Calvin, Jean - Psalm 74.
Inhaltsangabe: Die Heiligen klagen über die Verwüstung der Gemeinde, wodurch der Name Israel dem Untergang nahe gebracht worden war. Obschon aber aus ihren demütigen Bitten hervorgeht, dass sie alles Übel, das sie erdulden, ihren Sünden zuschreiben, so halten sie dennoch dem Herrn seinen Bund vor, in den er das Geschlecht Abrahams aufgenommen hat. Sodann erinnern sie sich daran, wie mächtig und herrlich er seine Güte offenbarte, da er die Gemeinde erlöste; und in der Hoffnung, die sie daraus schöpfen, bitten sie, Gott möge dem verderbten und kläglichen Zustande endlich abhelfen.
V. 1. Eine Unterweisung Asaphs. Die Bezeichnung des Psalms als eine „Unterweisung“ stimmt aufs Beste mit seinem Inhalt überein. Denn wenn dieser Ausdruck auch zuweilen angewendet wird, wo es sich um freudige Dinge handelt (z. B. Ps. 45), so deutet er doch meistens an, dass von Gerichten Gottes die Rede ist, durch welche die Leute gezwungen werden, in sich zu gehen und ihre Verfehlungen zu prüfen, auf dass sie sich vor Gott demütigen. Der Psalm ist nicht von David verfasst, wie aus der Inhaltsangabe leicht zu ersehen ist. Denn er war zu seinen Lebzeiten nicht in der Lage, eine solche Zerstreuung und Niederlage der Gemeinde beklagen zu müssen. Die, welche anderer Meinung sind, erklären, David habe hier von prophetischem Geiste Dinge ausgesprochen, die noch nicht geschehen waren. Allein da es wahrscheinlich ist, dass die meisten Psalmen von verschiedenen Verfassern erst nach Davids Tode gedichtet worden sind, so zweifle ich nicht, dass auch dieser Psalm dazu gehört. Von welchem Unglück jedoch hier geredet wird, ist weniger gewiss. Es bestehen darüber zwei Ansichten. Einige denken an jene Zerstörung von Stadt und Tempel, als das Volk unter Nebukadnezar nach Babel entführt wurde, andere an die Tempelschändung, die sich unter Antiochus ereignete. Jede Ansicht hat etwas für sich. Für die letztere spricht, dass die Gläubigen klagen, sie seien der Gnadenzeichen und Propheten nunmehr beraubt, während es ja hinlänglich bekannt ist, dass es zur Zeit der Wegführung des Volkes in die Verbannung viele angesehene Propheten gab. Wenn anderseits bald nachher gesagt wird, der Tempel sei verbrannt, die Schmuckstücke zerstört und nichts unversehrt geblieben, so passt das nicht auf die Zeit, da Antiochus seine wütende Tyrannei ausübte. Wenn nämlich auch der Tempel schmachvoll besudelt ward durch heidnische, abergläubische Gebräuche, so blieb doch das Gebäude unversehrt, und Holz und Steine wurden von keinem Feuer verwüstet. Einige behaupten allerdings, unter den Heiligtümern seien die Synagogen zu verstehen, in denen nicht nur zu Jerusalem, sondern auch in den übrigen Städten Judäas religiöse Zusammenkünfte stattfanden. Es ist auch möglich, dass die Gläubigen angesichts der schrecklichen Entweihung des Tempels sich durch dies traurige Schauspiel an jenen Brand erinnern ließen, durch den er von den Chaldäern zerstört worden war, und nun in Gedanken beide Unglückszeiten zusammenfassten. So wird denn die Vermutung die begründetere sein, nach der diese Klagen auf die Zeit des Antiochus gehen, weil damals die Gemeinde Gottes der Propheten ermangelte. Immerhin, wenn man lieber an die babylonische Gefangenschaft denken will, so ist auch dann der Knoten leicht zu lösen. Denn obgleich damals Jeremia, Hesekiel und Daniel lebten, so schwiegen sie doch bekanntlich für einige Zeit, indem sie ihren Beruf vorläufig erfüllt hatten, - bis dann am Vorabend der Befreiung Daniel wieder hervortrat und die Verbannten zur Heimkehr ermunterte. Darauf deutet offenbar Jesaja (40, 1) mit den Worten hin: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott.“ Das zeitweise Schweigen der Propheten zeigt eben an, dass ihnen kein Wort in Betreff der Zukunft gegeben war.
Gott, warum verstößest du uns so gar? Falls diese Klage während der babylonischen Gefangenschaft geschrieben worden ist, so dürfen wir, obschon nach Jeremias Weissagung auf das 70. Jahr die Erlösung zu erwarten stand, uns nicht wundern, dass die Gefangenen vor übergroßem Überdruss an der langen Wartezeit täglich seufzten und der so lange Zeitraum ihnen unendlich dünkte. Diejenigen aber, die unter des Antiochus Grausamkeit litten, konnten, da ihnen keine Zeitbestimmung gegeben war, mit Grund über den unaufhörlichen Zorn Gottes klagen, besonders da sie sahen, wie die Feinde täglich widerwärtiger wurden und ihre eigene Sache immer schlimmer stand, so dass ihnen keine Hoffnung auf Trost mehr blieb. Da sie nämlich durch viele unglückliche Kriege, die bald nacheinander von ihren Nachbarn ausgingen, schon ohnehin geschwächt waren, kam es mit ihnen damals beinahe bis zur völligen Erschöpfung. Es ist aber zu bemerken, dass die Gläubigen, von den heidnischen Völkern gequält, ihre Augen dennoch zu Gott erheben, wie wenn nur dessen Hand ihnen diese Schläge erteilte. Sie wussten eben, dass nur durch Gottes Ungnade den Heiden solche Frechheit gegen sie gestattet war. In der Überzeugung also, dass sie nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen haben, sondern von Gottes gerechtem Gericht geschlagen werden, betrachten sie das als Ursache und Quell aller Übel, dass Gott, unter dessen Gnade sie ehemals glücklich gelebt, sie nun verworfen habe und sie fortan der Zugehörigkeit zu seiner Herde nicht mehr für würdig erachte. So oft wir also von Ungemach bedrängt werden, so sind es nicht blindlings auf uns geschossene Pfeile des Schicksals, sondern Gott ist es, der nach seinem verborgenen Willen diese Geißeln und Ruten über uns schwingt zur Züchtigung wegen unserer Sünden. Dass er „so grimmig zornig“ sich gebärde, ist übrigens aus der Empfindung unseres Fleisches geredet. Gott zürnt ja nicht im eigentlichen Sinne über seine Auserwählten, sondern wendet nur gegen ihre Schäden die Trübsale als Heilmittel an. Die Gläubigen aber, die diese Bedeutung der Strafen erkannt haben, werden vom Geiste beim Worte „Zorn“ an ihre Schuld erinnert. Wo also Gott an uns seine Vergeltung übt, da ist es an uns, zu erwägen, was wir verdient haben. Wir sollen uns sagen: Wenn auch Gott über die Empfindung von Jähzorn erhaben ist, so liegt es doch nicht an uns, wenn er nicht wider uns entbrannte, da ihn doch unsere Sünden so schwer gereizt haben. Nun aber nehmen die Gläubigen, um Erbarmung zu erlangen, ihre Zuflucht zum Gedächtnis des Bundes, in den sie als Gottes Kinder aufgenommen worden sind. Indem sie sich bezeichnen als „Schafe deiner Weide“, erinnern sie an die freie Wahl, durch die sie aus den Heiden ausgesondert wurden. Das wird im Folgenden noch deutlicher ausgedrückt.
V. 2. Gedenke an deine Gemeine. Sie rühmen sich, dem Herrn besonders anzugehören, nicht aus Verdienst, sondern weil Gott sie aus Gnaden angenommen hat. Eben darauf soll es deuten, dass Gott sie schon vor alters erworben hat: sie haben also die Stellung unter Gottes Regiment bereits ererbt, nicht etwa erst seit wenigen Monaten erreicht. Und je längere Zeit Gott gegen den Samen Abrahams seine Liebeserweisung fortgesetzt hatte, desto fester war ihr Glaubensstand begründet. Sie sagen also aus, sie seien von Anfang an Gottes Volk gewesen, d. h. seit der Zeit, da Gott einen unverletzlichen Bund mit Abraham aufgerichtet hatte. Dem wird noch die Erlösung beigefügt, durch welche die Annahme feierlich bestätigt wurde. Denn Gott hatte damals nicht nur mit Worten, sondern mit der Tat seine Herrschaft geltend gemacht. Diese göttlichen Wohltaten halten die Kinder Israel sich selber vor als Grund ihres Vertrauens; und sie erwähnen sie auch vor Gott als deren Urheber, damit er sein Werk nicht im Stiche lasse. Im Vertrauen darauf nennen sie sich nun weiter den „Stab deines Erbteils“, d. h. das Erbteil, das er sich selbst zugemessen hat. Da man nämlich mit Messruten die Felder abzugrenzen pflegte, so spielt der Psalm auf jenen Brauch an. Andere setzen zwar statt „Stab“ lieber „Stamm“ im Sinne von Volksstamm. Aber ich ziehe jenen Vergleich vor, dass Gott durch einen geheimen Ratschluss Israel wie mit einer Messstange aus den übrigen Völkern zu seinem Eigentum aussonderte. – Zuletzt ist noch vom Tempel die Rede, in dem Gott zu wohnen versprochen hatte; nicht dass er seinem Wesen nach darin eingeschlossen wäre, wie schon öfters gesagt worden ist, - sondern weil die Gläubigen dort spürten, wie er nach seiner Güte und Gnade ihnen nahe und gegenwärtig war. Nun ist uns klar, woher das Volk des Herrn das Vertrauen zum Gebet nimmt, nämlich aus Gottes Gnadenwahl und seinen Verheißungen, sowie aus dem ihm anvertrauten Gottesdienst.
V. 3. Erhebe deine Schläge usw. Die Gläubigen bitten um einen tödlichen Gegenschlag wider die Feinde dafür, dass dieselben so grausam im Heiligtum Gottes gewütet haben. Sie wollen sagen, es sei nicht genug an einer bloß mäßigen Bestrafung für ein so gottloses und lästerliches Toben; die so feindselig gegen Gottes Tempel und Volk gehandelt, müssten vielmehr ganz vertilgt werden, dass ihnen keine Aussicht auf Wiederherstellung überbleibe, denn ihre Gottlosigkeit sei eine verzweifelte. Indem nun der Geist den Gläubigen dieses Gebet in den Mund gelegt, so können wir daraus entnehmen, wie überaus groß Gottes Liebe gegen uns ist, da er die uns zugefügten Beleidigungen so streng rächen will; ferner wir große Stücke der Herr auf seine Verehrung hält, dass er deren Verletzung ernstlich mit seinen Strafen verfolgt. – Was die einzelnen Worte anlangt, so übersetzen einige „Erhebe deine Schritte“ und legen den Sinn hinein: Herr, eile mit hochgehobenen Füßen, also schnell, herbei, die Feinde zu schlagen. Ich habe aber kein Bedenken getragen, mich denen anzuschließen, die statt „Schritte“ „Schläge“ setzen. Das letzte Stück des Verses wird von manchen anders erklärt, nämlich, dass der Feind alles im Tempel verwüstet habe. Mit Rücksicht auf die Satzbildung des Grundtextes wollte ich aber nicht von der bewährten, alten Lesart abweichen.
V. 4. Deine Widersacher brüllten. Mit Löwen werden die Widersacher verglichen zur Bezeichnung ihrer Wildheit, mit der sie überall gewütet und nicht einmal den Tempel verschont haben. Mit den Worten: Sie haben ihre Zeichen hingesetzt, wird die von den Feinden angetane Schmach angedeutet, da sie ihre Siegeszeichen aufrichteten zum hochmütigen Triumpf über Gott selbst. Wer irgend ins heilige Land eindrang, wusste, dass dort besonders der Dienst Gottes in Kraft stand; und der Tempel war sozusagen das Abzeichen der Gegenwart Gottes, wie wenn er dort seine Fahnen ausgesteckt hätte, damit jenes Volk ihm untertänig bliebe. Diesen Abzeichen, die das Volk Gottes von den heidnischen Völkerschaften schieden, setzt nun der Prophet die Zeichen entgegen, welche die Feinde zur Entweihung des Tempels hingesetzt hatten. Und um den Ausdruck der Entrüstung über solches lästerliche Tun der Feinde zu verstärken, setzt er dasselbe Wort zweimal.
V. 5 bis 8. Er war bekannt usw. Diesen besonderen Umstand fügt der Prophet bei, um noch schärfer die barbarische Wildheit der Feinde zu kennzeichnen, in der sie einen Bau, der mit so großem Aufwand aufgeführt, mit so viel Schönheit und Pracht ausgestattet, mit so viel Fleiß und Kunst ausgearbeitet war, auf rohe Weise zerstört haben. Die Worte sind etwas dunkel. Ihr Sinn läuft etwa darauf hinaus, dass beim Baum des Tempels rühmlichst bekannte Künstler beschäftigt waren, die das Holz zurichteten. Im Gegensatz zu dieser Bearbeitung ist dann vom dichten Gehölz die Rede. Es soll hervorgekehrt werden, mit welch ausgesuchter Kunstfertigkeit man den rohen und unebenen Stämmen eine edle Gestalt gegeben hatte. Mehr empfiehlt sich vielleicht noch eine andere Übersetzung: „Es wurde erkannt (und ausgewählt), der zur Höhe erhoben war“, - nämlich der Baum, den man für den Tempelbau aus dichtem Gehölz heraushieb.1)
Der nächste Vers schildert nun gegensätzlich, wie die Chaldäer rücksichtslos mit Äxten und Hämmern in ein solch herrliches Bauwerk eindrangen, als ob es ihr Vorsatz gewesen wäre, durch Zerstörung des prächtigen Baues Gottes Ehre mit Füßen zu treten.
Darauf klagt der heilige Sänger (V. 7) über den Brand des Tempels, wodurch derselbe ganz zerstört wurde, nachdem die Maschinen ihn erst halb in Trümmer gelegt hatten. Das Wort „Heiligtümer“ in der Mehrzahl deutet auf die Dreiteilung des Tempels in das Allerheiligste, das Heilige und den Vorhof. Denn dass nichts anderes als der Tempel gemeint ist, zeigen die unmittelbar folgenden Worte: die Wohnung deines Namens. Von Gottes „Namen“ aber ist die Rede, weil deutlich werden soll, dass er nicht seinem Wesen nach von dem Ort umschlossen war, sondern dass er nach seiner Kraft im Tempel wohnte, damit er daselbst vom Volk mit desto größerem Vertrauen angebetet würde.
Und um die Wildheit der Feinde noch anschaulicher darzustellen, führt uns der nächste Vers vor Augen, wie sie sich gegenseitig ermuntern, damit die Verwüstung keine mäßige sei. Wie wenn sie zum Schaden anrichten noch zu wenig Eifer hätten, stachelt einer den anderen noch an, damit sie ohne Ausnahme das ganze Volk Gottes verwüsten und vernichten. Zuletzt hören wir, dass alle Häuser Gottes im Lande, d. h. alle Synagogen, verbrannt wurden. Die Feinde waren so sehr darauf aus, den Namen Gottes auszutilgen, dass kein Winkel von ihnen unversehrt gelassen wurde. Als Gotteshäuser werden nicht unpassend alle die Orte angesehen, wo religiöse Zusammenkünfte stattfanden, nicht nur zum Lesen und Auslegen der prophetischen Schriften, sondern auch zum Anrufen des Namens Gottes. Die Feinde hatten also nichts unterlassen, um den Gottesdienst in Judäa zu vertilgen.
V. 9. Unsere Zeichen sehen wir nicht. Hier führen die Gläubigen aus, wie schwer ihr Ungemach ist, da es durch keinen Trost gemildert wird. Denn das Eine gereicht den Frommen vorzugsweise zur Aufrichtung des Gemüts, wenn Gott die Hoffnung auf eine Wiederherstellung gewährt mit der Verheißung, dass er noch während der Zornesoffenbarung seiner Barmherzigkeit gedenken werde. Unter den Zeichen verstehen einige die Wunder, durch die Gott einst dem heimgesuchten Volke bezeugte, er werde ihm immerdar gnädig sein. Die Klage der Gläubigen bezieht sich aber eher auf die Gnadenzeichen, die ihnen entzogen waren, indem Gott sein Antlitz gewissermaßen verbarg. Infolgedessen lastet auf ihrem Gemüt so tiefes Dunkel, dass ihnen auch nicht ein Funke von Trosteslicht erscheint. Weil aber eins der vorzüglichsten Gnadenzeichen darin bestand, dass von den Propheten eine künftige Befreiung verheißen wurde, so seufzen sie eben darüber, dass kein Prophet mehr da sei, der irgendein Ende des Unglücks voraussehe. Daraus geht hervor, dass den Propheten das Trostamt anvertraut war, damit sie die in Trauer versunkenen Gemüter mit der Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit aufrichteten. Sie waren zwar die Herolde und Zeugen des göttlichen Zorns und hatten als solche die Unbeugsamen und Widerspenstigen mit Drohungen und Schreckworten zur Buße zu zwingen; allein, wenn sie die ganze Rache Gottes ohne Abstrich verkündigt hätten, so hätte ihre Unterweisung zum Untergang des Volkes ausschlagen müssen, während sie doch zum Heil desselben bestimmt war. Darum ist ihnen die Weissagung vom künftigen Ausgang aufgetragen, indem unter den zeitlichen Strafen Gottes väterliche Züchtigung vor Augen gestellt wird, welche die Traurigkeit mildert, wogegen ein unaufhörlicher Zorn Gottes die armen Sünder geradezu umbringen müsste. Darum wollen auch wir, wenn wir unter der Züchtigung Gottes Geduld und Trost suchen, unsere Blicke auf Gottes Milde heften lernen, mit der er uns zur Hoffnung einlädt, und so erkennen, dass Gott nicht so weit zürnt, dass er nicht unterdessen noch immer unser Vater wäre. Die Zurechtweisung aber, die uns das Heil bringt, mischt unter den Schmerz auch die Freude. Auf diesen Hauptpunkt ihre Belehrung zu richten, ließen sich alle Propheten angelegen sein. Denn wenn sie auch oft streng und hart verfahren, um des Volkes Trotz durch Furcht zu bezähmen, so fügen sie doch, sobald sie sehen, dass die Leute sich demütigen, einen Trost bei. Und einen solchen gibt es nicht ohne die Hoffnung einer künftigen Erlösung. Man fragt mich aber, ob denn Gott, wenn er bei seinen Heimsuchungen die Traurigkeit lindern will, den Seinen immer Jahr und Tag der Befreiung vorgerechnet habe. Darauf antworte ich: Die Propheten haben, wenn sie auch die Zeiten nicht immer näher bestimmten, doch öfters ein nahes Heil in Aussicht gestellt. Sie alle aber haben von der zukünftigen Wiederherstellung der Gemeinde gesprochen. Will anderseits jemand einwenden, das Volk habe in seiner Heimsuchung verkehrt gehandelt, dass es nicht die allgemeinen Verheißungen auf sich bezog, die ja sicherlich allen Jahrhunderten in gleicher Weise galten, so antworte ich: Gott pflegte jede Trübsalszeit jeweilen einen Boten der Erlösung beizugeben. Wo nun kein eigens abgesandter Prophet erscheint, da klagt das Volk nicht ohne Grund, dass ihm die gewohnten Gnadenzeichen fehlen. Es war denn auch bis zur Ankunft Christi in erster Linie nötig, in jedem Zeitalter das Gedächtnis der verheißenen Erlösung aufzufrischen, damit die Gläubigen auch in jeder Heimsuchung wüssten, dass Gott noch an sie denke.
V. 10 u. 11. Ach Gott, wie lange usw. Kein Schmerz quält die Gläubigen mehr, als wenn sie sehen, dass der Name Gottes dem Schimpf der Gottlosen ausgesetzt ist. Und so soll die vorliegende Bitte dazu dienen, in unseren Herzen das eifrige Verlangen nach Offenbarung der Herrlichkeit Gottes zu entzünden. Da wir nämlich von Natur gegen alles Übel, das es zu tragen gibt, nur zu empfindlich und weichlich sind, so beweist sich die rechte Frömmigkeit eben dadurch, dass wir die Schmach, die dem Herrn zugefügt wird, peinlicher empfinden als alles, was wir etwa selbst leiden. Ohne Zweifel wurden die unglücklichen Juden unter dem überaus wütenden Tyrannen und seinem rohen Volke auf mannigfache Weise verhöhnt. Aber der Prophet, der im Namen der ganzen Gemeinde spricht, rechnet all die Beschimpfungen, die sich über das Haupt des Volkes entluden, fast für nichts gegen die lästerlichen Beschimpfungen Gottes, ähnlich wie im 69. Psalm (V. 10): „Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen.“
Weil die lang dauernde Straflosigkeit die Gottlosen in ihrer Frechheit bestärkt, besonders wenn sie Gott lästern, und er doch tut, als hörte er es nicht, so fährt der Psalmist fort: Wie lange wendest du deine Hand ab? Die Absicht des Propheten in diesem Vers ist nicht unklar; doch gehen die Ausleger in der Erklärung der Worte auseinander. Möglichst genau ist der ganze Vers vielleicht am besten zu übersetzen: „Wie lange wendest du deine Hand und deine Rechte ab? Wirst sie doch wohl von deinem Schoß abziehen? Vertilge doch!“ – nämlich jene Gottlosen, die mit solchem Hochmut dich verachten!
V. 12. Gott ist ja mein König. Die Gläubigen mischen, wie wir das öfters beobachten, unter ihre Bitten eine Betrachtung, um daraus ihrem Glauben neue Kraft zuzuführen und sich zu eifrigem Bitten zu ermuntern. Ist es doch bekannt, wie schwer es hält, sich über alle Zweifel zu erheben, dass wir frei und ungehindert im unverzagten Beten fortfahren. Darum gedenken hier die Gläubigen der Beweise von Gottes Barmherzigkeit und Güte, womit er durch die ganze Reihe von Menschenaltern hindurch ununterbrochen sich als den König des erwählten Volkes bezeugte. Und weil ein bloßes Lippengebet, das nicht aus Glauben kommt, nicht genügt, so lehrt uns dieses Beispiel, uns immer wieder auf die Wohltaten zu besinnen, mit denen Gott seine väterliche Liebe gegen uns bestätigt hat, und die uns seine Gnadenwahl bezeugen. Die Bezeichnung „König“, die der Prophet dem Herrn beilegt, will offenbar nicht bloß allgemein besagen, dass Gott herrscht, sondern insbesondere, dass er die Leitung jenes Volkes dazu übernommen hatte, um dasselbe unversehrt darzustellen.
V. 13 bis 15. Du zertrenntest das Meer. Der Prophet stellt einige Heilstaten besonders merkwürdiger Art zusammen, die aber alle in Beziehung stehen zu jener ersten Errettung, wo Gott sein Volk aus der ägyptischen Tyrannei befreite. Von dieser besonderen Gnade, deren Gott seine Gemeinde gewürdigt hat, wendet er sich dann zu dem Wohlwollen, das Gott dem ganzen Menschengeschlecht erweist. Zuerst sagt er, Gott habe das Meer zertrennt oder durchschnitten. Einige halten dafür, die beiden Versglieder seien zu verbinden, so dass es hieße, Gott habe die Wale und andere Seeungeheuer dadurch getötet, dass er das Meer austrocknete. Nach meiner Meinung jedoch wird in bildlicher Rede Pharao und sein Heer bezeichnet. Solche Redeweise ist ja bei den Propheten durchaus gebräuchlich, besonders wo von den Ägyptern die Rede ist, deren Land von einem fischreichen Meer bespült und vom Nil durchflossen ist.
„Leviathan“ (V. 142)) ist eine nicht unpassende Bezeichnung für Pharao, der dort seine Herrschaft wie ein räuberisches Wassertier ausübte. Da nun Gott zu dem Zwecke seine Macht durch die Befreiung des Volkes kundgetan hat, damit die Gemeinde auf ihn die Hoffnung setze, dass er beständig über ihrem Heil wachen werde, so gilt diese Lehre nicht nur einem Geschlecht, sondern mit Recht auch den Nachkommen zur Stärkung ihres Glaubens. Wenn der Verfasser übrigens auch nicht alle Wundertaten Gottes beim Auszug des Volkes erwähnt, so meint er damit eigentlich doch all dasjenige, was bei Mose ausführlicher erzählt ist. Dass es heißt, der Leviathan sei dem Volk Israel zur Speise gegeben worden, und zwar in der Einöde, ist eine sinngemäße Anspielung auf Pharaos Untergang, weil die durch die Vernichtung der Feinde gewonnene Sicherheit so gut wie eine Speise zum Lebensunterhalt diente. Unter der Einöde ist aber nicht die Gegend am Meer zu verstehen, obwohl diese auch unfruchtbar und dürr ist, sondern die weit davon entfernten Wüsten. –
Im folgenden Vers wird derselbe Gedanke fortgesetzt, da es heißt: Du ließest Brunnen quellen, nämlich damals, als Wasser aus dem Felsen geholt wurde. Endlich wird beigefügt: Du ließest versiegen starke Ströme. Das geschah mit dem Jordan, als Gott dessen Wasser staute und seinem Volk einen Durchgang verschaffte.
V. 16 u. 17. Tag und Nacht ist dein. Der Prophet geht in seiner Aufzählung über zu den Wohltaten, die sich allgemein auf die Menschheit erstrecken, und erinnert so daran, dass Gott sich nicht nur dem auserwählten Volke als Vater erzeigte, sondern auch allen Sterblichen ein Wohltäter ist. Mit den vorliegenden Worten deutet er an, dass nicht von ungefähr Tag und Nacht in bestimmtem Wechsel aufeinander folgen, sondern dass diese Ordnung durch Gottes Entschluss festgesetzt worden ist. Er führt als Ursache an, dass Gott der Sonne die Kraft und das Amt, die Erde zu beleuchten, zugewiesen habe. Statt des Lichts setzt er nämlich die Sonne als dessen vornehmste Trägerin. Und da in dieser Weltordnung sich die unvergleichliche Güte Gottes gegen die Sterblichen glänzend zeigt, so begründet der Prophet passenderweise damit das Vertrauen auf Gott. Eben darauf zielt auch das, was er hierauf sagt von der Abgrenzung der Erde, von der wechselnden Wiederkehr von Winter und Sommer.
Dass Gott alle Grenzen der Erde setzt, wird schwerlich auf die Grenzen der einzelnen Länder gehen, sondern auf die äußersten Linien des Erdkreises, die durch keine menschliche Willkür verschoben werden können: Gott hat den Menschen ausreichenden Raum auf der Erde zugewiesen, dass sie als Gäste darauf wohnen können. Auch der Wechsel zwischen Winter und Sommer zeugt deutlich davon, wie gütig Gott für die Bedürfnisse der Menschen vorgesorgt hat. Daraus erkennt der Prophet richtig, dass es nichts Ungereimteres gibt, als zu meinen, Gott unterlasse es seines Vateramtes gegen seine Herde, seine Hausgenossen, zu walten.
V. 18. So gedenke doch des usw. Nachdem der Prophet die Macht und Kraft Gottes gepriesen und damit zugleich die Herzen der Frommen erhoben hat, kehrt er nun zum Zusammenhang seiner Bitten zurück und führt zunächst Beschwerde darüber, dass die Feinde Gott ungestraft lästern. Es sind Worte voll Nachdruck, wenn er sagt: „Gedenke doch“, wie es denn auch kein geringes Vergehen ist, mit dem heiligen Namen Gottes Gespött zu treiben. Als ein töricht Volk werden nicht etwa bloß unkluge, sondern verbrecherische und abscheuliche Menschen bezeichnet, Gottesverächter.
V. 19 u. 20. Du wollest nicht dem Tier geben die Seele deiner Turteltaube. Sehr zutreffend ist die Gegenüberstellung der Seele eines wehrlosen, furchtsamen Vögelchens und eines starken Heeres oder eines grausamen Tieres: das Wort im Grundtext ist nämlich doppelsinnig und kann „Schar“ oder Tier heißen. Die Gemeinde wird mit einer Turteltaube verglichen. Wenn nämlich auch die Gläubigen in etlicher Anzahl vorhanden waren, so kamen sie doch bei weitem nicht ihren Feinden gleich, waren vielmehr wie eine Beute in deren Gewalt. In der Fortsetzung des Verses: Gott möge der Herde seiner Elenden nicht vergessen, wo jenes doppeldeutige Wort in sinniger Weise wiederholt wird, ziehe ich vor, es im Sinne von „Schar“, „Herde“ zu nehmen. Denn der Prophet bittet, Gott wolle seine winzige Herde gegen die gewaltigen Scharen der Feinde beschützen.
Um aber Gott desto mehr zur Barmherzigkeit zu bewegen, mahnt er ihn (V. 20) an den Bund; wie das noch immer die Zuflucht der Heiligen in den höchsten Gefahren gewesen ist, dass sie ihre Hoffnung auf Rettung darauf gründeten, dass Gott sich eidlich verpflichtet hatte, ihnen ein Vater zu sein. Daraus entnehmen wir auch, dass es für unsere Bitten keine andere zuverlässige Stütze gibt, als dass Gott durch seine gnädige Erwählung uns zu seinem Volke angenommen hat. – Die Gläubigen erinnern nun wieder daran, welch harte Not sie bedrängt, indem überall Gewalttat und Bedrückung um sich greift, als ob jeder Ort eine Gelegenheit zum Plündern und eine Mördergrube wäre. Die „Schlupfwinkel des Landes“, sagt der Psalmist, weil die Gottlosen, so oft Gott sein Angesicht zu verbergen scheint, überall einen Schlupfwinkel für jegliches Verbrechen finden.
V. 21. Lass den Geringen nicht mit Schanden davongehen. Dieses Davongehen (von Gott weg) bedeutet so viel als leer von dannen gehen. Die Gläubigen bitten also, sie möchten nicht durch eine abschlägige Antwort zuschanden gemacht werden. Sie nennen sich Elende, Arme und Geringe, um Gottes Erbarmen zu erlangen. Es ist aber zu bemerken, dass sie nicht in leerer Einbildung so reden, oder ihr Elend übertrieben schwarz malen; sondern sie wahren durch so viel Kriegsunglück darnieder geworfen, dass nirgends in der Welt mehr Hilfe für sie übergeblieben war. Dieses Vorbild mahnt uns daran, dass, ob wir noch so sehr darnieder liegen, doch immer noch eine Abhilfe für unsere Bedürftigkeit vorhanden ist, indem wir Gott anrufen dürfen.
V. 22 u. 23. Mache dich auf, Gott. Nochmals bitten die Gläubigen, Gott wolle den Richterstuhl besteigen. Er möge sich „aufmachen“, will sagen, dass er nach seinem langen Zuwarten durch die Tat beweisen soll, dass er sein Amt durchaus nicht vergessen habe. Damit er aber mit desto größerem Ernste diese Sache übernehme, rufen sie ihn an als den Rächer seines Rechtes, wie wenn sie sprächen: Herr, hier handelt es sich um deine Sache und deine Angelegenheit. Darum ist ein Zögern nicht am Platz. Wieso es aber um Gottes eigene Angelegenheit geht, erklären die Gläubigen zugleich damit, dass er täglich von den Toren beschimpft werde. Die furchtbare Schwere des vorhandenen Übels wird noch mehr ins Licht gestellt durch den Umstand, dass die Toren, mit einem einmaligen Spott nicht zufrieden, ihre Spöttereien hartnäckig fortsetzen.
Darum bitten die Gläubigen zum Schluss, Gott wolle die Frechheit, mit der jene nicht nur seiner Majestät zu widersprechen wagen, sondern auch wilde Lästerreden gegen ihn ausstoßen, nicht vergessen. Denn auch, wenn sie das in mehr versteckter Weise tun, so missachten sie eben doch Gott und erheben sich gegen ihn in blindem Wahn und maßloser Aufgeblasenheit, wie die Sage es von den Giganten erzählt.