Calvin, Jean – Das Evangelium des Johannes - Kapitel 19.

Calvin, Jean – Das Evangelium des Johannes - Kapitel 19.

V. 1. Da nahm Pilatus Jesum. Pilatus besteht auf seinem Vorhaben. Der ersten Schmach fügt er noch eine zweite hinzu, weil er hofft, die Juden würden sich mit dieser ziemlich scharfen Züchtigung zufrieden geben. So angelegentlich bemüht er sich, Christum zu retten, und doch erreicht er nichts. Daran können wir wieder erkennen, dass ein himmlischer Ratschluss vorlag, vermöge dessen Christus sterben sollte. Wiederholt wird seine Unschuld durch richterlichen Ausspruch hervorgehoben. Wir sollen wissen: er war frei von jeglicher Schuld und trat an die Stelle von anderen, um für sie die Schuld auf sich zu nehmen und für sie die Strafe zu verbüßen. Pilatus ist ein bemerkenswertes Beispiel eines beunruhigten, unsicheren Gewissens. Mit dem Munde spricht er Christum frei und gesteht offen ein, dass er keine Schuld an ihm findet, - und doch lässt er ihn wie einen Verbrecher geißeln. Es kann gar nicht anders sein: Wer nicht Herz genug hat, um das, was recht ist, mit unbezwinglicher Standhaftigkeit zu verteidigen, der versucht es einmal so, einmal so, schwankt unschlüssig hin und her und verwickelt sich in lauter Widersprüche.

V. 2 bis 5. Die Kriegsknechte flochten eine Krone. Das geschah zweifellos auf des Pilatus Befehl, um den Sohn Gottes als einen Frevler zu brandmarken, der sich selber zum König gemacht habe. Damit wollte er zugleich der Wut des jüdischen Volkshaufens nachgeben; es sollte so aussehen, als sei auch er davon überzeugt, dass man Christum mit Fug und Recht verklagt habe. Die schamlose Frechheit der Soldaten geht jedoch weit über das von dem Richter ihnen Befohlene hinaus, - ergreifen doch die Gottlosen jede Gelegenheit, Böses zu tun, mit großer Lust! Man muss nur staunen über diese unmenschliche Rotte, die ein so jammervolles Schauspiel harten Herzens mitansehen kann, ohne eine Spur von Mitleid zu empfinden. Das Rätsel ist nur zu lösen, wenn man bedenkt, dass Gott auch darin seine Hand hat und will, dass die Welt durch den Tod seines Sohnes mit ihm versöhnt werde.

V. 6. Nehmt ihr ihn hin. Damit will Pilatus nicht im Ernst Christum der jüdischen Willkür ausliefern, sondern nur sagen, dass er selbst nicht zum Mörder an ihm werden will. Das zeigt ja auch der folgende Hinweis, dass er keine Schuld an ihm finde. Pilatus meint: dazu werdet ihr mich niemals bringen, dass ich euch zu Gefallen unschuldiges Blut vergieße. Wenn es hier nur die Hohenpriester sind und ihre Diener, die Jesum trotzdem gekreuzigt sehen wollen, so geht daraus hervor, woher die ganze Volkswut rührte: diese Menschen allein haben sie verursacht und immer wieder geschürt.

V. 7. Wir haben ein Gesetz. Die Juden geben dem Landpfleger zu verstehen, dass sie Christum mit Recht verfolgen, nicht aus Willkür oder Gehässigkeit. Sie fühlten, dass Pilatus sie in versteckter Weise verhöhnte. Sie reden hier, wie wenn sie es mit einem Menschen zu tun hätten, der das Gesetz nicht kennt. Sie wollen sagen: Der römische Kaiser hat uns gestattet, nach Judensitte zu leben; unsere Religion aber duldet es nicht, dass sie jemand für einen Sohn Gottes ausgibt! Diese Anklage hatte ja scheinbar einen stichhaltigen Grund; nur irrten sie sich gewaltig in ihren Voraussetzungen. Im Allgemeinen ist ja die Lehre zutreffend, dass ein Mensch sich nicht göttliche Ehren beilegen darf, und dass es ein todeswürdiges Verbrechen ist, auf Menschen zu übertragen, was nur Gott zusteht. Das war aber der Grund der Irrung über Jesum, dass die Juden weder bedachten, wie schon die alttestamentliche Schrift dem Messias göttliche beilegt, noch überhaupt die Frage stellten, ob nicht Jesus der längst verheißene Messias sein könnte. Wir wollen daraus lernen, dass wir nicht schnell mit allgemeinen Gedanken zufahren, sondern uns überall auf Grund des Gehorsams gegen das Schriftwort und des wirklichen Befundes der Tatsachen unser Urteil bilden.

V. 8. Er fürchtete sich noch mehr. Zwei Deutungen sind möglich. Entweder wollte es Pilatus nicht auf sich nehmen, durch Christi Freisprechung die Volkswut zu entfesseln, - oder bei Nennung des Namens „Gottessohn“ verspürte er eine Anwandlung religiöser Scheu. Dass das letztere die wahre Meinung unserer Stelle ist, wird daraus ersichtlich, dass Pilatus sich abermals ins Richthaus begibt und Jesum fragt (V. 9): Von wannen bis du? Daraus geht hervor, dass Pilatus sich ängstlich fürchtete, seine Hand an einen Gottessohn zu legen und dadurch Gottes Zorn zu reizen. Seine Frage will nämlich nicht etwa nach Jesu Heimatsort forschen, sondern hat eigentlich den Sinn: Bist du ein auf dieser Erde geborener Mensch oder bist du eine verkleidete Gottheit? Von Göttergrauen ergriffen, steht Pilatus vollkommen ratlos da. Auf der einen Seite sah er den Volksaufruhr kommen, und wollte er dieser Gefahr entgehen, so fiel er auf der andern in Gottes strafende Hände. Solchen Eindruck hat Christi verächtliche Gestalt auf Pilatus gemacht: namentlich als er von einem Gottessohn etwas hört, hemmt eine Art religiöse Furcht seinen Entschluss. Hat die Scheu vor Gott bei einem Weltmenschen so Großes zuwege gebracht, muss man dann nicht diejenigen für dreimal Verworfene ansehen, die heutigen Tages über göttliche Dinge ihr Lästermaul lachend und spottend ergehen lassen ohne die geringste Anwandlung von banger Scheu? Jedenfalls ist Pilatus ein Beweis dafür, dass die Menschen ein angeborenes religiöses Gefühl mit auf die Welt bringen, das es nicht zulässt, dass sie sich in kühner Vermessenheit alles erlauben, wo es sich um göttliche Dinge handelt. Wenn jemand erst dahin gekommen ist, Gottes heilige Offenbarung wie eine vollkommen gleichgültige Sache zu behandeln, so ist dies ein Zeichen tiefster Verworfenheit.

V. 9. Jesus gab ihm keine Antwort. Dies Schweigen Jesu wird uns nicht verwunderlich erscheinen, wenn wir bedenken, was ich schon sagte, dass Jesus vor Pilatus nicht seine eigene Sache führen will, wie ein Angeklagter, der loszukommen wünscht, sondern dass er bereit steht, das Todesurteil über sich ergehen zu lassen. Das ist der Grund, weshalb er sich nicht verteidigt. Doch streitet das Schweigen Christi nicht mit dem Ausspruch des Paulus (1. Tim. 6,13): „Christus hat unter Pontius Pilatus bezeugt ein gutes Bekenntnis“. So viel es nötig war, hat er allerdings sein Evangelium dort vertreten; auch sein Tod war nichts anderes, als eine Besiegelung der von ihm vorgetragenen Lehre. Wo es ein tapferes Bekenntnis galt, da ließ es unser Heiland an nichts fehlen; er schwieg nur da, wo es sich um sein Loskommen vom Gericht handelte. Außerdem war Gefahr vorhanden, dass Pilatus Christum freisprach, gerade weil er ihn etwa nach heidnischer Weise für eine Art Halbgott hielt, wie es ja heißt, dass Tiberius ihn unter die Götter der Römer haben aufnehmen wollen. Christus weist solchen törichten Aberglauben, wie er es verdient, mit Schweigen weit von sich.

V. 10. Weißt du nicht, dass ich Macht habe? Daraus geht hervor, dass der Schrecken, der den Pilatus jäh durchzuckt hat, rasch vorübergegangen ist und keine lebendigen Wurzeln hatte. Die Furcht ist vergessen, keck springt der Landpfleger über zu entsetzlicher Gottesverachtung. Er droht Christo, als wohnte kein Richter im Himmel. Aber so muss es bei Weltmenschen gehen: ist die Angst vor Gott erst überstanden, dann sind sie rasch wieder die alten. Auf ein Menschenherz ist kein Verlass. Eben noch hat es ein wenig Furcht vor Gott, aber ehe man sich es versieht, sprudelt die bare Gottlosigkeit daraus hervor. Ist ein Mensch vom Geiste Gottes nicht wiedergeboren, so mag er wohl einen besseren Augenblick haben, indem er Scheu vor Gott zur Schau trägt, - er wird jedoch bald genug durch Handlungen von ganz widersprechender Art verraten, dass alles nur vergänglicher Schein war. Jetzt zeigt uns Pilatus das Bild eines selbstbewussten Mannes, den die Überzeugung von seiner Macht und Würde zu geradezu unsinnigen Aussagen treibt: er spricht von seiner unbeschränkten Amtsgewalt und bedenkt nicht, dass er sich damit selbst das Lob der Gerechtigkeit abspricht. Er hat es wiederholt bekannt: Christus ist unschuldig. So stellt er sich denn mit einen gemeinen Mörder auf eine Stufe, wenn er sich rühmt, ihn ohne weiteres abtun zu können. Solche Verwirrung herrscht nun einmal in dem Inneren eines Gottlosen. Wo die rechte Erkenntnis Gottes und der Glaube nicht das Regiment führt, müssen die einander widerstreitenden fleischlichen Empfindungen ihren Kampf austoben. An diesem Beispiel des Pilatus zeigt sich, wie Gottes Rache den Hochmut mit sich selber straft. Wer leichthin hohe Worte braucht, macht sich nur lächerlich. Zumal hochgestellte Leute mögen sich in der Grenze der Bescheidenheit halten und in aller Demut unter Gott und sein heiliges Gesetz beugen.

V. 11. Du hättest keine Macht usw. Einige Ausleger deuten das allgemein: Es geschieht nichts in der Welt außer durch Gottes Zulassung. So würde der Herr den Pilatus einfach erinnern, dass er, der alles zu können meint, doch nicht mehr tun wird, als Gott ihm zulässt. So lange Gottes Wille die Welt regiert, werden die Gottlosen trotz aller Anstrengung ohne Gottes geheime Macht keinen Finger rühren können. So richtig nun dies alles ist, so glaube ich doch, dass an unserer Stelle der Herr insbesondere vom Amt der Obrigkeit redet. Christus züchtigt mit diesen Worten die alberne Anmaßung des Pilatus, der sich aufspielt, als stamme seine Macht nicht von Gott. Er will ihm zu verstehen geben: du nimmst eine so unumschränkte Vollmacht für dich in Anspruch, als hättest du nicht dereinst vor Gott Rechenschaft abzulegen. Nicht ohne göttliche Vorsehung bist du Richter geworden. Bedenke, dass das Gericht im Himmel dem deinigen weit überlegen ist! Das ist der rechte Dämpfer für den Übermut aller Vorgesetzten, damit sie ihr Recht nicht missbrauchen. Wenn ein Vater nicht auf Gott schaut, der ihn an die feste Schranke seines Gesetzes gebunden hat, so meint er nur zu leicht, es sei ihm gegen seine Kinder alles erlaubt: und ebenso steht es zwischen Gatten und Gattin, Herren und Knechten, Fürst und Volk.

Der hat größere Sünde. Einige meinen, die Juden seien darum viel tiefer verschuldet als Pilatus, weil sie mit verbrecherischem Hass und treuloser Bosheit den Gerechten umtoben, und weil sie bei alledem als Privatpersonen dastehen, die keine Amtsgewalt zu üben haben. Meines Erachtens ist ihr Frevel aus einem anderen Grunde der schwerere: sie sind weit weniger entschuldbar als Pilatus, da sie ein von Gott eingesetztes Richteramt zwingen wollen, ihrer Willkür und Mordlust zu dienen. Es ist der denkbar schlimmste Frevel, wenn man eine heilige Gottesordnung zu jedwedem Unrecht missbraucht. Mit Recht verabscheut man einen Wegelagerer, der einen unglücklichen Wandersmann abschlachtet; der aber, welcher unter dem Vorwand, er richte gerecht, einen Unschuldigen tötet, handelt noch viel verbrecherischer. Übrigens will der Hinweis auf die größere Schuld der Juden nicht etwa den Pilatus entlasten. Es handelt sich gar nicht um einen eigentlichen Vergleich: vielmehr trifft alle die gleiche Schuld, dass sie die heilige Gewalt der Obrigkeit für ihre Zwecke missbrauchen wollen. Der Unterschied ist nur der, dass Jesus die Juden unmittelbar angreift, während er den Pilatus, der ihren Lüsten nachgibt, mehr nebenher trifft.

V. 12. Von dem an trachtete Pilatus. Obwohl Pilatus sich nicht als einen Mann zeigt, der das Herz auf dem rechten Flecke hat, und sich mehr von Ehrgeiz als von dem Streben nach Gerechtigkeit regieren lässt, - daher auch sein charakterloses Hin- und Herschwanken, - so ist doch seine Mäßigung zu loben, dass er dem Manne, der ihn ernstlich zurechtwies, nicht erregt erwiderte, sondern nun erst recht darauf sinnt, wie er ihn freigeben könne. Er ist der Richter; trotzdem nimmt er es gut auf, dass der Angeklagte ihn tadelt. Unter Hunderten wird man kaum einen finden, der auch nur von einem Gleichgestellten einen solchen Vorwurf mit Sanftmut annähme.

So bist du des Kaisers Freund nicht. Mit einer Drohung erpressen die Juden von Pilatus das Todesurteil. Der Vorwurf, seine Kaisertreue sei verdächtig, war der gehässigste, den sie ihm machen konnten; mit nichts anderem war er so tief zu erschrecken. Sie sagen hier zu ihm: Du zeigst, dass dir nichts daran liegt, ob der Kaiser auch ferner das Zepter führt, wenn du den loslässt, der sich unterfangen hat, alles umzustürzen! Dieser gottlose Kniff hat aus dem römischen Landpfleger eine Memme gemacht. Das vorangehende leidenschaftliche Geschrei der Volksmasse hatte ihn nur etwas eingeschüchtert. Nicht ohne Absicht trägt der Evangelist alle Einzelumstände so sorgfältig zusammen: hat es doch große Bedeutung für uns, zu erfahren, dass Pilatus zunächst drei-, ja viermal Christum für völlig schuldlos erklärt hat und unseren Heiland freizugeben ganz fest beabsichtigte; dann erst hat er in der Angst um seine eigene Stellung Christum zum Tode verurteilt. Daraus ersehen wir abermals, dass Jesus nicht für sich, sondern für unsere Sünden verurteilt wurde. Wir ersehen weiter aus dem Umstande, dass Jesus es ganz versäumt hat, die günstige Gesinnung des Richters zu seinem Nutzen auszudeuten, wie herzlich er bereit ist, den Tod zu erleiden. Dieser Gehorsam hat es bewirkt, dass sein Tod ein wohlriechendes Opfer war zur Sühnung aller Sünden.

V. 13. Und setzte sich auf den Richterstuhl. Hieraus geht hervor, wie zerrissen in sich Pilatus war, etwa gleich einem Schauspieler, der zwei verschiedene Rollen in einem Stück übernommen hat. Er besteigt den Richtstuhl, um, wie es Sitte war, in feierlicher Weise das Todesurteil über Christum zu verkünden, - dabei aber erklärt er öffentlich, er tue das gegen seinen Willen und trotz des Widerspruches, den sein Gewissen erhebt. Spöttelnd redet er von Christo als von einem Könige, wodurch er andeuten will: Es handelt sich dabei nur um eine elende Verleumdung, die ihr Juden rein aus der Luft gegriffen habt! Jedenfalls will er ihre Wut dadurch eindämmen, dass er sie erinnert: Auf euer ganzes Volk wird ein Schandfleck kommen, sobald es ruchbar wird, dass ein Jude zum Tode verurteilt worden ist, weil er nach der Königskrone gestrebt hat. –

Das „hebräische“ oder eigentlich der damals geläufigen aramäischen Sprache angehörige Wort Gabbatha bezeichnet einen erhöhten Platz. Von solcher Höhe herab musste Christus verurteilt werden, um uns freisprechen zu können, wenn er selbst am letzten Tage als der höchste Richter erscheinen wird.

V. 14. Um die sechste Stunde. In der Zeitangabe weichen die Evangelisten scheinbar voneinander ab und stimmen nicht recht zusammen. Die drei anderen sagen, von der sechsten Stunde ab sei eine Finsternis gewesen, und Christus habe schon längst am Kreuze gehangen (Mt. 27,45; Lk. 23,44). Markus (Mk. 15,25) berichtet sogar ausdrücklich, es sei die dritte Stunde gewesen, da das Urteil über ihn gesprochen ward. Doch löst die Schwierigkeit sich leicht. Aus anderen Schriftstellen ist sattsam bekannt, dass man damals den Tag in vier Abschnitte zerlegte, wie denn auch die Nacht in vier Nachtwachen zerfiel. So kann es kommen, dass man sich in der Zeitbestimmung wesentlich nur an die Stunde hält, mit welcher der neue Tagesabschnitt beginnt. So kann Johannes sagen, Jesus sei „gegen die sechste Stunde“ (nach unserer Rechnung gegen 12 Uhr mittags) verurteilt worden, und meint doch nur, dass die Verurteilung in dem Tagesabschnitt stattfand, der mit der sechsten Stunde abschließt. Im genaueren Sinne um die sechste Stunde wird dann Jesus gekreuzigt worden sein: war doch die Stätte nahe vor dem Tor (V. 20). Zwischen der sechsten und der neunten Stunde brach dann die Finsternis herein, die bis zur neunten Stunde anhielt (nachmittags drei Uhr), wo Christus starb.

V. 15. Wir haben keinen König. Hier bricht eine schauerliche Bosheit und Wut hervor: die in dem Gesetz doch ganz gewiss wohlunterrichteten Priester verwarfen den Messias, in dem alles Heil des Volkes einbeschlossen war, mit dem alle Verheißungen zusammenhingen, auf den die ganze Religion begründet war. Sie sagen sich los von der Gnade Gottes und der ganzen Fülle seiner Wohltaten dadurch, dass sie Christum verschmähen. Welch ein entsetzlicher Wahnwitz war es doch, der sie dazu fortriss! Nehmen wir einmal an, Christus sei gar nicht der Messias gewesen, - auch dann hätten sie keine Entschuldigung: denn einen anderen König als den Kaiser in Rom erkennen sie nicht mehr an. Damit proklamieren sie den Abfall von der geistlichen Oberherrschaft Gottes. Ferner geben sie der römischen Gewaltherrschaft, die sie doch aufs äußerste verwünschten, den Vorzug vor dem gerechten Regiment, wie es ihnen in göttlichen Verheißungen zugesagt war. So verleugnen diese gottlosen Leute die Hoffnung des ewigen Lebens, nehmen auch das ganze Elend der Fremdherrschaft jetzt ohne Widerspruch auf sich, - nur um Christo zu entgehen. Dagegen ist es das einzige Glück der Frommen, sich in Christi Reich zu bergen, mögen sie dabei äußerlich unter einem gerechten und rechtmäßigen Regiment stehen oder unter drückender Tyrannei.

V. 16. Da überantwortete er ihn. Die unermessliche Rohheit der Juden zwang den Pilatus dazu, Jesum zu überantworten, doch geschah diese Hingabe nicht sozusagen im Aufruhr: Jesus wurde feierlich verurteilt, was man schon davon abnehmen kann, dass auch zwei Mörder nach geschehener Untersuchung gleichzeitig zum Kreuzestode verurteilt wurden. Johannes redet von einer Überantwortung oder Hingabe, weil er dadurch noch einmal betonen will: Jesus wurde nur der unversöhnlichen Volkswut ausgeliefert; eines Vergehens war er in keiner Weise überführt.

V. 17 u. 18. Und er trug sein Kreuz usw. Die hier vermerkten Einzelheiten dienen nicht bloß der Glaubwürdigkeit der Erzählung, sie haben auch einen hohen Wert für die Stärkung unseres Glaubens. Unsere Gerechtigkeit müssen wir suchen in der von Christo vollbrachten Versöhnung. Um es uns gewiss zu machen, dass er die Sühne für unsere Sünden sei, wollte er aus der Stadt herausgeführt und am Holze angehängt werden. Die Opfertiere, deren Blut um der Sünde willen vergossen wurde, pflegte man nach der Gesetzesvorschrift während der Wüstenwanderung vor das Lager hinaus zu bringen; und ebendort im Gesetz heißt es: Ein Gehenkter ist verflucht bei Gott (3. Mo. 6,23; 16,27; 5. Mo. 21,23). Beides wurde in Christo erfüllt, damit wir vollkommen davon überzeugt sein sollten, dass unsere Sünden durch seinen Opfertod gesühnt wurden. Er selber ward dem Fluch Gottes unterworfen, um uns von dem Fluchwort des Gesetzes zu erlösen (Gal. 3,13). Er ward für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt (2. Kor. 5,21). Er ward hinausgeführt vor die Tore der Stadt, damit er all unsere Unreinigkeit, die auf ihn geworfen war, an seiner Person aus dem Wege räume (Hebr. 13,12).

Denselben Zweck hat auch das von den beiden Mördern Erzählte. Als genügte die schreckliche Todesart nicht, wird Christus mitten zwischen zwei Schächer gehängt, als wäre er nicht bloß ein beliebiger Mensch aus der großen Schar der übrigen, sondern als wäre er gar der eigentliche Verbrecherkönig, der Verworfenste von allen. Immer ist dabei fest im Gedächtnis zu behalten, dass die gottlosen Henker unseres Heilandes nur tun durften, was von Gott selbst in seinem heiligen Rate beschlossen war. Gott gab seinen Sohn nicht ihrer Willkür preis, sondern er wollte nach seinem Entschluss und seines Herzens Meinung den Sohn hinnehmen als ein ihm geschlachtetes Opfer. Da Gott in allem, was er nach seinem Beschlusse seinen Sohn erleiden ließ, wohl wusste, was er tat, so können wir daraus einerseits die Wucht seines schrecklichen Zornes wider die Sünde, anderseits die Größe seiner unermesslichen Güte gegen uns trefflich ablesen. Anders ließ sich unsere Sünde nicht aus der Welt schaffen, als dadurch, dass der Sohn Gottes unsere Reinigung wurde. Wir sehen ihn, als wäre er mit Bergeslasten eigener Missetat belastet, hingetrieben zu der Stätte des Fluches, an der er sich vor Gott und Menschen als der Fluchbeladene darstellt. Wir müssten unglaublich abgestumpft sein, wenn wir in diesem Spiegel nicht deutlich sehen wollten, wie verhasst Gott alle Sünde ist; wir müssten härter sein, als es ein Fels in der Natur ist, wenn wir angesichts eines solchen Gottesgerichtes nicht aufs tiefste erschüttert würden. Und wenn Gott dann auf der anderen Seite bezeugt, dass unsere Errettung ihm so sehr am Herzen lag, dass er des eingeborenen Sohnes nicht verschonte, welch einen reichen Erguss seiner Güte und unbeschreiblich großen Gnade dürfen wir dann schauen! Wer die Ursache des Todes Christi und seine Folgen für uns recht erwägt, dem wird das Wort vom Kreuz nicht, wie den Griechen, eine Torheit, noch auch, wie den Juden, ein Ärgernis (1. Kor. 1,23), sondern vielmehr ein unschätzbarer Beweis und ein unvergleichlich köstliches Unterpfand der Macht, Weisheit, Gerechtigkeit und Güte Gottes werden. –

Der von Johannes erwähnte Name der Stätte Golgatha (d. h. Schädelstätte) stammt aus dem Chaldäischen oder Aramäischen. Er ist herzuleiten von einem Worte galgal, welches „rollen“ bedeutet, weil ein Schädel wie ein Ball oder eine Kugel gewölbt ist.

V. 19 u. 20. Pilatus schrieb eine Überschrift. Der Evangelist verzeichnet hier noch eine bemerkenswerte Handlung des Pilatus nach der Fällung des gerichtlichen Spruches. Wenn Übeltäter gestraft wurden, dann wurde gewöhnlich die Ursache der Bestrafung öffentlich angeschrieben; es sollte sich jeder, der diese Schrift las, ein Beispiel und eine Warnung daran nehmen. Das Außerordentliche bei der Überschrift am Kreuze Christi besteht darin, dass sie für Jesum nichts Schimpfliches enthielt. Um sich auf einem Schleichwege an den Juden dafür zu rächen, dass sie durch ihre Halsstarrigkeit ihm das Todesurteil über einen Unschuldigen abgepresst hatte, beabsichtigte Pilatus, in der Person Christi das ganze Judenvolk abzustrafen. So deutet er mit seinem Worte an, dass der Gekreuzigte um eigener Schuld willen verdammt worden sei. Die Vorsehung Gottes, die dem Pilatus den Griffel geführt hat, zielt freilich viel weiter. Dem Pilatus kam es nicht in den Sinn, Christum zu feiern als den Bringer des Heils, als den gottgesandten Nazarener und den wahren König des auserwählten Volkes, - aber Gott selbst hat solche Verkündigung der frohen Botschaft dem römischen Landpfleger, der ja nicht ahnte, wer sich seiner bediente, in die Feder diktiert. Ebenfalls unter geheimem Antrieb des Gottesgeistes geschah es, dass die Überschrift des Kreuzes Christi in drei verschiedenen Sprachen abgefasst wurde. Man kann nicht annehmen, dass das allgemein gebräuchlich war; es war dies ein Vorspiel für die nun bald anbrechende Zeit, da der Name des Gottessohnes in aller Welt bekannt werden sollte.

V. 21 u. 22. Da sprachen die Hohenpriester der Juden. Sie fühlen sich von Pilatus aus Hass verspottet. Deshalb begehren sie eine Abänderung der Überschrift des Kreuzes, wodurch ersichtlich würde, dass Christus allein die Schuld hätte, aber kein Flecken auf den Ruf des Volkes käme. Übrigens haben sie des kein Hehl, wie sehr ihnen die Wahrheit verhasst ist; auch nicht das kleinste Fünkchen Wahrheit können sie vertragen. So stachelt Satan immer seine Diener an, dass sie das kleinste Fünkchen göttlichen Lichtes, das sich nur irgendwo zeigt, alsbald mit aller Macht auslöschen oder wenigstens dämpfen. Dass Pilatus nicht nachgibt, ist der göttlichen Vorsehung zuzurechnen, denn ohne Zweifel haben die Hohenpriester auf alle Weise ihm beizukommen versucht. Sie werden ihn wohl auch mit Geld zu bestechen unternommen haben, - er wies alles ab. Gott hat durch den Mund dieses römischen Beamten bezeugt, dass das Reich seines Sohnes nimmermehr hinfallen wird. Wenn es schon bei dem, was Pilatus geschrieben hatte, sich zeigte, dass das Reich Christi unzerstörbar und aller Feindeslist überlegen sei, - wie wird es dann erst sein bei den Zeugnissen der Propheten, der Männer, deren Hand und Mund Gott sich geheiligt hat. Das Beispiel des Pilatus gemahnt uns an unsere Pflicht: Haltet tapfer stand, wo es gilt, für die Wahrheit einzutreten! Nicht einmal dieser Weltmensch nimmt zurück, was er wahrheitsgemäß, wenn auch ohne klare Einsicht, von Christo geschrieben hatte. Welch ein Schimpf würde es dann für uns sein, wenn wir, durch Drohungen oder Gefahren erschreckt, ängstlich von dem offenen Bekenntnis der Lehre abstehen wollten, welche Gott durch seinen Geist in unseren Herzen versiegelt hat.

V. 23 u. 24. Die Kriegsknechte aber usw. Die Teilung der Kleidungsstücke unter die Soldaten erwähnen auch die drei anderen Evangelisten. Vier Soldaten waren es, die diese Hinterlassenschaft Christi unter sich teilten. Da blieb noch ein Rock aus einem Stück übrig, den man nicht an Nähten auseinander trennen konnte. So warf man denn über ihn das Los. Um unsere Herzen darauf zu lenken, wie hier Schritt für Schritt der Ratschluss Gottes vollführt wurde, zeigen die Evangelisten, dass selbst hierbei ein Schriftwort seine Erfüllung fand. Anscheinend ist jedoch die angeführte Schriftstelle (Ps. 22,19) bei dieser Gelegenheit wenig passend herangezogen. David beklagt dort, dass er seinen Feinden zur Beute gefallen sei, und wenn er von seinen Kleidern redet, so geschieht das in übertragenem Sinne; er will sagen: sie haben mir alles genommen! Allerdings lassen die Evangelisten diesen ursprünglichen Sinn jenes Psalmwortes außeracht. Aber es gilt doch ernstlich zu bedenken, dass man diesen Psalm nicht auf Davids Person beschränken darf. Vieles in ihm, wie namentlich der Ausblick auf Gottes Ruhm unter den Heiden, trifft nur auf Christum zu. Ist aber der Psalm ein messianischer, so braucht man sich nicht darüber zu wundern, dass Davids Schicksale darin nur dunkel angedeutet sind, er dagegen, auf Christum angewendet, viel wörtlicher zu nehmen ist, - muss doch die Wahrheit selbst sehr viel deutlicher sein als ihr Vorbild. Wenn Christus ganz entkleidet wurde, so geschah es, damit wir mit dem Kleid seiner Gerechtigkeit angetan würden. Sein entblößter Leib würde den Schmähungen der Menschen ausgesetzt, damit wir herrlich prangen sollten vor Gottes Richterstuhl.

Man hat nicht übel folgenden Vergleich gezogen: Wie einst die Kleider Christi von rohen Kriegsknechten zerteilt wurden, so zerpflückten heutigen Tages mit unangebrachter Auslegung verdrehte Menschen die gesamte Bibel, die ja das Gewand ist, darin Christus sich uns zeigt. Jedenfalls ist dieser Vergleich sinnreicher, als die Behauptung der Römischen, dass die Verteilung der Kleider darauf deute, wie die Ketzer die Schrift zerreißen, während der ungenähte Rock die Kirche bedeute, die trotzdem unversehrt bleiben müsse.

V. 25. Es stand aber bei dem Kreuze Jesu seine Mutter. Hier erzählt der Evangelist beiläufig, dass der Gehorsam gegen seinen himmlischen Vater den Herrn Jesus nicht gehindert hat, auch der frommen Pflicht gegen seine Mutter zu gedenken. Er setzte alles hintan und vergaß sich selbst, um nur dem Vater den schuldigen Gehorsam zu erweisen; als er jedoch diesen geleistet hatte, gedachte er nun auch dessen, was er der leiblichen Mutter schuldete. Wir lernen hieraus, wie Gott und den Menschen Liebe und Ehrerbietung zu bezeugen ist. Es kommt oft vor, wenn uns Gott wohin ruft, dass die gleichzeitig die Eltern, das Weib, die Kinder uns anderswohin rufen. Dann können wir nicht allen zugleich den Willen tun. Stellen wir die Ansprüche der Menschen auf gleiche Höhe mit den Ansprüchen, die Gott an uns macht, so ist unser Urteil verwirrt. Gott Gebot geht allem voran, ihn sollen wir zuerst ehren und befriedigen. Ist das aber geschehen, so müssen, soweit das in unseren Kräften steht, auch die Menschen zu ihrem Rechte kommen. Die Gebote der ersten und zweiten Tafel widerstreiten einander nie, wie es bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht den Anschein haben kann. Stets aber ist anzufangen mit dem Dienste, der Gott gebührt, erst dann kommen die Menschen an die Reihe. Darauf beziehen sich Aussprüche wie (Mt. 10,37; Lk. 14,26): „Wer nicht hasset Vater und Mutter um meinetwillen, der ist meiner nicht wert.“ Haben wir jedoch Gott gegeben, was Gottes ist, dann ist es recht und am Platze, dass wir der Eltern, des Weibes und der Kinder auch gedenken, gleichwie Christus für seine Mutter sorgt, aber erst, da er am Kreuze hängt, wohin der Beschluss des himmlischen Vaters ihn gerufen hat. Übrigens, wenn wir alles einzelne, was Ort und Zeit betrifft, erwägen, in welcher ergreifenden Weise hat doch Christus der Mutter seine Kindesliebe dargetan! Ich unterlasse die Schilderung der furchtbaren Qualen, die sein armer Leib erduldete, unterlasse es auch, die Schmähreden gegen ihn wiederzugeben, - bedenken wir nur dies: als schreckliche Lästerungen gegen Gott die Seele unseres Heilandes namenlos traurig stimmten, als er den schrecklichen Kampf mit dem Teufel durchstritt, da hat er gleichwohl sich durch alles das nicht davon abhalten lassen, für seine geliebte Mutter zu sorgen. Man kann aus dieser Stelle erschließen, was für eine Ehre nach dem Gebote Gottes den Eltern erwiesen werden soll. Christus bestimmt seinen Jünger zu seinem Stellvertreter gegenüber der Mutter; künftig soll sie von Johannes ernährt und verpflegt werden. Daraus geht hervor, dass die den Eltern zu zollende Ehre nicht bloß in höflichen Formen besteht, sondern darin, dass in jeder Weise an den Eltern getan werden soll, was nötig ist. –

Wir haben weiter auf den Glauben der Frauen zu achten, die Jesu bis zum Kreuze gefolgt sind. Sie hatten ihn offenbar sehr lieb, sonst hätten sie Golgatha wahrlich nicht aufgesucht. Doch nicht die Liebe, sondern der Glaube gab ihnen Kraft, den Anblick zu ertragen, der sich ihren Augen bot. Was den Johannes selbst angeht, so müssen wir annehmen, dass sein Glaube sozusagen unter der Asche noch glimmte: er war für einige Zeit wie verschwunden, aber trotzdem nicht völlig erloschen. Vor den Frauen dort müssen wir uns schämen, wenn Kreuzesscheu uns in der Nachfolge Christi aufhält. Denn uns schwebt doch die Lichtgestalt des Auferstandenen zugleich vor dem geistigen Auge. Davon aber sahen diese Frauen nichts: sie bekamen damals nur Schmach und Schande zu sehen. Der Evangelist macht namhaft die Maria des Kleophas; er gibt nicht an, ob sie Weib oder Tochter des Kleophas war. Das letztere spricht mich mehr an. Er sagt, sie sein eine „Schwester“ der Mutter Jesu gewesen, womit er wohl nicht eine leibliche Schwester, sondern nur eine nahe Verwandte meint, wie ja in der hebräischen Sprache die Verwandten kurzweg Brüder genannt werden. Maria Magdalena ist, wie wir hier sehen, nicht vergeblich von sieben bösen Geistern befreit worden; sie hat sich als eine gläubige Jüngerin Christi bewährt bis zu seinem Tode.

V. 26. Weib, siehe, das ist dein Sohn! Jesus will damit sagen: Von nun ab werde ich nicht mehr auf Erden weilen, ich bin also außerstande, noch ferner meine Sohnespflicht an dir zu tun. Dieser hier soll künftig an meinen Platz einrücken und an dir tun, was ich bisher getan habe! In demselben Sinne sagt Jesus zu Johannes (V. 27): Siehe, das ist deine Mutter. Er gibt ihm damit den Auftrag, sie zu halten als seine eigene Mutter und genauso für sie zu sorgen, wie ein guter Sohn für seine Mutter sorgt. Wenn Jesus sagt: „Weib!“ und den Namen „Mutter“ in der Anrede umgeht, so meinen einige, er habe das getan, um ihrer Seele nicht eine noch mehr schmerzende Wunde zu schlagen. Ich stelle nicht in Abrede, dass diese Auslegung möglich ist. Eine andere Vermutung scheint mir jedoch nicht weniger annehmbar, nämlich: Christus hat mit dieser Form der Anrede andeuten wollen, dass er nach vollbrachtem menschlichen Lebenslauf seine bisherigen irdischen Lebensbedingungen ganz und gar von sich abtue und in sein himmlisches Reich eingehe, wo er über Engel und Menschen herrscht. Wir wissen ja, dass Christus es stets darauf abgesehen hat, die, welche an ihn glaubten, darauf hinzuweisen, dass sie nicht auf seine menschliche Niedrigkeit schauen sollten. Dieser Hinweis tat aber ganz besonders not bei seinem Sterben.

V. 27. Nahm sie der Jünger zu sich. Es ist ein Beweis der Hochachtung des Jüngers gegenüber dem Meister, dass Johannes dem Auftrag Christi willfährt. Daraus geht auch hervor, dass die Apostel Familien hatten. Johannes hätte die Mutter Jesu nicht gastlich aufnehmen können, wenn er keine Häuslichkeit und feste Hausordnung gehabt hätte. Die Annahme, die Apostel hätten all ihr Hab und Gut im Stiche gelassen und seien nackt und leer zu Christo gekommen, ist ganz unhaltbar; die Behauptung vollends, der Bettlerstand sei der Stand der Vollkommenheit, überbietet noch die Torheit eines Narren.

V. 28 u. 29. Da Jesus wusste usw. Absichtlich übergeht Johannes vieles, was die drei anderen Evangelisten schon berichtet haben, und wendet sich sofort zur Schilderung des besonders wichtigen Ausgangs.

Dass (V. 29) ein Gefäß voll Essigs bei der Kreuzigung aufgestellt war, entsprach der Gewohnheit: dieser Trank wird wohl gemischt worden sein, um, nachdem die Unglücklichen lange genug ihre Qual ausgestanden hatten, ihren Tod schneller herbeizuführen. Christus begehrt den Trank erst, als alles erfüllt war; dadurch hat er kundgetan, wie unermesslich er uns liebt und wie unbeschreiblich wichtig es ihm war, dass wir gerettet würden. Worte reichen nicht hin, genugsam zu sagen, wie herbe die Schmerzen waren, welche er ertrug, - dennoch begehrt er nicht danach, seine Leiden abzukürzen, bis dem Gericht Gottes genuggetan, und die Sühne bis auf den letzten Heller bezahlt war. Aber wie kommt der Evangelist dazu, zu sagen, es sei schon alles vollbracht gewesen, da die Hauptsache noch fehlte, nämlich der eigentliche Tod? Ferner: macht nicht erst die Auferstehung unsere Errettung zu einer vollständigen? Antwort: Johannes nimmt in Gedanken schon hinzu, was jetzt unmittelbar folgen sollte; Christus war zwar weder gestorben noch auferstanden, aber nun war die Bahn frei zum Sterben und Auferstehen. Durch sein Beispiel gibt er uns Unterricht im völligen Gehorsam: es darf uns nicht beschwerlich fallen, nach seinem Willen zu leben, wenn wir gleich in den bittersten Leiden schmachten müssten.

Dass die Schrift erfüllt würde. Aus den anderen Evangelien ist zu ersehen, dass Johannes an Ps. 69,22 denkt: „Und sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken in meinem großen Durst.“ Das ist eine bildliche Redeweise, vermittelst deren David andeutet, es sei ihm nicht nur die Hilfe, deren er bedurfte, versagt worden, sondern man habe auch seine Leiden in grausamer Weise verdoppelt. Wiederum ist in den Erlebnissen Davids das, was in denen unseres Heilandes greifbar zu Tage trat, nur schattenhaft angedeutet. Und das hat seinen guten Grund. Daraus ersehen wir umso besser, wie weit die Wirklichkeit alle Vorbilder übertrifft: was David nur figürlich, wenn man sich bildlicher Redeweise bedient, erduldet hat, das tritt in dem Leiden unseres Heilandes grob und handgreiflich hervor. Um zu zeigen, dass er der ist, dessen Schicksal sich schon im Voraus in Davids Leben abgespiegelt hat, willigte Jesus ein, den Essig zu trinken; unser Glaube sollte daraus Stärkung empfangen.

Wer dem Ausruf: Mich dürstet! einen allegorischen Sinn unterlegt, dem ist weniger an der Erbauung der Christen, als an Spitzfindigkeiten gelegen; der Evangelist schneidet eine derartige Auslegung dadurch ab, dass er sagt, Christus habe erst dann den Essigtrank erbeten, als er zum Sterben eilte. Wenn er berichtet, der Schwamm sei um einen Ysopstengel gelegt worden, so haben wir uns das so vorzustellen: in dem nächsten besten Busch wurde ein Stock abgebrochen und der Schwamm auf demselben befestigt, um Christo zum Munde geführt zu werden.

V. 30. Es ist vollbracht! Dies letzte Wort Jesu hatte der Evangelist (V. 28) schon im Voraus gebraucht, um uns besonders tief einzuprägen, dass im Tode des Erlösers ein völliges Heil für uns geborgen liegt. Dass übrigens der Tod nicht ohne die Auferstehung zu denken ist, haben wir schon betont. Wenn trotzdem Jesus jetzt schon sagt, dass alles vollbracht sei, so will er nur unseren Glauben an sich allein binden, damit wir nicht hier- und dahin abirren. Der Sinn seines Aufrufes ist also der: Was ihr Menschen zu eurer Errettung bedürft, habt ihr in mir; ihr dürft es nirgend anders suchen: ich biete euch ein völliges Heil! Es liegt in seinem Ausruf ein verborgener Gegensatz zu den Opfern und Vorbildern des alten Bundes: dem allen stellt Christus seinen Tod gegenüber. Er will sagen: Alle gesetzlich vorgeschriebenen Gebräuche hatten an und für sich zur Sühnung der Missetaten und Übertretungen, zur Besänftigung des Zornes Gottes und zur Erwerbung der Gerechtigkeit keinen Wert: jetzt erst bekommt die Welt das Heil zu sehen, damit sie es ergreife! Damit hängt die Abschaffung aller Bräuche des Gesetzes zusammen. Dem Schatten nachzulaufen, wo wir doch den Leib selbst, der diesen Schatten warf, in Christo haben, wäre grundverkehrt. Dürfen wir auf diesem Worte unseres Heilandes ausruhen, so sollen wir uns mit dem in seinem Tode erworbenen Heil zufrieden geben, welches gar keiner Ergänzungen bedarf. Damit fällt die Messe und alle selbsterwählten Werke des Papsttums: Christus hat mit einem Opfer in Ewigkeit die Seinen vollendet (Hebr. 10,14).

Und verschied. Sämtliche Evangelisten sagen ganz ausdrücklich, dass Jesus gestorben sei, und es ist gut so; denn daraus quillt für uns die Zuversicht: Sein Tod ist unser Leben! Daraus entspringt auch ein freudiges Rühmen gegenüber dem Tode. Der Sohn Gottes hat an unserer Statt den Tod erlitten und ist aus dem Kampf mit dem Tode als Sieger hervorgegangen. Wörtlich lautet der Satz des Evangelisten: „Jesus gab den Geist (d. h. seine unsterbliche Seele) hin“. Das soll uns lehren, dass alle Frommen, die in der Gemeinschaft mit Christo abscheiden, getrost ihren Geist in des Vaters Obhut hingeben dürfen. Er ist treu und lässt nicht verderben, was ihm anvertraut wird. Der Unterschied zwischen dem Tode von Gotteskindern und von Verworfenen besteht darin, dass die letzteren aufs Geratewohl die Seele aushauchen, die ersteren dagegen ihre Seele dem Schutze Gottes anbefehlen als ein aufzubewahrendes Kleinod, das er sorgfältig behüten wird bis zum Tage der Auferstehung.

V. 31 u. 32. Dieweil es der Rüsttag war. Auch diese Erzählung bezweckt Stärkung unseres Glaubens, zunächst, insofern sie zeigt, dass die Weissagung (Sach. 12,10) an der Person Christi in Erfüllung ging, ferner, weil sie ein Geheimnis von hoher Bedeutung in sich schließt. Der Evangelist sagt, die Juden hätten sich die Abnahme der Verurteilten vom Kreuz ausgebeten. Das war nun freilich im Gesetz geboten (5. Mo. 21,23); aber die Juden treiben es nach Art aller Heuchler: auf Nebendinge legen sie großen Wert, machen sich aber über die schlimmsten Freveltaten gar kein Gewissen. Den Sabbat wollen sie als religiöse Leute streng feiern: deshalb sind sie ängstlich, er möchte durch Hängenbleiben der Gerichteten befleckt werden. Wie schändlich es von ihnen war, einen Unschuldigen ums Leben zu bringen, erwägen sie dagegen nicht. So hörten wir vorher, wie sie sich aus Angst vor Befleckung in das Richthaut einzutreten scheuen, während doch das ganze Land von ihrer Gottlosigkeit befleckt war. Aber durch ihr jetziges Verfahren erreicht der Herr etwas, das für unsere Errettung von größter Bedeutung war, nämlich, dass wunderbarerweise der Leib Christi unversehrt blieb, und Blut und Wasser aus der Seitenwunde floss.

Desselbigen Sabbats Tag war groß. Gemeint ist der Tag, welcher nach jüdischer Gewohnheit um sechs Uhr abends begann. Er ist „groß“, weil auf diesen Tag zum gewöhnlichen Sabbat noch der erste Passahfeiertag fiel. So hegte man umso größere Scheu, die Leichname hängen zu lassen.

V. 33. Als sie aber zu Jesu kamen usw. Dass sie, nachdem den beiden Schächern die Beine zerbrochen waren, Christum tot finden und deswegen seinen Leib nicht anrühren, darin tritt ein ganz besonderes Wirken der Vorsehung Gottes zu Tage. Weltmenschen werden zwar sagen: das geht ganz natürlich zu, dass der eine früher stirbt als der andere. Wer jedoch den ganzen Zusammenhang der Geschichte erwägt, der wird gezwungen werden, es dem geheimen Ratschluss Gottes zuzuschreiben, dass ein über alles Erwarten schneller Tod es überflüssig machte, Christi Beine zu brechen.

V. 34 u. 35. Der Kriegsknechte einer öffnete seine Seite. Dass Jesu Seite von dem römischen Soldaten mit einem Lanzenstiche durchbohrt wurde, geschah, um den eingetretenen Tod festzustellen; Gott aber hat etwas weit Wichtigeres damit beabsichtigt, wie wir jetzt gleich sehen werden.

Alsbald ging Blut und Wasser heraus. Seltsamerweise haben einige das, was uns hier berichtet wird, für ein Wunder auszugeben versucht. Aber es ist ein natürlicher Vorgang. Sobald Blut gerinnt, verliert es seine Röte und wird ähnlich wie Wasser. Jene Ausleger haben sich dadurch irreführen lassen, dass der Evangelist auf seine Beobachtung so großes Gewicht legt; infolgedessen meinten sie, er wolle etwas Ungewöhnliches, sonst nie Geschehenes berichten. Er hatte jedoch eine andere Absicht dabei: er wollte nämlich einige Schriftworte in seiner Erzählung einflechten, die jetzt unmittelbar folgen. Vor allem aber sollten die Gläubigen aus dieser seiner Beobachtung entnehmen, was er an anderem Orte (1. Joh. 5,6) selbst ausdrücklich sagt, nämlich, dass Christus gekommen sei mit Wasser und Blut, womit er sagen will, dass er uns wirkliche Sühne und wirkliche Reinigung gebracht hat. Die Vergebung der Sünden und die Gerechtigkeit und Seelenreinheit wurden im Gesetz durch die beiden Sinnbilder des blutigen Opfers und der Abwaschung mit Wasser vorgebildet.

In den Opfern diente das Blut zur Sühnung der Sünden und als Preis, Gottes Zorn zu stillen. Die Reinigungen waren Sinnbilder der Seelenreinheit und Hilfsmittel zur Reinigung des Lebens und zur Austilgung fleischlichen Schmutzes. Damit aber in Zukunft unser Glaube sich nicht mehr auf diese elementaren Erziehungsmittel zu stützen brauche, bezeugt Johannes an der betreffenden Stelle seines Briefes, dass Christus die Wahrheit dessen gebracht habe, was jene alttestamentlichen Vorbilder nur andeuteten: hier aber berichtet er eine Tatsache, welche als Sinnbild dieser Wahrheit gelten soll. Dasselbe predigen die beiden von Christo der Kirche hinterlassenen Sakramente. Die Taufe stellt uns die Reinigung und Reinheit der Seele vor Augen, die in einem neuen Leben besteht; das Abendmahl aber ist ein Unterpfand der vollzogenen Sühne. Im Unterschiede von den Schattenbildern des alten Gesetzesbundes, die nur von Ferne auf den Messias deuten konnten, bieten uns aber unsere Sakramente den gegenwärtigen Christus an. Darum sagt Augustinus gar nicht übel, dass unsere Sakramente aus der Seite Christi geflossen seien: denn tatsächlich werden wir erst dann von unserem Sündenschmutz gereinigt und zu einem heiligen Leben erneuert, tatsächlich sind wir erst dann vom Tode erlöst, von der Schuld befreit, und leben vor Gott, wenn Taufe und Abendmahl uns an die durchstochene Seite Jesu hinführen, damit wir am Kreuze gleich als einem Quell im Glauben schöpfen, was sie darstellen.

V. 36. Ihr sollt ihm kein Bein zerbrechen. Dies Zeugnis ist den mosaischen Bestimmungen über das Passahlamm entnommen (2. Mo. 12,46; 4. Mo. 9,12). Johannes setzt dabei als zugestanden voraus, dass das Osterlamm das Sinnbild des wahren und einigen Opfers gewesen ist, durch das die Welt erlöst werden sollte. Dem steht nicht entgegen, dass es zum Gedächtnis einer bereits geschehenen Erlösung geopfert wurde. Gott wollte jene dem Volk angetane Wohltat so gefeiert haben, dass er eben dadurch der Kirche für die Zukunft eine geistliche Befreiung versprach. Deshalb überträgt auch Paulus ohne weiteres das, was von dem Osterlamm im mosaischen Gesetzbuche geschrieben steht, auf Christus. Aus diesem Vergleich zieht der Glaube nicht wenig Gewinn: denn nun darf er das in Christo dargebotene Heil schon in sämtlichen Zeremonien des Gesetzes anschauen. Das beabsichtigt auch Johannes hier zu sagen: Christus ist in Wahrheit nicht nur das Unterpfand, sondern auch wirklich der vollgültige Preis für unsere Erlösung, denn in ihm ist erfüllt, was einst unter dem Bilde des Passahlammes dem Volke des alten Bundes vor Augen geführt wurde. Das ist zugleich eine Mahnung für die Juden, zu erkennen, dass Christus in allen Stücken erst die Sache selber bringt, während das Gesetz nur Bilder und Schatten zu geben vermochte.

V. 37. Sie werden sehen, in welchen sie gestochen haben. Diejenigen, welche diese prophetische Stelle buchstäblich auf Christum zu deuten suchen, müssen dabei recht zweifelhafte Auslegungskünsteleien anwenden. Der Evangelist hat eine ganz andere Absicht bei der Anführung dieses Spruches. Er will darauf hinweisen, dass Christus der Gott ist, der einst (Sach. 12, 10) geklagt hat, die Juden durchstächen ihm das Herz. Dort redet Gott wie ein Mensch, indem er erklärt, das Volk verwunde ihn mit seinen Freveltaten und zumal mit der hartnäckigen Missachtung seines Wortes genauso, wie wenn einem sterblichen Menschen durch einen Stich in die Brust die Todeswunde beigebracht werde, wie ja auch Jesus (Mt. 26,38) einmal sagt: „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod.“

Weil nun Jesus Gott ist, geoffenbart im Fleisch, so sagt Johannes, es sei offenkundig an seinem sichtbaren Leibe in Erfüllung gegangen, was vor langer Zeit schon einmal der erhabene Gott, so weit er eben zu leiden vermochte, von den Juden erduldet hatte. Doch ist das nicht so zu verstehen, als wäre Gott den Kränkungen durch sündige Menschen wehrlos preisgegeben. Vielmehr will der Evangelist durch diese Redeweise nur ausdrücken, welch eines Frevels sich gottlose Leute schuldig machen, wenn sie sich frech gegen den Himmel erheben. Was eines römischen Kriegers Hand ausführte, legt Johannes mit vollem Rechte den Juden zur Last, wie es auch in der Apostelgeschichte (2,36) von ihnen heißt, dass sie den Sohn Gottes gekreuzigt haben, wiewohl sie auf Golgatha mit keinem Finger an seinen Leib rührten.

Aber was für einen Sinn hat eigentlich die Verheißung Sacharjas? Verspricht Gott darin, dass die Juden sich bekehren und gerettet werden sollen, oder droht er ihnen, dass er zur Rache über sie kommen werde? Wenn ich den Spruch gründlich erwäge, so umfasst er, wenn ich recht sehe, beides: Gott wird dereinst aus dem elend zugrunde gehenden, verzweifelnden Volke einen Rest zur Anteilnahme am Heil erretten, den Verächtern aber durch schreckliche Rache zeigen, mit wem sie sich in ihrer Bosheit eingelassen haben. Wir wissen ja, dass man die Propheten genau so frech verspottet hat, als wenn sie sich etwas zusammenfantasiert hätten, ohne je einen Auftrag Gottes zum Predigen erhalten zu haben. Gott versichert also, dass er die Juden nicht straflos ausgehen lassen will; er wird seine Sache dereinst ihnen gegenüber vertreten.

V. 38 u. 39. Danach bat den Pilatus Joseph. Johannes berichtet nunmehr, von wem, an welchem Orte und mit welchen besonderen Ehren Christus beerdigt wurde. Er nennt zwei Männer, welche das Begräbnis verrichteten, Joseph und Nikodemus. Der erstere bat sich von Pilatus den Leichnam aus, der sonst der Willkür der Kriegsknechte verfallen wäre. Matthäus erzählt, er sei reich, Lukas, er sei ein Ratsherr gewesen (Mt. 27,57; Lk. 23,50). Nikodemus stand, wie wir früher (Joh. 3,1 ff.) sahen, bei den Seinen hoch in Rang und in Würde; dass auch er ein großes Vermögen besaß, lässt sich aus dem bedeutenden Aufwand erschließen, den er bei der zur Einbalsamierung Jesu verwendeten Salbe machte. Der Reichtum war es gewesen, der diese Männer bislang hinderte, Christum öffentlich als den Messias anzuerkennen. Er vermochte auch wohl in Zukunft wieder sie ebenso sehr zu hindern, sich offen zu Jesu Jüngern zu bekennen, was ja in hohem Maße Hass und Schande eintrug. Der Evangelist erwähnt ganz besonders bei Joseph, dass die Furcht ihn bisher zurückhielt; er hatte nicht den Mut, sich offen als einen Jünger Jesu zu bekennen. Bei Nikodemus wiederholt Johannes aus jenem früheren Abschnitt, dass er heimlich und bei Nacht zu Jesu gekommen sei.

Woher kommt ihnen nur plötzlich solche heldenmäßige Seelenstärke, dass sie, als alles für immer verloren scheint, so unerschrocken ans Licht hervortreten?

War es doch klar, dass sie durch diesen Schritt in offenen Konflikt mit ihren bisherigen Freunden kommen mussten, ja dass es mit ihrem Volke nur einen ewigen Krieg geben konnte. Jedenfalls kam es nur durch himmlischen Antrieb dazu, dass zwei hochangesehene Männer, die zu ängstlich gewesen waren, Jesu bei seinen Lebzeiten die gebührende Ehre zu erweisen, nun wie zu ganz neuen Menschen geworden sind und zu dem am Kreuzesholze Verschiedenen herbeieilen. Eigenhändig bringen sie ihre Spezereien herbei, um den Leichnam Christi in süße Düfte zu hüllen. Sie hätten das nie getan, wenn nicht der süße Duft seines unschuldigen Leidens und Sterbens sie herzu gelockt hätte. Daraus ist zu sehen, wie wahr Jesus einst sagte (12,24): „Es sei denn, dass das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt es allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viel Früchte.“

Dass sein Tod mehr Leben spendete, als sein Leben, davon haben wir hier einen leuchtenden Beweis. Ja, der liebliche Duft, welchen der Tod Christi in die Seelen jener beiden Menschen hineinhauchte, hatte solche Kraft, dass er mit Leichtigkeit alle Begehrungen des Fleisches auslöschte. Als die Liebe zum Geld und der Ehrgeiz in diesen Männern noch regierte, schmeckten sie von der Gnade Christi nichts; jetzt haben sie den Geschmack an der ganzen Welt verloren. Übrigens sollen wir wissen, dass ihr Beispiel uns vorschreibt, was wir Christo schuldig sind. Jene zwei haben, um einen Beweis ihres Glaubens zu geben, Christum, nachdem er vom Kreuze herabgenommen war, trotz ernstlicher Lebensgefahr, die ihnen drohte, dennoch als tapfere Männer ins Grab gebracht. Schimpfliche Trägheit ist es, deren man sich schämen muss, wenn wir unseren Heiland, der jetzt in himmlischer Herrlichkeit als König herrscht, um das Bekenntnis unseres Glaubens betrügen. Umso weniger ist auch die Gottlosigkeit derer zu entschuldigen, die in unseren Tagen mit treuloser Heuchelei Christum verleugnen und sich darauf berufen: Wir machen es wie Nikodemus. Ja, in einem Stück will ich diese Ähnlichkeit einräumen: so viel sie können, legen auch sie Christum ins Grab. Jetzt aber heißt es nicht, ihn beerdigen, - ist er doch aufgefahren zur Rechten des Vaters, um sich über Menschen und Engeln hoch erhaben sehen zu lassen. Jetzt soll jede Zunge seine Oberherrschaft preisen (Phil. 2,9.10).

Heimlich aus Furcht vor den Juden. Weil die Furcht hier der heiligen Standhaftigkeit gegenübergestellt wird, welche der Geist Gottes in dem Herzen Josephs gewirkt hat, so war sie offenbar eine sündliche. Nicht alle Furcht, vermöge deren die Gläubigen sich in acht nehmen vor Tyrannen und Feinden des Evangeliums, ist an und für sich Sünde. Solche ist nur da zu sehen, wo eine Schwäche des Glaubenslebens sich zeigt, also überall, wo das notwendige Bekenntnis des Glaubens infolge von Mangel an Mut nicht über die Lippen will. Man muss immer fragen: Was befiehlt der Herr, und wie weit dürfen wir uns im Einverständnis mit ihm vorwagen? Wer mitten im Lauf zaghaft innehält, der zeigt damit, dass es ihm am Glauben fehlt. Dafür aber gibt es keine Entschuldigung. Ein solcher hat sein Leben lieber als Gottes Gebot. Wenn der Evangelist hier dem Joseph die hohe Ehre des Jüngernamens zuerteilt, obgleich derselbe damals noch recht furchtsam war und nicht den Mut hatte, seinen Glauben auch vor der Welt zu bezeugen, so erkennen wir daran, wie glimpflich der Herr mit den Seinen verfährt und wie väterlich er ihnen ihre Sünden vergibt. Freilich darf dies niemandem zum Vorwand dienen, weiter in seiner Bekenntnisscheu zu verharren: damit würden wir uns selbst betrügen.

V. 40. Wie die Juden pflegen zu begraben. Nachdem Christus am Kreuze mit aller erdenklichen Schmach bedeckt worden war, erhielt er nach Gottes heiligem Willen ein ehrenvolles Begräbnis; es sollte ein Vorspiel für seine herrliche Auferstehung sein. Nikodemus und Joseph machen keinen unbedeutenden, vielleicht sogar einen übertrieben scheinenden Aufwand. Man beachte jedoch den Ratschluss Gottes! Er trieb die beiden durch seinen Geist an, seinem Sohn diese Ehre zu erweisen. Gott wollte die Schrecken des Kreuzes Christi uns verscheuchen durch die lieblichen Düfte seines Grabes. Übrigens ist es unangebracht, aus solchen ausnahmsweise zugelassenen reichen Gaben irgendwie eine Regel für die Gegenwart zu entnehmen. Der Evangelist hebt ja ausdrücklich hervor, dass Jesus nach jüdischer Sitte beerdigt worden sei; damit will er sagen, dass man mit diesem Begräbnis eine Vorschrift des Zeremonialgesetzes befolgt habe. Es war notwendig, dass das alte Bundesvolk, dem die Auferstehung nicht ganz deutlich bezeugt war, - sie hatten ja Christum noch nicht, das Beispiel und Unterpfand der Auferstehung, - an solchen Zeremonialvorschriften eine Stütze fand, um standhaft im Glauben das Kommen des Mittlers erwarten zu können. Man muss den Unterschied nicht aus dem Auge lassen, welcher zwischen uns, die wir das helle Licht des Evangeliums besitzen, und zwischen den Vätern besteht, für welche die Lücke, in der eben Christus fehlte, nur durch Sinnbilder ausgefüllt war. Das ist der Grund, dass damals ein so erheblicher Aufwand und Pomp im Gottesdienst erträglich war; heute würde er unerträglich, ja sündlich sein.

Wer heute so viel Geld für die Bestattung der Verstorbenen anwendet, der begräbt nicht sowohl Menschenleichen, als vielmehr Christum selbst; denn so viel an ihm ist, zieht er ihn, den König des Lebens, von seinem Himmelsthron herab ins Grab: Christus hat ja durch seine Auferstehung alle jene Zeremonien abgeschafft. Auch die Heiden verwenden großen Fleiß auf ihre Beerdigungen und umgeben sie mit allerhand feierlichen Gebräuchen. Wir haben heutigen Tages die Pflicht, in dieser Beziehung Sparsamkeit und Zurückhaltung zu beachten; denn maßloser Aufwand am Grabe trägt nur dazu bei, das, was wirklich dem Tode seine Schrecken nimmt, nämlich die Auferstehung Christi, zu verbergen.

V. 41 u. 42. Es war aber an der Stätte usw. Den Ort erwähnt der Evangelist aus mehreren Gründen. Zunächst geschah es nicht von ungefähr und ohne bestimmte Fügung Gottes, dass der Leichnam Christi in einem neuen Grabe geborgen wurde. Auch Jesus musste, wie es jetzt allgemeines Menschenlos ist, des Todes sterben: aber er sollte der Erstgeborene aus den Toden werden, eine Erstlingsgarbe der Auferstehung; deshalb erhielt er ein neues Grab. Die Absicht des Nikodemus und Joseph war freilich eine andere: es war nur noch ganz kurze Zeit bis Sonnenuntergang, dann begann der Sabbat, - so wählten sie denn den Ort um seiner bequemen Lage willen. Gott hat über ihre Köpfe hinweg gehandelt. Er war es, der seinem Sohne ein unbenutztes Grab erwählte. Diesen frommen Leuten ist es wichtig, dass der Sabbat nicht verletzt wird, deshalb liegt ihnen das Grab bequem zur Hand; Gott bedient sich ihrer, um schon durch die bisherige Reinheit dieses Grabes sinnbildlich anzudeuten, dass es hier nicht nach der gewohnten Ordnung hergehen wird. Die Ortsumstände trugen auch dazu bei, dass die Auferstehung umso herrlicher verlief, auch tragen sie dazu bei, die im folgenden Kapitel erzählte Geschichte verständlicher zu machen.

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