Calvin, Jean - Psalm 123.
Inhaltsangabe:
Unter dem Druck einer harten Gewaltherrschaft rufen die Gläubigen Gott an als ihren Befreier, weil die Hoffnung auf seinen Schutz das einzige ist, was ihnen noch übrig bleibt.
Ein Stufenpsalm.
1 Ich hebe meine Augen auf zu dir, der du im Himmel wohnest. 2 Siehe, wie die Augen der Knechte auf die Hand ihrer Herren sehen, wie die Augen der Magd auf die Hand ihrer Frau, also sehen unsre Augen auf den Herrn, unsern Gott, bis er uns gnädig werde. 3 Sei uns gnädig, Herr, sei uns gnädig; denn wir sind sehr voll Verachtung. 4 Sehr voll ist unsre Seele vom Spott der Reichen und von der Verachtung der Hoffärtigen.
V. 1. Ich hebe meine Augen auf usw. Wir wissen nicht, wann und von wem dieser Psalm verfasst worden ist. Dass er von David sei, ist mir nicht wahrscheinlich, denn David pflegt, wo er über die von Saul erlittenen Verfolgungen klagt, immer auch etwas Persönliches einzuflechten. Eher möchte ich annehmen, dass irgendein Prophet in der langen babylonischen Gefangenschaft oder in der grausamen Bedrückung unter Antiochius Epiphanes dieses Gebetlein allen Frommen zum Gebrauch an die Hand gegeben hat. Wie dem auch sein mag, der heilige Geist, unter dessen Eingebung er es tat, ruft uns durch dasselbe laut und vernehmlich zu Gott hin, so oft der Fall eintritt, dass nicht bloß der eine oder andere, sondern dass die ganze Gottesgemeinde von der Willkür und Ungerechtigkeit übermütiger Verfolger zu leiden hat.
Bezeichnenderweise wird Gott hier angeredet: der du im Himmel wohnest.Denn es ist wichtig, dass die Gläubigen von seiner Macht die gebührende Vorstellung haben. Ja, wenn ihnen alle Hoffnung entschwindet auf Erden, wenn ihre Lage aussichtslos ist wie das Grab, wenn sie verschlossen sind wie in einem Labyrinth, sollen sie daran denken, dass Gottes Kraft ungeschwächt bleibt im Himmel. Welch ein Gegensatz zwischen dem unruhvollen Gewirre der Welt und dem himmlischen Königreich Gottes, von wo aus er die Dinge so lenkt und regiert, dass er all das Wogen und Stürmen hier unten, so oft es ihm beliebt, zur Ruhe bringt, den Verlorenen, für die nichts mehr zu hoffen ist, Hilfe sendet, das Licht nach der Finsternis wieder aufgehen lässt, die Verzagten und am Boden Liegenden wieder aufrichtet! Auf diesen Gegensatz weist besonders das Wörtlein „aufheben“: wenn alles in der Welt uns im Stiche lässt, sollen wir unsere Augen nach oben richten; Gott im Himmel bleibt sich immer gleich, mögen die Menschenkindern noch so sehr wüten und alles über den Haufen werfen.
V. 2. Siehe, wie die Augen der Knechte usw. Dieser Vergleich passt vorzüglich für unseren Fall. Der Prophet gibt nämlich dadurch zu verstehen, dass die Gläubigen, abgesehen von dem göttlichen Schutz, nichts haben, was sie trösten kann, dass sie wehrlos aller Unbill ausgesetzt sind, weder Kraft noch Mut zum Widerstand besitzen, kurz, dass ihre Rettung ganz und gar von fremder Hilfe abhängt. Es ist bekannt, wie empörend ehemals die Behandlung der „Knechte“ oder der Sklaven war, und welchen Kränkungen sie ausgesetzt waren, wie sie vollends, um Gewalt abzuwehren, kaum einen Finger zu rühren wagten. Weil denn alle Selbsthilfe ihnen abgeschnitten war, so blieb ihnen nur übrig, was wir hier lesen, von der Hand ihrer Herren Schutz zu erbitten. Ebenso verhielt es sich mit den Mägden.Das war nun freilich eine schimpfliche Abhängigkeit. Aber bei uns fällt das Schimpfliche des Knechtsverhältnisses gänzlich fort. Denn warum sollten wir uns nicht gern mit Leibeigenen vergleichen lassen, wenn unser Herr der lebendige Gott ist, der es auf sich nimmt, unser Leben zu schützen, der uns mit Absicht entwaffnet und von allen weltlichen Mitteln entblößt, damit wir lernen, an seiner Gnade uns genügen zu lassen? Weil es nämlich für die Sklaven als todeswürdiges Verbrechen galt, ein Schwert oder irgendeine Waffe zu tragen, weil sie allen Kränkungen ausgesetzt waren, so pflegten sich wohl ihre Herren um so mehr entgegenzustellen, wenn jemand ihnen ohne Ursache Gewalt antat. So wird Gott zweifellos, wenn er sieht, dass wir auf seinen Schutz angewiesen sind und nicht auf eigene Kraft vertrauen, sich aufmachen, um all den Verdruss, den man uns angetan hat, zu rächen. Aber das ist gewiss, dass hier eine Zeit beschrieben wird, in der es mit der Not des Volkes Gottes aufs höchste gekommen und seine Lage geradezu hoffnungslos geworden war. – Dass „Hand“ für Hilfe gebraucht wird, ist bekannt.
V. 3. Sei uns gnädig, Herr! Dies ist eine Weiterführung und Bekräftigung des Gesagten. Wir hörten von den Frommen, dass sie ganz zerschlagen am Boden lagen und ihre Augen auf die Hand Gottes gerichtet waren. Jetzt heißt es weiter, sie seien sehr voll Verachtung,eigentlich: gesättigt mit Verachtung. Daraus schließen wir, dass die Gottlosen in ihrem Wüten gegen die Kinder Gottes sich nicht bloß alle mögliche Gewalttat erlaubt, sondern sie zum Hohn gleichsam mit Füßen getreten haben. Jedenfalls verrät die Wiederholung des Gebetsrufs eine heftige innere Bewegung und ist zugleich ein Beweis, dass an dem vollen Trübsalsmaß nichts gefehlt hat. Gibt es doch für edle Gemüter nichts Empfindlicheres, als wenn zur Kränkung noch die Verhöhnung hinzukommt. Über diese klagt deshalb der Prophet ganz besonders, als sei das der Gipfel aller Leiden.
V. 4. Die Reichen und Hoffärtigen sind es, welche die Gemeinde verhöhnt haben. Denn so geht es in der Welt, dass Leute, die hier hoch stehen, auf das Volk Gottes verächtlich herabblicken. Der Glanz eigener Ehre und Macht sticht ihnen in die Augen, dass ihnen das Reich Gottes, welches geistlicher Art ist, nichts gilt. Ja, je mehr das Glück den Gottlosen hold ist, umso mehr schwillt ihnen der Kamm, umso unverschämter gebärden sie sich. Wir lernen aus dieser Stelle, dass es gar nichts Neues ist, wenn von einflussreichen Weltkindern die Gemeinde Gottes geringschätzig angesehen wird. Und die hier Reiche heißen, werden mit Recht auch Hoffärtige genannt; denn Überfluss erzeugt Übermut.
Wenn wir übrigens sehen, wie die Gemeinde Gottes schon vorzeiten mit Schmach bedeckt gewesen ist und man mit Fingern auf sie gewiesen hat, um sie zu verhöhnen, so haben wir keinen Grund, uns aus der Fassung bringen zu lassen durch die Verachtung, die uns von der Welt widerfährt, oder unseren Glauben erschüttern zu lassen durch die Gottlosen, wenn sie über uns spötteln oder mit ihren Schmähungen nichts Gutes an uns lassen. Wir müssen nämlich immer festhalten, was hier steht, dass die Seele nicht nur eines oder etlicher Menschen, sondern der ganzen Gemeinde gesättigt gewesen ist, und zwar nicht allein mit ruchloser Gewalttat, Grausamkeit, Betrügereien und sonstigen Übeltaten, sondern auch mit Beschimpfung und Verhöhnung. Und auch das müssen wir festhalten, dass alles, was hoch und hoffärtig ist in der Welt, hier der Gemeinde Gottes gegenübergestellt wird, so dass sie für Kot und Kehricht gilt, wie Paulus (1. Kor. 4, 13) sagt. Machen wir heute dieselbe Erfahrung, so mögen unseretwegen die Gottlosen in ihrem Stolz sich aufblähen bis zum Bersten, wir wollen zufrieden damit sein, dass wir dennoch dem Herrn lieb und wert sind. Der Ausdruck: „wir sind voll“ hat – zumal in seiner Wiederholung – etwas Drastisches und setzt eine lang anhaltende Bedrückung voraus, die in den Herzen der Frommen Trauer bis zum Überdruss angehäuft hat. – Wie zeitgemäß die Erinnerung ist, die der Psalm enthält, braucht nicht weitläufig auseinandergesetzt zu werden. Wir sehen, wie die Gemeinde Gottes von allem weltlichen Schutz verlassen wird und unter den Füßen ihrer Feinde liegt, denen Mittel im Überfluss und eine furchtbare Macht zu Gebote stehen. Wir sehen, wie die Päpstlichen sich dreist erheben und aus voller Kehle ihr Gespött ergießen über uns und den gesamten Gottesdienst. Auch in unserer Mitte befinden sich epikureische Leute, die überall umher schwärmen und unsere Einfachheit verlachen; und zyklopische Menschen in großer Zahl überschütten uns mit Schmähungen. Und dieser unwürdige Zustand, aus welchem das Evangelium sich wieder emporzuarbeiten begonnen hat, dauert immer noch fort. Was anders bleibt uns da übrig, als dass wir mitten in der uns umgebenden Finsternis zum Himmel aufblicken, um dort das Licht des Lebens zu suchen, und dass unsere Seele, bis zum Überdruss gesättigt mit allem möglichen Schimpf, sich mir ihren schmachtenden Gebeten nach der Befreiung hinstreckt?