert wären, sondern weil ihre Schwachheit ihnen seine Nachsicht verschafft habe. Ungefähr denselben Gedanken werden wir im 103. Psalm (V. 14) finden, wo der Prophet sagt, dass Gott uns gnädig ist, weil er sieht, wie wir gleich dem Gras und Heu schnell welken. Wenn denn Gott an uns lauter Elend findet, das sein Erbarmen erregt, so folgt daraus, dass es lauter freie Güte ist, wenn er uns aufrechterhält. Wenn übrigens der Prophet bemerkt, die Menschen kämen nicht wieder, so schließt er damit die Hoffnung der künftigen Auferstehung nicht aus. Er fasst nur die Menschen so ins Auge, wie sie aus sich selbst sind, also in ihrem irdischen Zustande. Die Erneuerung zum himmlischen Leben aber ist ein Wunder, das hoch über der Natur steht. Im selben Sinne wird anderswo gesagt (Weish. 16, 14): „Den ausgefahrenen Geist bringt er nicht wieder zurück,“ indem nämlich die Hoffnung einer künftigen Erneuerung dem Menschen durchaus nicht angeboren, sondern in Gottes Erlösungsgnade zu suchen ist.

V. 40 u. 41. Wie oft erzürnten sie ihn. Die vorhergehende Aussage wird hier bekräftigt: die Juden reizten Gott in der Wüste durch die Unzahl ihrer Sünden so häufig, dass sie tausendmal hätten zu Grunde gehen müssen, wenn Gott ihnen nicht tausendmal gnädig gewesen wäre. Die Frage- oder Ausrufform dient dazu, es noch nachdrücklicher zu betonen, dass sie ohne Maß gesündigt hatten. Die „Wüste“ ist sowohl als Orts-, wie als Zeitumstand erwähnt, d. h. der Prophet rügt einmal den Undank, da sie sich durch immer neue Wohltaten Gottes, ja durch deren täglichen Anblick gar nicht abhalten ließen; sodann verurteilt er ihre hastige, ungezügelte Begehrlichkeit, da sie in einem kurzen Zeitraum so viele Sünden aufhäuften.

Im selben Sinne fügt er sogleich bei, sie hätten wiederholt Gott versucht, und drückt in bildlicher Rede treffend aus, welch entsetzlichen Schimpf die Menschen Gott antun, indem sie ihn versuchen. Indem das Volk es wagte, dem Herrn vorzuschreiben, wie er für sie sorgen müsse, hat ihr Unglaube seiner unermesslichen Macht Schranken gesetzt und sie eingeengt. Und in der Tat, so oft die Menschen auf ihrem Sinn beharren, ist es, als ob sie Gott mit ihrem winzigen Maßstab messen wollten. Und das heißt nichts anderes als ihn von seinem Throne herabziehen. Seine Majestät wird ja uns unterworfen, wenn unser Wille ihm die Wege vorschreiben will.

V. 42 u. 43. Sie gedachten nicht usw. Der Psalmist fährt in seinem Tadel fort, da er die Juden allein durch das Andenken an Gottes Wohltaten zügeln konnte, falls sie nicht alles Erlebte böswillig vergessen hätten. Aus solchem gottlosen Vergessen entsteht alle Frechheit und Widerspenstigkeit. Dass der Ausdruck „seine Hand“ die Kraft Gottes bedeutet, ist hinlänglich bekannt. In jener ersten Befreiung des Volkes war eben diese Hand Gottes auf neue und ungewöhnliche Weise ausgereckt. Desto verabscheuungswürdiger war die Gottlosigkeit des Volkes, die nun der Prophet heftig rügt, dass es das, was ewig unschätzbar bleiben sollte, für nichts achtete und gar bald in Vergessenheit begrub. –

Der Verfasser ruft nunmehr einige Beispiele von Gottes Macht in Erinnerung, die er (V. 43) zuerst Zeichen, dann Wunder nennt, womit er aufs Neue den widerwärtigen Stumpfsinn des Volkes an den Pranger stellt. Wenn er dabei auch ein und dieselbe Sache zweimal ausdrückt, so liegt doch im zweiten Gliede ein vermehrter Nachdruck, wie wenn er sagte, es sei ihnen damals auf unerhörte Weise Schrecken eingeflößt worden, der nicht so schnell aus den Gemütern des Volkes hätte verschwinden sollen.

V. 44 bis 49. Da er ihr Wasser in Blut wandelte. Nicht ihrer Reihenfolge nach zählt er die Wunder auf, mit denen Gott bei der Erlösung seines Volkes seine Macht bezeugte, da er es für hinreichend hielt, die bekannten Geschichten ins Gedächtnis zurückzurufen. Wir brauchen uns denn auch nicht länger dabei aufzuhalten, da ja die Geschichtsbücher Moses uns über das, was hier in der Kürze erzählt wird, deutlicher belehren. Nur das mögen die Leser festhalten: Obgleich Gott auch anderswo die Sünden der Völker mit Hagel und anderen Plagen gerächt hat, so war doch das, was damals sich in Ägypten ereignete, etwas Außerordentliches und Unerhörtes.

Und so hebt der Prophet jene denkwürdigen, göttlichen Gerichte mit mehreren bezeichnenden Worten hervor (V. 49): da er gegen sie sandte die Glut seines Zorns, Wut und Grimm und Drangsal. Diese Häufung von Ausdrücken zielt dahin, dass die schläfrigen Geister aufmerksam werden sollen auf solch eine dichtgedrängte Reihe von Wundern, die nach ihrer Zahl und ihrer hervorstechenden Art selbst für einen Blinden greifbar sind. Zuletzt wird noch beigefügt, dass Gott diese Gerichte durch Engel ausgeübt hat. Obschon er nämlich dem Himmel und der Erde bestimmte Gesetze verordnet hat nach seinem Willen und die ganze Naturordnung so regiert, dass jedes Geschöpf sein besonderes Amt hat, so verwendet er doch, so oft es ihm gut deucht, die Engel als Diener, dass sie seine Befehle vollstrecken, und zwar nicht mit gewohnten, natürlichen Mitteln, sondern mit seiner verborgenen, uns unbegreiflichen Kraft. Einige glauben, es sei hier von Teufeln die Rede, weil es heißt: „böse Engel“. Und ich weise das nicht durchaus ab. Nur ist der Grund, auf den man sich dabei stützt, etwas unsicher. Man sagt nämlich: Wie Gott seine Wohltaten uns durch auserwählte Engel zukommen lässt, so richtet er seinen Zorn durch gefallene aus, die dann gleichsam seine Scharfrichter sind. Das mag wohl zum Teil richtig sein, aber nicht immer, indem die meisten Zeugnisse der Schrift in entgegengesetztem Sinne lauten. Denn wer ist es, der die Assyrer von der Belagerung der heiligen Stadt zurücktrieb, indem er ihrem Heere eine ungeheure Niederlage beibrachte (2. Kön. 19, 35), wenn nicht der Engel, der der Gemeinde damals zum Schutze gegeben war? So war auch der Engel, der (2. Mo, 11, 5) die Erstgeburt tötete, nicht nur der Diener und Vollstrecker des Zornes Gottes an den Ägyptern, sondern er sorgte zugleich für das Heil des Volkes. Wiederum, als habsüchtige und blutdürstige Könige, - besser gesagt: Räuber, - die ganze Welt in Verwirrung brachten, da wurden, wie Daniel (10, 13) berichtet, heilige Engel als Wächter über sie gesetzt. Wenn aber auch die Ägypter wahrscheinlich gefallenen Engeln ausgeliefert waren, wie sie es denn verdienten, so ist doch an unserer Stelle anzunehmen, dass der Ausdruck „böse“ nur von dem, was jene Engel ausrichteten, hergenommen ist, indem sie die Feinde des Volkes Gottes mit Niederlagen straften, um ihre Gewaltherrschaft und ihr Wüten zu unterdrücken. Auf diese Weise werden nämlich sowohl die himmlischen, seligen Engel als auch die bösen Geister als Diener betrachtet, die Schaden tun sollen, aber auf verschiedene Weise, indem die ersten es aus freiwilligem Gehorsam gegen Gott, die anderen aber aus eigener Lust am Bösen tun, indem sie gern die ganze Welt umkehren möchten.

V. 50 u. 51. Da er seinen Zorn usw. Der Verfasser wiederholt nochmals, dass Gottes Zorn gleich einem reißenden Strome sich über ganz Ägypten ergossen habe, damit dem undankbaren Volke keine Entschuldigung übrigbleibe, nachdem es durch solch herrliche Beweise der empfangenen Gnade sich nicht im Gehorsam gegen Gott halten ließ. Endlich berührt der Prophet das Wunder, das sich zuletzt ereignete, da nämlich Gott durch die Hand des Engels alle Erstgeburt in Ägypten in einer Nacht umbrachte. Nach gewöhnlicher hebräischer Sprechweise nennt er die Erstgeburt „die Erstlinge ihrer Kraft“. Indem nämlich die Greise bei ihrem zunehmenden Alter sich dem Grabe zuneigen, in ihrer Nachkommenschaft aber gewissermaßen sich erneuern und die Kraft wieder erreichen, die in ihnen selbst zerfiel, so werden mit dem Worte „Kraft“ die Kinder bezeichnet. „Erstlinge“ aber der Kraft werden die Erstgeborenen genannt, wie ich zu 1. Mo. 49, 3 näher dargelegt habe. „Hütten Hams“ heißen die Häuser Ägyptens, weil Mizraim, von dem im Hebräischen das Land seinen Namen erhielt, ein Sohn Hams war (1. Mo. 10, 6). Übrigens erwähnt der Prophet die freie Liebe Gottes gegen die Nachkommen Sems, weil er sie allen Söhnen Hams vorzog, obschon sie durch keinerlei eigene Würdigkeit sich auszeichneten.

V. 52 bis 55. Und ließ sein Volk ausziehen. Abermals feiert der Psalmist Gottes väterliche Gunst gegen sein erwähltes Volk, das er, wie wir anderswo (zu Ps. 77, 21) bemerkten, mit einer Herde Schafe vergleicht, weil es keinen Rat noch Hilfsmittel zu seinem Schutze besaß, wenn nicht Gott geruht hätte, Amt und Stellung eines Hirten bei ihm zu übernehmen. Das ist aber ein außergewöhnliches Beweisstück seiner Liebe, dass Gott es nicht verschmähte, soweit herabzusteigen und selbst seine Schafe zu weiden. Der unkriegerische Haufe vermochte ja nichts gegen rüstige und im Krieg geübte Feinde. Bekanntlich lag jenes Volk eine Zeitlang geringen Handwerken ob, da sie zur Arbeit in Bergwerken und Steinbrüchen verurteilt waren.

Es heißt nun (V. 53), sie seien ohne Furcht hinweggeführt worden, nicht weil sie sichern und ruhigen Herzens sich auf Gott verlassen hatten, sondern weil sie unter der Leitung Gottes, der über ihrem Heile wachte, keinen triftigen Grund zur Furcht hatten, wenn nicht ihr Unglaube sie zittern gemacht hätte. Woher jene aufrührerischen Stimmen (2. Mo. 14, 11): „Warum hat Gott uns in diese Enge getrieben? Waren nicht Gräber in Ägypten?“ Dass Gott sie sicher leitete, bezieht sich also nicht auf den Gemütszustand des Volkes, sondern auf Gottes Schutz, durch den es geschah, dass sie friedlich in der Wüste rasteten, nachdem die Feinde versunken waren.

Noch andere Wohltaten Gottes (V. 54 f.) und zugleich weitere Übertretungen des Volkes zählt der Prophet auf, die den Undank des Volkes noch mehr ins Licht stellen, nämlich dass sie nach Erlangung des verheißenen Erbes immerfort eines hartnäckigen und unzugänglichen Sinnes waren, als ob sie dem Herrn keinen Dank schuldeten. Das Ende der Befreiung war, dass Gott die Israeliten vom Lande Kanaan Besitz ergreifen ließ, wovon sie sich ausgeschlossen hätten, wenn es nicht bei ihm beschlossen gewesen wäre, ihre Schlechtigkeit zu überwinden und alles, was er begonnen, vollständig zu Ende zu führen. Vom Lande selbst nun redet er als von „seiner heiligen Grenze“, weil Gott, indem er es seinem Volke bestimmte, es auch zu seinem eigenen Besitztum geweiht hatte. Umso schmählicher stellt sich dadurch die Niederträchtigkeit des Volkes heraus, das dieselben Schändlichkeiten dort einführte, mit denen das Land ehedem befleckt worden war. Denn welch eine Verkehrtheit war es doch vom Volke Israel, in allerlei Sünden mit den früheren Landesbewohnern zu wetteifern, von denen es doch wusste, dass sie eben um dieser ihrer Sünden willen vertrieben worden waren! Gerade als ob es sich mit Fleiß vorgenommen hätte, die Rache Gottes, die es an anderen gesehen, auch gegen sich heraufzubeschwören. Die folgende Bezeichnung: „zu diesem Berge“ beziehen einige, meines Erachtens unrichtig, auf das ganze Land, das wohl gebirgig ist, aber auch ziemlich weite Ebenen aufweist. Der Prophet redet also ohne Zweifel – mit feierlich gehobenem Ausdruck – vom Berge Zion, woselbst Gott sich seine Behausung und vornehmsten Wohnsitz erkoren hatte. Dieser Ort war dann sozusagen die Quelle der Heiligkeit des ganzen Landes. Von „diesem Berge“ sagt er, dass ihn Gottes „Rechte erworben“ habe, damit die Israeliten sich nicht überheben, als hätten sie ihn durch eigene Kriegstüchtigkeit gewonnen, wie es im 44. Psalm (V. 4) hieß: „Sie haben das Land nicht eingenommen durch ihr Schwert, und ihr Arm half ihnen nicht, sondern deine Rechte, dein Arm und das Licht deines Angesichts, denn du hattest Wohlgefallen an ihnen.“ Das wird nun sogleich erklärt: und vertrieb vor ihnen her die Völker und ließ ihnen das Erbe austeilen. Damit beschreibt der Prophet die Art und Weise jenes Erwerbs. Er will sagen: Es war weder das Volk Israel so kriegerisch, noch waren jene Völker so furchtsam, sondern der Krieg wurde allein durch Gottes Leitung und Kraft gewonnen. Dazu kommt, dass auch der Besitz kein rechtmäßiger gewesen wäre, hätte nicht Gott selbst beschlossen, den seitherigen Bewohnern ihr Besitztum wegzunehmen und andere in ihr Recht und Gebiet zu setzen.

V. 56 u. 57. Aber sie versuchten usw. Nun rügt der Verfasser die Juden, dass sie nach so vielen Wohltaten Gottes doch von ihrer Treulosigkeit nicht abgestanden seien; ja, als sie bald durch neue Gnadenerweise zum Gehorsam gerufen wurden, da hätten sie in ihrem Trotz das Joch abgeschüttelt. Von der Bedeutung des Wortes „versuchen“ haben wir früher gesprochen (zu V. 18). Der Prophet fügt bei: Sie erzürnten Gott und hielten seine Zeugnisse nicht. Er weist damit noch eindrücklicher die offene und grobe Auflehnung Israels nach, mit der es, obschon in freundlicher Weise über seine Pflicht belehrt, es dennoch verschmähte, Gott untertan zu sein. Auch das Gesetz nennt er „Zeugnisse“, weil Gott das Volk in dieser Form des Vertrags sich gegenüber verpflichtet hatte, wie die Menschen untereinander bestimmte Gesetze vereinbaren. Hat er aber schon in diesen Worten keinen geringen Tadel gegen sie ausgesprochen, so hebt er ihre Verschuldung noch weiter hervor, indem er ihnen auch Abfall und Treulosigkeit vorwirft. Gott hatte sie als sein Volk angenommen; sie aber verachten seine Huld und sagen sich auch weiterhin von ihm los. Er hatte sie unter seine Flügel gesammelt; sie aber entfernen sich in ihrem frechen Sinn eilig von ihm. Er hatte verheißen, er wolle ihnen ein Vater sein; sie aber wollten nicht seine Söhne sein. Den Weg des Heils hatte er ihnen gezeigt; sie aber stürzen sich freiwillig in Irrtum und Verderben. Der Prophet zieht daraus den Schluss, dies Volk sei zu allen Zeiten gottlos und verbrecherisch gewesen. Wieder ist zu bemerken, dass kein Verbrechen an den Nachkommen schärfer verurteilt wird, als dass sie ihren Vätern allzu ähnlich waren; es soll sich also keiner vortäuschen, dass das schlimme Vorbild der Väter, das er verkehrterweise nachahmte, ihn genügend entschuldige. Den Leichtsinn des Volkes schildert der Prophet durch einen trefflichen Vergleich, den auch Hosea (7, 16) anwendet. Wie nämlich Schützen sich getäuscht sehen, die einen unsoliden oder lose gespannten oder schief gehenden Bogen gebrauchen, so sagt er, dieses Volk habe „nicht gehalten“, da es in schlauen Windungen der Leitung durch Gottes Hand entschlüpfte.

V. 58. Und erzürnten ihn usw. Der Verfasser gibt die Art des Abfalls an, durch welche die Israeliten öffentlich bekundeten, dass sie dem Herrn Glauben und Gehorsam verweigerten. Sie waren genug und übergenug daran erinnert worden, dass ihr Gottesdienst ein verkehrter und unheiliger sein werde, wenn sie nicht seinem Worte anhingen; und nun setzen sie das ganze Gesetz beiseite und verfallen auf ihre Erfindungen. Solche Früchte bringt die Verachtung des Gesetzes immer, dass Leute, die lieber dem eigenen Sinn folgen, als dass sie sich Gott unterwerfen, sich hernach dem krassen Aberglauben ergeben. In zweierlei Weise aber, klagt der Prophet, sei der Dienst Gottes geschändet worden: erstlich, indem sie die Herrlichkeit Gottes entstellten und sich geschnitzte Götzenbilder machten, und zweitens, indem sie, um Gott zu versöhnen, fremdartige, verbotene Bräuche ersannen.

V. 59 bis 61. Da das Gott hörte, entbrannte er. Wieder zeigt der Prophet: als Gott sah, dass er mit Geduld nichts ausrichtete, weil das Volk damit nur spielte und sie missbrauchte zur Willkür und Sünde, da verhängte er ernste Strafen über dasselbe. Dabei vergleicht er, wie das in der heiligen Schrift uns öfter begegnet, den Herrn mit irdischen Richtern. Es heißt nämlich von Gott: „Er hörte es“, aber nicht, weil er der Erkundigung bedürfte, sondern weil er keine unbesonnenen und übereilten Urteile vollzieht. Kurz, da das Volk in seinem verbrecherischen Tun fortfuhr, drang zuletzt das Geschrei davon zum Himmel; und die Schwere der Strafe beweist selbst, wie schrecklich die Verschuldung war.

Nachdem nämlich der Psalmist gesagt hat, Israel, dem Gott so große Liebe erwiesen, sei ihm zum Gräuel geworden, fügt er bei, dass es der Gottesnähe, seines einzigen Glückes und Trostes im Elend, entkleidet wurde. Das war jene Verwerfung Israels, als Gott es zuließ (V. 60), dass die Bundeslade fortgeschleppt wurde, gleich als ob er selbst sich von Judäa abgewendet und von seinem Volke verabschiedet hätte. Gott war freilich nicht an ein sichtbares Sinnbild gebunden; aber weil er die Lade zum Wahrzeichen seiner Verbindung mit dem Volke gegeben hatte, so war ihre Entfernung ein Zeichen, dass auch er sich zurückgezogen hatte. Da aber die Bundeslade lange Zeit ihren Standort in Silo hatte, wo sie such von den Philistern erobert wurde, (1. Sam. 4, 11), so heißt der Ort die Wohnung Gottes selbst. Die Art dieses Wohnens aber wird gleich nachher passend durch den Ausdruck bezeichnet, dass Gott seine Hütte unter den Menschen hatte. Er erfüllt zwar Himmel und Erde; aber da wir seine unendliche Hoheit mit unseren Gedanken nicht erreichen, so lässt er sich nach seiner Kraft und Gnade zu uns herab und tritt, soweit es uns gut und erträglich ist, uns nahe. Es ist stark ausgedrückt, wenn es heißt, Gott habe, durch die fortwährenden Übertretungen des Volkes verletzt, sich gezwungen gesehen, den Ort zu verlassen, den er von allen Ländern einzig erwählt hatte.

Der gleiche Gedanke wird im folgenden Vers fortgesetzt, wo es heißt, er habe „seine Macht“, durch welche die Israeliten beschützt und verteidigt worden waren, „ins Gefängnis“ gegeben, nicht als ob seine Kraft an das äußere Zeichen gebunden gewesen wäre, sondern insofern er ehedem sich den Feinden entgegengestellt hatte und nun der Gnade, mit der er sonst sein Volk beschützte, gewissermaßen Fesseln auferlegte. Das hat aber nicht etwa den Sinn, als hätten die Philister Oberhand über Gott gewonnen, sondern der Prophet will einfach sagen, die Israeliten seien des göttlichen Schutzes beraubt und entblößt worden und so in die Gewalt der Feinde geraten, gerade wie wenn ein führerloses Heer geschlagen wird. Die Lade Gottes wird auch „seine Herrlichkeit“ genannt, weil er, der von Natur unsichtbar ist, darin Gestalt angenommen hat, um sich so wie durch einen Spiegel wahrnehmbar zu machen. Es lautet wohl hart und übertrieben und möchte widersinnig erscheinen, dass Gottes Macht von den Philistern gefangen genommen worden sei; aber es ist absichtlich so geschildert zur Hervorhebung der Versündigung des Volkes. Denn da Gott sonst die Macht seines Armes durch Unterstützung seines Volkes herrlich zu erweisen pflegte, so musste er überaus schwer beleidigt worden sein, dass er jenes Wahrzeichen seiner Kraft von heidnischen Völkern mit Gewalt wegschleppen ließ. Was aber hier von Silo berichtet wird, das geht nach Jer. 7, 12 auf alle, die unter eitler Berufung auf die Gegenwart Gottes sich selbst belügen und überheben. Gehet hin nach Silo, spricht der Prophet, und seht, zu welcher Schmach Gott jenen Ort verurteilt hat, wo zuvor seine Herrlichkeit strahlte! Wenn wir also nicht aufrichtig und mit schuldiger Ehrfurcht den Herrn aufnehmen, der sich freundlich zu uns naht, so ist zu befürchten, dass uns dasselbe widerfahre wie den Leuten zu Silo. Sind nicht auch so manche Städte, wo Jesus lebte und wirkte, als Bethlehem, Nazareth, Kapernaum und Jerusalem, in ihrer nachmaligen Verwüstung furchtbare Wahrzeichen des Zornes Gottes?

V. 62 bis 64. Und übergab sein Volk ins Schwert. Der Psalmist erwähnt noch andere Züge aus jener unter dem Priester Eli erlittenen Niederlage. Die Entziehung der Gnade Gottes, wie sie durch die Entfernung der Bundeslade angedeutet war, zeigte sich auch in ihren Folgen, indem Gottes Zorn alle vorhandene Blüte des Volkes verzehrte. Den Zorn bezeichnet der Prophet bildlich mit dem Ausdruck „Feuer“. Nach 1. Sam. 4, 10 kam die erlesene Mannschaft durchs Schwert der Feinde um, nicht durch Feuer. Aber es wird mit diesem Ausdruck die furchtbare, plötzliche Gewalt des Unglücks bezeichnet, wie wenn es hieße, sie seien eiligst wie Holzabfälle von Flammen verzehrt worden. Dieselbe Niederlage wird noch durch einen weiteren Zug gekennzeichnet, indem aus Mangel an Männern die Jungfrauen ungefreit blieben. „Sie wurden nicht besungen“, heißt es eigentlich, weil man bei Hochzeiten zu Ehren der Braut Lieder sang. Zur Vermehrung der Schmach gereichte es, dass selbst die Priester, die Gott sonst unter seinen besonderen Schutz genommen hatte, mitten unter andern umkamen. Wenn es nun heißt: und waren keine Witwen, die weinen sollten, so ist dies entweder so zu verstehen, dass die Trauer ihnen schon vorher das Herz brach, oder dass sie von den Feinden weggeführt und so an der Totenklage verhindert wurden. Die Trübsal hatte also, wie der Sänger in diesen Worten kurz schildert, den äußersten Grad erreicht.

V. 65 u. 66. Und der Herr erwachte. Unter denen, gegen die Gott „erwachte“, verstehen einige die Israeliten, andere dagegen deren Feinde. Im ersten Fall braucht man sich nicht daran zu stoßen, dass alsdann die Israeliten „seine Feinde“ genannt werden, ganz wie es bei Jesaja (1, 24) heißt: „Ich will mich an meinen Feinden rächen“. Der Sinn der Worte wird dann der sein, es sei den Israeliten teuer zu stehen gekommen, dass sie die Geduld Gottes nur zu umso größerer Willkür missbrauchten, denn plötzlich machte er sich auf und fiel mit desto größerer Gewalt über sie her. Unser Verfasser hat jedoch, wie es bei den Propheten öfter geschieht, seine Lehre aus Mose genommen, hier insbesondere aus jenem Liede in 5. Mo. 32, 27, wo Gott ankündigt, er wolle seinem Volke nicht so viel Strafe zumuten, dass er nicht auch wieder seine Feinde dämpfte. Der Sinn jener Strafe aber wäre ohne solchen Umschwung etwas undeutlich geblieben; man hätte sie nach bekannten Sprichwörtern dem ungewissen Kriegsglück zuschreiben können. Nun aber, da nach der Niederlage der Israeliten Gott unverhofft und ohne sich menschlicher Vermittlung zu bedienen, die Feinde angreift, so geht daraus desto klarer hervor, dass die Israeliten durch keine andere als Gottes Gewalt darnieder geworfen worden waren. Dabei deutet der Prophet an, dass Gott die harte Strafe an seinem Volk nur notgedrungen vollzogen habe, indem er nun durch die Züchtigung der Philister seinen Bund herrlich bestätigte, nachdem es geschienen, als hätte er desselben vergessen. Denn wenn er auch vorübergehend sich gewissermaßen mit den Philistern verbunden hatte, so wollte er doch die Liebe gegen die Kinder Abrahams, damit dessen Glaube nicht zuschanden würde, nicht gar aufgeben. – Der Vergleich mit einem trunkenen Menschen ist, obwohl etwas hart, doch nicht ohne Grund angewandt, indem er nämlich dem Unverstand des Volkes angepasst ist. Wenn dasselbe einen lauteren, gereinigten Sinn gehabt hätte, dann hätte Gott nicht solch veränderte, befremdliche Gestalt angenommen; des Volkes Trunkenheit, d. h. Geistesträgheit, veranlasste ihn, sich mit einem trunkenen Menschen zu vergleichen, was für sie selbst sehr beschämend war. Was Gott betrifft, so erleidet seine Ehre durch den Vergleich keinen Eintrag. Wenn er unseren Leiden nicht eilends abhilft, so kommt es uns vor, als ob er im Schlafe liege. Aber er steht ja an Tatkraft weit über den stärksten Helden, die des Schlafes kaum bedürfen. Wie kann man also bei ihm von Schlaf reden? Nur von Toren wird seine Zurückhaltung so aufgefasst, als ob er betäubt wäre. Der Psalmist will aber andeuten, dass, wenn Gott sich einmal plötzlich aufmacht, sein Eingreifen stürmischer sei, als wenn er gleich im Anfang seine Hand zum Schlage erhoben hätte. – Wenn es weiter heißt: Er schlug seine Feinde zurück, - so beziehen das viele auf die Plage der Philister in 1. Sam. 5, 12, wozu auch die folgenden Worte: und hängte ihnen eine ewige Schande an – ganz gut passen, da jene Eiterbeulen ein schimpfliches Leiden waren. Doch lassen die Worte auch den einfacheren, allgemeinen Sinn zu, dass die Feinde in die Flucht geschlagen wurden.

V. 67. Und er verwarf usw. Die, welche dafür halten, im Vorhergehenden seien mit den Feinden Gottes die Israeliten gemeint, verbinden die Verse so, dass der Psalmist hier sagen würde, die Wunde, die Gott ihnen geschlagen, sei unheilbar gewesen. Da ich aber zur entgegengesetzten Auslegung neige, nämlich Gott habe, indem er die Philister so hart schlug, kundgetan, dass sein Bund mit seinem Volke kein eitler sei, - so halte ich eher dafür, dass dieser Vers zur Verhütung eines Missverständnisses beigefügt wurde, so dass der Prophet sagen will, Gott sei mit den Gottlosen und Abtrünnigen nicht völlig versöhnt gewesen, sondern habe ihnen noch einen Rest von Strafen aufbehalten. Der Sinn der Stelle ist also im Zusammenhang nach meiner Meinung der: Als die Bundeslade von den Philistern erobert wurde, hat Gott gewissermaßen geschlafen, d. h.: sein Volk nicht, wie er sonst pflegte, beschützt und bewahrt, und das um ihrer Sünden willen; doch hat er nicht lange seine Augen verschlossen gehalten, sondern, als das heidnische Volk seine Ehre schmähte, wurde er von diesem Schimpf erregt, wie wenn einer aus der Betäubung auffährt; doch hielt ihn diese Erregung gegen das heidnische und unbeschnittene Volk nicht ab, auch am gottvergessenen und undankbaren Volk Israel etliche Zeichen der Züchtigung offenbar werden zu lassen bis zuletzt. Das bedeutet die Verwerfung, von welcher der Psalmist nun spricht. Die Israeliten wurden des ehrenvollen Vorzugs, mit dem Gott sie ehedem ausgezeichnet, entkleidet, als er die Bundeslade fortschaffen ließ. Also er verwarf den Stamm Ephraim, doch nicht so, dass er sich von ihm gänzlich losgesagt oder ihn vom übrigen Körper der Gemeinde abgeschnitten hätte, sondern nur insofern er beschloss, dass seine Lade nicht länger dort ihren Standort habe. Dem Stamm Ephraim wird nämlich der Stamm Juda gegenübergestellt, wo Gott sich hernach seine Wohnung auserkor. Auf diese Weise will der Prophet zeigen, dass mit der Aufstellung der Bundeslade auf dem Berge Zion das Volk gewissermaßen erneuert worden und in den Stand der Gnade, aus dem es gefallen, zurückgekehrt sei, indem ihm ein Wahrzeichen der Versöhnung gegeben wurde. Nachdem nämlich Gott durch Schuld des Volkes gewissermaßen in der Verbannung gelebt und seine Kraft gefangen gelegen hatte, war es heilsam, die Israeliten durch diese Erinnerung zu lehren, dass ihre Verbrechen ihm dermaßen missfallen hatten, dass er vor Abscheu den Anblick der vorigen Wohnstätte nicht ertragen konnte. Wenn aber auch nach jener Trennung (zur Mahnung an das Volk, in Zukunft sich besser zu hüten) keine völlige und dauerhafte Wiederherstellung stattfand, so gab Gott doch ein Zeichen seiner außerordentlichen Milde damit, dass er aufs Neue einen festen Sitz für die Lade erwählte. Die Zwischenzeit, in der die Lade nach Gath, Ekron und anderen Orten wanderte, bis durch ein Wunder der Berg Zion bezeichnet wurde, wird unberücksichtigt gelassen, da die Absicht des heiligen Sängers dahin geht, einerseits das warnende Beispiel der verhängten Strafe, andererseits die unverhoffte Gnadentat Gottes zu bleibendem Gedächtnis aufzuzeichnen. Zu erinnern ist auch, dass bei Mose es wiederholt heißt (z. B. 5. Mo. 12, 5): „Wo dein Gott die Stätte erwählt hat, dass du seinen Namen daselbst anrufen sollst.“ Da nun die Lade sich lange Zeit in Silo aufhielt, hatte dieser Ort jenes Ansehen im ganzen Volke erhalten. Infolge ihrer Wegführung zu den Feinden waren die Gemüter wiederum aufs Hoffen angewiesen, bis die Erwählung der neuen Stätte kund wurde. Die zehn Stämme nun wurden zwar nicht damals verworfen, hatten vielmehr noch Obrigkeit und Priesterschaft mit dem Stamm Juda gemein; allein im Verlauf der Zeiten hat ihr Abfall doch noch ihre Abtrennung herbeigeführt. Dies ist der Grund, warum der Prophet in wegwerfendem Tone sagt, Ephraim sei verworfen und der Stamm Josephs, von dem jener abstammte, nicht erwählt worden.

V. 68 u. 69. Sondern erwählte den Stamm Juda, indem er nämlich denselben dem übrigen Volk vorzog und aus ihm einen König erwählte, den er an die Spitze nicht nur der Juden, sondern aller Israeliten stellte. Den Berg Zion erwählte er, indem er seinem Heiligtum dort den Sitz anwies. Und damit man die Ursache dessen nirgends sonst suche als bei Gott, so lehrt uns der Prophet, dass es der freien Liebe Gottes zuzuschreiben ist, wenn der Berg Zion unter Zurücksetzung aller anderen Orte mit solcher Herrlichkeit ausgezeichnet wurde. Das rückbezügliche „welchen“ hat nämlich zugleich begründende Bedeutung, indem der Psalmist sagen will, das Heiligtum sei nicht wegen der Würdigkeit des Ortes, sondern nur nach Gottes Ratschluss dort gegründet worden. Diese Wiederherstellung konnte ja auch nicht weniger auf Gottes Gnade beruhen als die erste Annahme des Volkes, da Gott seinen Bund mit Abraham stiftete oder das Volk aus Ägypten erlöste. Dass aber Gott die Stätte des Heiligtums liebte, bezog sich im Grunde auf die Menschen; daraus geht hervor, dass seit allem Anfang die Gemeinde nur durch die lautere Gnade und Huld Gottes gesammelt wurde, weil auch in den Menschen niemals irgendeine innere Würdigkeit entdeckt werden konnte. Auch ist die Sache zu kostbar, als dass sie auf Menschenkraft beruhen könnte. –

Im folgenden Vers hat der Prophet nichts anderes im Sinn, als dass der Berg Zion mit besonderer Herrlichkeit begabt wurde, die jedoch auf das himmlische Urbild zurückzuführen ist. Denn Gott will nicht, dass die Gemüter der Seinen vom Glanz des Bauwerks oder von der Pracht der Zeremonien eingenommen werden; sie sollen sich vielmehr erheben zu Christus, in welchem das, was dort abgeschattet war, in Wahrheit vorhanden ist. Darum sagt der Psalmist von Gott: Er baute sein Heiligtum hoch. Das will sagen, es habe unter allen hohen Bergen sichtbar emporgeragt, wie Jesaja (2, 2) und Micha (4, 1), wo sie von der Errichtung des neuen, geistlichen Tempels prophezeien, sagen, er müsse seinen Platz auf Bergeshöhe haben und über alle Hügel erhaben sein. Und bekanntlich standen zu jener Zeit die Burgen an erhöhten Orten. Weiter wird der Berg Zion mit dem ganzen Erdkreis verglichen. Wenn es nämlich auch bisweilen geschieht, dass einzelne Gegenden erschüttert oder durch Erdspaltungen oder heftige Beben verwüstet oder umgewandelt werden, so bleibt der Kern der Erde selbst fest und beständig, durch tiefe Wurzeln gestützt. Der Prophet deutet also an, der Tempel, von dem er redet, sei kein vergängliches Gebäude (etwa wie kostspielige, königliche Paläste, die, sei es vor Alter einstürzen oder sonst auf mannigfache Weise dem Untergang verfallen sind), sondern er sei so gegründet, dass er bis ans Ende der Welt unversehrt stehen bleibe. Wendet jemand ein, jener Tempel sei ja von den Chaldäern und Assyrern zerstört worden, so ist darauf leicht zu antworten, nämlich: diese Beständigkeit, die der Prophet preist, beruht allein auf Christus. Denn der alte, schattenhafte Tempel ist, für sich betrachtet, nur ein wesenloser Schemen; weil jedoch Gott ihn zu einem Unterpfand für den künftigen Messias gemacht hat, so wird ihm mit Recht Unvergänglichkeit zugeschrieben; wie es denn auch anderswo (Ps. 87, 1) heißt, Gott habe festes Fundament gelegt auf den heiligen Bergen; ebenso bei Jesaja (14, 32), er habe mit seiner Hand den Zion gegründet; desgleichen im 74. Psalm (V. 2), er habe dort seine Wohnstätte, die niemals wanken solle.

V. 70 bis 72. Und erwählte seinen Knecht David. Nachdem der Psalmist uns an den Tempel erinnert hat, geht er über zum Königtum; denn das waren die beiden vorzüglichsten Zeichen der Erwählung und der göttlichen Gnade, wie denn auch Christus, um uns das volle Heil zu bringen, uns als König und Hoherpriester erschienen ist. Und David, so weist er nach, ist von Gott zum König erwählt worden; indem er von den Schafhürden und dem Viehhüten zum Königthron emporgeführt wurde. Denn die Gnade Gottes fällt so recht in die Augen an diesem Umschwung, da ein Landmann von seiner unansehnlichen Hütte weg zum König erhoben wird. Die so erfahrene Gnade beschränkt aber der Prophet nicht auf die Person Davids, sondern erinnert daran, dass, was irgend an den Kindern Abrahams von Würdigkeit zu merken war, aus jenem Quell des göttlichen Erbarmens fließe. Der ganze Ruhm und die Glückseligkeit des Volkes waren ja im Königtum und Priestertum enthalten, und beides schreibt der Prophet ganz und gar dem göttlichen Ratschluss zu. Dazu musste auch der Anfang des Reiches Christi gering und verachtet sein, damit es seiner Beschaffenheit entspräche und Gott dadurch kundtäte, dass er sich keiner äußeren Hilfsmittel bedient habe, um unser Heil durchzuführen.

Noch durch einen anderen Zug schildert der Psalmist die Gnade Gottes, indem David aus einem Schafhirten (V. 71) zu einem Hirten des erwählten Volkes und des Erbteils Gottes gemacht wurde. Es ist dies zwar zunächst eine Anspielung auf Davids früheren Stand; aber zugleich zeigt der heilige Geist den großen Unterschied zwischen Tyrannen, Räubern, habsüchtigen Erpressern – und rechtmäßigen Königen, die Hirten sein sollten. –

Hierauf fügt der Sänger bei, David habe das ihm aufgetragene Amt treulich verwaltet. Dadurch wird nebenbei der Undank und die Schlechtigkeit des Volkes berührt, das nicht nur die heilige und unverletzliche Ordnung Gottes zum Wanken brachte, sondern auch das heilsame Joch abschüttelte und sich in unselige Zertrennung stürzte. – Was im Folgenden von den „klugen Händen“ steht, ist offenbar bildlich gesprochen. Der Prophet wollte mit recht bezeichnendem Ausdruck schildern, dass David nicht nur in seinen Unternehmungen glücklich war, sondern von Gottes Geist sich leiten ließ, so dass er an kein Werk unbesonnen die Hand anlegte, sondern sich geschickt und kundig da betätigte, wo Treue und Pflicht es heischten. So gereichte der Erfolg seiner Taten ihm zu glänzendem Lob, mehr noch wegen seiner Klugheit als wegen des Gelingens.

1)
Römischer Dichter unter Augustus. Das Zitat stammt aus der 6. Ode des 3. Buches, die zu den sogenannten Römer-Oden zählt.
2)
Zum Verständnis dieser Ausführung ist zu bemerken, dass im Hebräischen dasselbe Wort „Geist“, wie auch „Wind“ oder „Hauch“ bedeutet.
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