Calvin, Jean - Psalm 65.
Inhaltsangabe: Dieser Psalm ist aus Bitten und Danksagung gemischt. Eingefügt wird eine Weissagung darüber, dass der Glaube zu allen Völkern kommen soll. Der Hauptnachdruck fällt aber auf die dankbare Anerkennung der väterlichen Güte Gottes gegen sein Volk und aller daraus fließenden Segnungen. Insbesondere wird der Herr gebeten, die Freundlichkeit, welche die Kinder Israel erfahren durften, in alle Zukunft walten zu lassen. Verzeichnet wird aber ein doppeltes Gnadenwirken des Herrn: erstlich dass er sein Land mächtig verteidigt, und sodann, dass er es mit Reichtum an allen Gütern überschüttet hat.
1Dem Musikvorsteher: ein Psalm Davids, ein Lied. 2Gott, man lobet dich in der Stille zu Zion, und dir bezahlt man Gelübde. 3Du erhörest Gebet, darum kommt alles Fleisch zu dir. 4Missetaten drücken mich hart; Du wollest unsre Sünde vergeben.
V. 2. Gott, man lobet dich in der Stille zu Zion. Wörtlich wäre zu übersetzen: „Dir schweiget das Lob zu Zion.“ Schweigen würde dann etwa soviel heißen als „geduldig abwarten“, und der Sinn wäre etwa, dass man in Zion unaufhörlich wartet, dem Herrn neues Lob darzubringen. Gott erweist sich gegen die Seinen derartig freundlich, dass er ihnen täglich neuen Grund bietet, zu loben und zu danken. Gewiss erstreckt sich seine Freigebigkeit über die ganze Welt; aber besonderer Gunst würdigt er doch seine Gemeinde. Dazu kommt, dass die andern, wenn sie auch mit den reichsten Wohltaten gesättigt werden, doch keine Empfindung dafür haben, woher dieselben kommen: ohne Dank nehmen sie hin und verzehren, was Gott ihnen an reichen Gütern spendet. Insbesondere jedoch will der Dichter zum Ausdruck bringen, dass Gottes Güte in seiner Gemeinde am glänzendsten leuchtet und darum mit Recht vornehmlich daselbst gepriesen werden soll. Eben darauf deutet der nächste Satz: Dir bezahlt man Gelübde. Damit verspricht der Dichter im Namen des Volkes Beweise der Dankbarkeit, und zugleich können wir aus diesem Erfolg einen Rückschluss darauf machen, dass Gott immer neuen Anlass geben wird, von seiner Güte zu zeugen und zu rühmen: denn er wird nicht müde werden, über seiner Gemeinde mit beständiger Gunst zu walten. In diesen Zusammenhang fügt sich auch der nächste Vers: Du erhörest Gebet. Das ist der Grund, um dessen willen man sein Gelübde bezahlt: Gott lässt seine Knechte, die ihn anrufen, niemals im Stich, und wenn sie Gelübde aussprechen, so nimmt er sie freundlich an. Demgemäß ist, was wir hier an zweiter Stelle lesen, eigentlich das erste. Übrigens entnehmen wir der Anrede, welche David hier an Gott richtet, die überaus nützliche Lehre, dass unsre Gebete niemals vergeblich sein werden: müsste doch Gott seine Natur verleugnen, wenn er Gebete verächtlich behandeln wollte. Denn der Satz sagt nicht aus, was einmal geschehen ist, sondern er schmückt den Herrn mit dem Lobe, dass er immer so handelt. David will sagen, dass Gott ebenso gut sich selbst verleugnen, als sich gegen die Bitten seiner Kinder taub stellen könne. Wenn wir unserm Herzen dies tief einprägen, dass es zu Gottes Wesen und Art gehört, Gebete zu erhören, so wird unsre Gebetszuversicht niemals ins Wanken kommen. Da es ihm zudem an Kraft zu helfen niemals gebricht, dürfen wir ohne jeden Zweifel auf einen fröhlichen und günstigen Erfolg hoffen. Nicht minder bemerkenswert ist auch der nächste Satz: darum kommt alles Fleisch zu dir. Denn gleichwie niemand wagen würde, vor Gott zu treten ohne die Überzeugung, dass er sich erbitten lasse, so wird anderseits der frohe Gedanke daran, dass man ihn nicht vergeblich anruft, uns Mut einflößen, durch die geöffnete Tür zu gehen, durch welche nun alle wie um die Wette einströmen. Freilich rufen auch Heuchler und gottlose Leute, wenn die Not sie drängt, ihre Wünsche in die leere Luft hinaus: aber das heißt nicht in Wahrheit zu Gott nahen; denn sie bringen keine aus Gottes Wort geschöpfte Gewissheit des Glaubens mit, sondern erwarten nur unsicher eine günstige Wendung des Schicksals. Soll uns der Weg zu rechtem Gebet offen stehen, so müssen Gottes Verheißungen voranleuchten: nimmt man sie hinweg, so bleibt der Zugang zu Gott verschlossen. Dies ist die Ordnung, welche auch Paulus feststellt (Eph. 3, 12): wer Zugang zu Gott gewinnen will, muss den rechten Glauben an Christum haben, der ihm erst Mut macht. Mit einem zweifelndem Herzen lässt sich überhaupt nicht richtig beten, wie man auch im Papsttum sieht. Dass wir einen freien Zugang zu Gott haben, ist ein unschätzbarer Vorzug, den wir nur durch das Evangelium gewinnen. Dass der heilige Sänger aber von allem Fleisch redet, deutet darauf hin, dass was damals noch in Privilegium der Juden war, dereinst ein für alle Völker zugänglicher Besitz werden sollte. So haben wir hier eine Weissagung auf Christi künftiges Reich.
V. 4. Missetaten drücken mich hart. Gemeint sind nicht fremde Missetaten, wie etwa Verleumdungen, sondern David spricht im Namen des Volks ein Schuldbekenntnis aus. Wenn Gott sich nicht, wie es sonst seine Gewohnheit ist, den Kindern Israel freundlich und gnädig erweist, so liegt das an ihren Sünden. Unsere Aussage stimmt also mit Jes. 59, 1 f.: „Des Herrn Ohren sind nicht hart worden, dass er nicht höre, sondern eure Untugenden scheiden euch und euren Gott.“ Alles in allem: dass der Gott, welcher den Seinen freundlich zu helfen pflegt, ja sie mit süßester Liebe zu sich einlädt, seine Hand zeitweise zurückzieht, dafür macht David seine und des Volkes Sünde haftbar. Zunächst spricht er in der Einzahl von seiner persönlichen Schuld, dann aber blickt er auf das ganze Volk: Du wollest unsre Sünde vergeben. Dass er sich zunächst in dieser Weise persönlich heraushebt, hat vielleicht den Grund, dass er als König die Stelle des ganzen Volkes vertrat; vielleicht will er durch diese Sprechweise aber auch erinnern, dass jeder sich persönlich prüfen und das Bekenntnis seiner eigenen Sünden darbringen soll. Pflegen doch Heuchler in einem oberflächlichen allgemeinen Bekenntnis ihre persönlichen Sünden nur zu gern zu verhüllen. Aber David hebt nicht bloß in gemachter Bescheidenheit, sondern in ernster Gemütsbewegung mit sich selbst an, um dann erst alle ohne Ausnahme vor Gottes Angesicht zu verklagen. Übrigens will diese Erinnerung an Missetaten und Sünde den Betern nicht etwa die Zuversicht auf Erhörung erschüttern, sondern will vielmehr ein Hindernis aus dem Wege räumen, welches allen Sterblichen den Zutritt zu Gott verschließen müsste, wenn sie nicht glauben dürften, dass er auch auf Unwürdige hört. Wahrscheinlich waren damals die Gläubigen durch irgendein besonderes Zeichen des göttlichen Zornes erschüttert worden, sodass David gegen die daraus erwachsende Anfechtung ankämpfen muss. Und wir sehen, dass er ein Heilmittel bereit hat: gegen Gottes Zorn setzt er die Erwägung, dass es dennoch Gottes eigentliches Amt sei, Sünden zu verzeihen und zu sühnen. So steht unser Vers mit dem vorangehenden in unlösbarem gegensätzlichem Zusammenhange, etwas in dem Sinne: obgleich unsere Missetaten verdienten, dass du uns verstießest und uns dein Angesicht verbürgest, so werden sie doch unseren Gebeten den Weg nicht verlegen, weil wir wissen, dass du zur Versöhnung bereit bist. Wir lernen also aus dieser Stelle, dass Gott nur dann unsere Gebete erhören kann, wenn wir ihn vor allen Dingen in tiefster Demut um Vergebung unserer Sünden angehen. Die erfahrene Vergebung durch freie Gnade wird uns ohne Zweifel wieder in den Verkehr mit Gott einführen. Mag der Herr eine Weile uns seine Gnade entziehen, ja uns den Rücken zu kehren scheinen, so sollen wir uns nach Davids Beispiel doch zur Hoffnung auf Aussöhnung durchringen.
5 Wohl dem, den du erwählest und zu dir lässest, dass er wohne in deinen Höfen: wir werden uns sättigen am Gute deines Hauses, deines heiligen Tempels. 6 Mit Wundertaten wirst du uns antworten in Gerechtigkeit, Gott, unser Heil, der du bist Zuversicht aller auf Erden und ferne am Meer; 7 der die Berge fest setzt in seiner Kraft, und gerüstet ist mit Macht; 8 der du stillest das Brausen des Meers, das Brausen seiner Wellen und das Toben der Völker, 9 dass sich entsetzen, die an den Enden wohnen, vor deinen Zeichen. Du machst fröhlich, was da webet, beide gegen Morgen und gegen Abend.
V. 5. Wohl dem, den du erwählest usw. Nachdem David soeben bekannt hat, dass das Volk mit seinen Sünden den Bruch mit Gott herbeigeführt habe und deshalb der Erhörung unwert sei, flüchtet er sich nun in den Hafen der freien Gnade, kraft deren Gott die Sünden vergibt. So wird bekräftigt, was David soeben bezüglich der erhofften Vergebung aussprach: es wird der Grund aufgedeckt, auf welchem Gottes freundliches Verhalten gegen elende Sünder ruht, nämlich die väterliche Gnade, mit welcher er sie ohne ihr Verdienst umfasste. Denn die tägliche Vergebung fließt aus unserer Annahme zur Gotteskindschaft; auf diese gründen sich also auch unsere Gebete. Denn mit welchem Recht dürfte ein Sünder vor Gottes Angesicht treten, um Aussöhnung zu suchen, wenn er nicht glaubte, dass Gott sein Vater sei? Übrigens wird hier Gottes Gnade, nicht, wie kurz zuvor (V. 3), auf die Heiden ausgedehnt, sondern es wird nach Weise der damaligen Zeit geredet, in welcher Gott nur die Juden zu seiner Herde zählte und ihnen allein den Zutritt zum Heiligtum verstattete: heute aber, nachdem dieser Unterschied aufgehoben ist und Gottes Ruf unterschiedslos an alle Völker ergeht, dürfen alle in seine Nähe kommen. Denn Christus ist unser Friede, Er hat miteinander verbunden, die einst nahe und die entfernt waren (Eph. 2, 14). Jetzt verstehen wir, worauf Davids Worte zielen. Da der Gemeinde und dem auserwählten Volk Gottes die Vergebung der Sünden versprochen war, so erklärt er mit frohem Ausruf diejenigen für glücklich, welche Gott in seine Herde aufnimmt, um sie dort jenen unschätzbaren Vorzug genießen zu lassen. Des Weiteren ersehen wir, dass die Erwählung nicht allen ohne Unterschied zuteil wurde: denn David spricht den Juden, welche Gott den andern Völkern vorzog, ihre besondere Stellung zu. Denn wenn die Menschen mit ihrem Tun die Gnade Gottes herabzögen, könnte nicht von einer Erwählung die Rede sein, die in Gottes Macht und Recht liegt. Tatsächlich hatten die Juden für ihren Vorzug keinen andern Rechtstitel aufzuweisen, als dass Gott sie eben seiner besonderen Gnade gewürdigt hatte. Ist nun auch heute der Zaun abgebrochen, sodass die Berufung auch den Heiden gilt, so werden unbestreitbar doch nicht alle Menschen in gleicher Weise berufen: zur Widerlegung der törichten Ansicht, dass Gottes Gnade sich auswahlslos auf alle Menschen erstrecke, genügt ein bloßer Hinweis auf die Erfahrung. Denn welchen andern Grund für die Tatsache, dass Gott nicht alle in gleicher Weise zu sich einlädt, könnte man ausdenken, als dass er nach freier Wahl seiner Gnade einen Unterschied zwischen ihnen machte? Gewiss sind Glaube und Anrufung die Mittel, durch welche wir zu Gottes Gnade Zutritt gewinnen, aber der Quell dafür ist außer uns zu suchen. Gewiss sind wir glücklich, wenn wir auf Gott hoffen und seine Verheißungen uns aneignen, glücklich, wenn wir im Vertrauen auf unsern Mittler Christus Gott als unsern Vater kennen und unsre Gebete zu ihm richten; aber woher anders kommt Glaube und Gebetsanrufung, als dass Gott uns, die wir von Natur ihm entfremdet waren, durch seine Gnade an sich band? Dass wir in Gottes Nähe stehen, hat seinen Grund darin, dass er uns seine Hand bis in den tiefsten Abgrund entgegenstreckte, nicht aber, dass wir ihm freiwillig entgegengekommen wären. Eigentlich zu reden hat er uns zuerst erwählt und beweist uns nun seine ewige Liebe durch Vollzug der Berufung. Hatte nun auch Gott den Samen Abrahams zu seinem Eigentum ausgesondert und ihnen durch die Beschneidung einen Platz in seinem Heiligtum eröffnet, so ist doch nicht zu bezweifeln, dass David auch unter den Juden noch einen Unterschied macht: denn nicht sie alle hatte Gott wirksam zu sich gerufen, noch besaßen sie alle einen rechtmäßigen Platz in seinem Heiligtum. Gewiss ist es eine Anspielung an das äußere Heiligtum, wenn der heilige Sänger von den Juden sagt, dass Gott sie erwählt habe, in seinen Höfen zu wohnen: aber wir müssen im Gedächtnis behalten, was uns Ps. 15 und 24, 3 eingeprägt wurde, dass nicht alle rechtmäßige Bürger in der Gemeinde waren, deren Füße auf das Pflaster des Tempels traten. Dafür sind ein reines Herz und unbefleckte Hände erforderlich. Dass sie in Gottes Nähe wohnen, gilt also nicht in Wahrheit von denen, die mit aufrichtigem Glauben vor seinem Angesicht stehen. Übrigens schließt sich an die Erwählung nach Aussage unserer Stelle die Berufung. So darf niemand wähnen, dass Gottes Schäflein immer in der Irre gehen müssten, ohne jemals in seine Hürde gesammelt zu werden, denn die Frucht der gnädigen Annahme zur Gotteskindschaft zeigt sich darin, dass die Betreffenden unter dem Antrieb seines Geistes sich zu seinem Heiligtum herzumachen. Des Weiteren beschreibt David die Frucht dieses glücklichen Zustandes: wir werden uns sättigen am Gute deines Hauses. Obwohl nämlich auch die Heuchler dorthin kommen, so gehen sie doch hungrig und leer wieder heim, ohne etwas von den geistlichen Gütern zu genießen. Bemerkenswert ist der Wechsel des Ausdrucks: zuerst redete David in der dritten Person, jetzt aber schließt er sich in der ersten Person mit allen Gläubigen zusammen; denn er hat mit ihnen die Sättigung wirklich erfahren, von der er spricht. Übrigens werden die Gläubigen nicht in einem Augenblick, sondern stufenweise gesättigt; gewiss ist es Gott, der ihnen die Gaben seines Geistes einflößt; aber er passt sich in der Mitteilung dieses Reichtums ihrer Empfänglichkeit an, bis er sie endlich zur ganzen Fülle führt. Was Ps. 103, 5 davon sagt, dass Gott unsern Mund mit seinen guten Gaben sättigt, trifft gewiss zu; anderseits ist aber auch nicht zu übersehen, was wir Ps. 81, 11 lesen: „Tue deinen Mund weit auf, lass mich ihn füllen.“ So hindert unsre eigne Verschlossenheit den Herrn, uns die ganze Fülle seiner Gaben mitzuteilen; sieht er unsre Zurückhaltung, so stimmt er seine Freigebigkeit auf unser geringes Maß herab. Als Gut des Hauses Gottes werden die äußeren Mittel rühmend bezeichnet, die uns zum Genuss der himmlischen Güter hinleiten. Gewiss hätte Gott einst seine Hand vom Himmel her zu seinen Knechten ausstrecken können, aber er wollte durch Opfer und andere Formen als äußere Stützen der Frömmigkeit die Seelen der Gläubigen sättigen, wie er heute noch für uns ähnliche Mittel gebraucht. An solchen Dingen sollen wir nicht hängen bleiben, aber wir dürfen sie keineswegs gering schätzen.
V. 6. Mit Wundertaten wirst du uns antworten. Dieser Satz bestätigt in einer neuen Weise, dass die Leute, welchen Gott seinen Tempel öffnete, um sie in seinem Hause zu sättigen, nicht umsonst glücklich gepriesen werden. Er sagt, dass Gott auf die Gebete seines Volkes mit Wundertaten, wörtlich mit Schrecken erregenden Zeichen antworte. Es ist, als redete David den Herrn an: Herr, du wirst uns immer erhören, damit in wunderbaren Befreiungstaten deine Kraft ebenso offenbar werde, wie du beim Auszug unserer Väter aus Ägypten dein Volk auf ungewöhnliche Weise mit erschrecklicher Macht gerettet hast. Daran zu erinnern war sehr nützlich, damit die Kinder Gottes auch in verzweifelter Lage nicht den Mut verlieren. Übrigens ist hier nach dem für Israel bestimmten Heil auch von der Gnade Gottes über alle Völker die Rede. Denn Gott wird als die Zuversicht aller auf Erden bezeichnet.
V. 7. Der die Berge festsetzt usw. Diese eben angerührte Hoffnung gibt dem Dichter Anlass, auf die im ganzen Weltgebäude offenbar gewordene Kraft Gottes den Blick zu richten. Denn zu jener Zeit schien es unerhört, dass die Heiden mit den Juden auf das gleiche Heil sollten hoffen dürfen. Sehr geschickt deutet also David darauf hin, dass man in allen Teilen der Welt sehen könne, was Gott vermag: so muss jeder Anstoß schwinden. Die Berge nennt er und nicht das blache Feld, weil in ihren ungeheuren Erdmassen und hohen Felsen Gottes Macht besonders anschaulich wird. Im nächsten Vers deuten manche Ausleger das Brausen des Meers allegorisch auf das Toben der Völker, von dem darnach die Rede ist. Doch ist es einfacher, beides zu unterscheiden und das erstere in seinem wirklichen Sinne zu nehmen. Dass Gott Fluten und Stürme des Meeres mit seiner Macht bändigt, wird zum Unterpfand dafür, dass er auch Aufruhr und Stürme niederschlagen kann, die Menschen wider ihn erregen.
V. 9. Dass sich entsetzen usw. Unter den Zeichen Gottes, welche den Menschen seine furchtbare Herrlichkeit einprägen sollen, sind ohne Zweifel besonders hervorstechende und denkwürdige Taten gemeint. Gewiss spiegelt sich Gottes Majestät auch in den geringsten und scheinbar gleichgültigsten Erscheinungen am Himmel und auf Erden: aber die Wunder werden besonders herausgehoben, als „Zeichen“ eigner Art, weil in ihnen Gottes Glanz am hellsten erstrahlt. Alles in allem: Gottes Gnadenerweisungen gegen seine Gemeinde sollen so herrlich sein, dass sie auch barbarische Völker an den äußersten Enden der Erde zur Ehrfurcht und Bewunderung zwingen. Aber nicht bloß Furcht sollen Gottes Wundertaten verbreiten, sondern sie sollen die Menschen auch fröhlich machen: gegen Morgen und gegen Abend wird man Gott nicht bloß als den schrecklich majestätischen Herrn, sondern auch als den Urheber aller Freude kennen lernen.
10 Du suchest das Land heim, und wässerst es, und machest es sehr reich. Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle. Du lässest ihr Getreide wohl geraten, denn also bauest du das Land. 11 Du tränkest seine Furchen und feuchtest sein Gepflügtes; mit Regen machst du es weich und segnest sein Gewächs. 12 Du krönest das Jahr mit deinem Gut, und deine Fußstapfen triefen von Fett. 13 Die Weiden in der Wüste sind auch fett, dass die triefen, und die Hügel sind umher lustig. 14 Die Anger sind voll Schafe, und die Auen stehen dick im Korn: sie jauchzen und singen.
V. 10. Du suchest das Land heim usw. Die Gegenwartsformen dieser Sätze deuten darauf hin, dass Gott immer so handelt, wie es hier beschrieben wird. Übrigens ist dabei zunächst nicht an den ganzen Erdkreis zu denken, sondern insbesondere an das jüdische Land: denn David schildert die besonderen Gnadengaben, welche Gott über sein Volk ausschüttet. Darauf deutet auch die Aussage: Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle. Mögen andere Länder große und breite Ströme haben, die in natürlicher Weise die Umgegend befruchten, so begnügt sich Israel mit der dünnen und geringen Siloahquelle (vgl. Ps. 46, 5). So läge hier eine versteckte Anspielung auf Moses Wort vor (5. Mos. 11, 10), nach welchem das Land, welches Gott seinem Volk geben will, nicht wie Ägypten sein wird, welches der Nil mit seinen Überflutungen fruchtbar macht: es muss vielmehr auf den Regen vom Himmel warten. Es wäre sogar möglich, dass dieser Regen geradezu unter dem Brünnlein Gottes zu verstehen wäre. Jedenfalls wird betont, dass das jüdische Land vermöge seiner Naturbeschaffenheit besonders von Gottes Segen abhängt. In diesem Sinne wird alsbald darauf aufmerksam gemacht, dass selbst (V. 13) die Weiden in der Wüste und der gebirgige Land, welches sonst rau und trocken ist, von Gottes Segnungen zeugen soll. Sind nun auch alle diese Aussagen auf die besonderen Erfahrungen von Gottes Freigebigkeit gestimmt, welche das auserwählte Volk in seinem Lande machte, so sollen sie uns doch ein Fingerzeig sein, wir mögen wohnen, wo wir wollen, den Reichtum der Güte Gottes im Ertrag und der Fruchtbarkeit der Erde überall zu erkennen. Denn nur darum hat sie die Kraft, mannigfache Güter aller Art zu erzeugen, weil sie Gott dazu bestimmt hat, uns Menschen zu ernähren. Darum ist es überaus fein, dass David geradezu den Herrn anredet: also bauest du das Land. Darum muss die Erde ihren Reichtum bringen, weil Gott wie ein guter Vater für seine Kinder sorgte, indem er sie bildete und zurichtete, ihnen Nahrung darzureichen.
V. 11. Du tränkest seine Furchen usw. Alle diese Aussagen wollen uns in der Ordnung der Natur ein Zeugnis für Gottes Vatergüte vorhalten, der sich dazu herablässt, die Sorge für unser tägliches Brot zu übernehmen. Der Dichter wendet aber für diesen Zweck viele Worte auf, weil der größte Teil der Menschen für Gottes Gnadenerweise sich unverantwortlich blind zeigt. Die Welt ist vielleicht sehr scharfsichtig in der Beobachtung der natürlichen Zusammenhänge: aber sie bleibt an ihnen haften und will durchaus nicht zu Gott emporsteigen. Und doch müsste die Wissenschaft uns mit jedem tieferen Eindringen in die von Gott geschaffenen Geheimnisse näher zu Gott führen, wenn eben nicht unsre Verkehrtheit und Undankbarkeit dazwischenträte. Weil nun die scharfsinnigsten Leute den Ursprung des Regens in der Luft und den Elementen suchen, ohne Augen und Verstand auf Gott zu richten, so war es nötig, die Aufmerksamkeit durch besonders eindrückliche Rede zu wecken.
V. 12. Du krönest das Jahr mit deinem Gut. Andere übersetzen: „Du krönest das Jahr deiner Guttätigkeit.“ Damit wäre ein besonders furchtbares und gesegnetes Jahr bezeichnet, welchem Gott als besondere Krone einen mehr als gewöhnlichen Ertrag an Erntegut und Wein geschenkt hätte. Ohne Zweifel leuchtet Gottes Segen in dem einen Jahr mehr als in dem andern; doch entbehrt kein Jahr seines Schmucks und seiner Krone. Darum wird unser Satz einfach sagen wollen, dass Gott das Jahr in seiner steten Wiederkehr, d. h. alle Jahre mit seinem Segen schmückt. Diesen Gedanken lässt das nächste Satzglied noch deutlicher erkennen: Deine Fußstapfen triefen von Fett. Als Gottes Fußstapfen werden bildlich die Wolken bezeichnet, von denen es sonst heißt (Ps. 104, 3), dass Gott auf ihnen fähret. Obgleich also die Fruchtbarkeit der Erde aus Saft und Feuchtigkeit, die Feuchtigkeit vom Regen und der Regen aus der Wolke kommt, ist es doch ein besonders schöner und passender Ausdruck, dass die Wolken von Fett triefen, weil sie Gottes Fußstapfen oder Gefährt sind: wohin Gott seinen Weg lenkt, ergießt sich von seinen Füßen eine fruchtbare Fülle von Früchten. Der nächste Vers (V. 13) fügt dann steigernd hinzu, dass diese Fettigkeit sich selbst auf unbebaute Gegenden erstreckt: denn die Weiden in der Wüste sind zwar nicht völlig unfruchtbare Einöden, aber doch weniger bearbeitete und wenig bewohnte Gegenden, in denen man Gottes Segen, der seine Fettigkeit auch über die Berge ausgießt, eben darum besonders deutlich erkennen kann. Darnach werden (V. 14) Anger und Auen genannt, sodass man sieht, wie kein Teil des Landes von Gottes Gütern entblößt ist, der ja mit seiner Freigebigkeit den ganzen Erdkreis reich machen kann. Besonders anmutig wirkt die Mannigfaltigkeit, dass die Täler und Ebenen sowohl voll Schafe sind, als dick mit Korn stehen. Dass sie jauchzen und singen, kann von leblosen Gegenständen nur uneigentlich gesagt werden; aber es heißt doch auch, dass die Felder lachen, wenn sie mit ihrer Schönheit das Auge entzücken.
Quelle: Müller, Karl / Menges I. - Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift - Psalter