Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 6.
V. 1. Des Jahrs, da der König Usia starb usw. Mit diesem Beginn des sechsten Kapitels lassen manche das Buch des Propheten überhaupt anheben und behaupten, dass die Weissagungen in falscher Ordnung zusammengestellt seien. Als Grund geben sie an, dass der Prophet sich weigert, das Lehramt zu übernehmen, was er doch nicht gekonnt hätte, wenn er schon vorher es ausgeübt hätte. Er erscheine hier als ein Neuling, dem bis dahin von seiner Berufung noch nichts bekannt war. Zudem erkläre er, dass er erst jetzt, also nicht schon früher, den Herrn gesehen habe. Doch kann ich diese Gründe nicht gelten lassen. Es ist doch nichts Unerhörtes, dass Jesaja durch die ungewohnte Schauung derartig erschüttert wurde, dass er seines früheren Prophetenamtes vergaß. Alle seine Sinne waren vor der Gegenwart Gottes erstarrt, sodass er wie geistesabwesend sich am liebsten in Finsternis geborgen hätte; ja er verzweifelte schon an seinem Leben und erwartete seinen Tod. In dieser Weise müssen die Frommen erschüttert werden, wenn der Herr Zeichen seiner Gegenwart gibt. Sie werden aus ihrem ruhigen Stande gestoßen und kommen ganz außer sich. Zudem stand Gottes Knecht als Repräsentant des ganzen widerspenstigen Volkes da, welches Gott durch einen Schrecken erschüttern wollte. So dürfen wir uns nicht wundern, dass er unter dem Zeichen des Schreckens ausweichen will. Bisher hatte er die drückende Last seines Amtes nicht so empfunden, wie jetzt, da ihm Gottes Majestät handgreiflich offenbart wurde. Aber warum ward ihm solche Schauung zu Anfang nicht zuteil? Es war erforderlich, dass er je nach Lage der Zeitumstände mehr und mehr in der Ausübung seines Amts befestigt wurde. Ein Beispiel dafür haben wir auch an den Aposteln. Bei ihrer ersten Aussendung sollten sie die Grenzen Judäas nicht überschreiten. Nachdem aber Christus auferstanden war, hat er sie in neuer und feierlicher Weise in ihr Amt eingesetzt und hat sie angeblasen als Hinweis darauf, dass sie den heiligen Geist empfangen sollten; endlich hat er den Geist vom Himmel gesendet und hat sie unter dem Bilde der feurigen Zungen mit ungewohnter Kraft angetan. So musste auch Jesaja im Wechsel der Zeiten und der Könige gestärkt und mit einer neuen Vision von neuem als Prophet anerkannt werden. Dadurch wurde er selbst zur Standhaftigkeit ermutigt und konnte mit größerer Kraft und Frische seinen Weg fortsetzen, und bei den Juden wurde sein Dienst durch göttliche Autorität besiegelt. Diese Gründe machen es mir begreiflich, dass ihm diese Schauung nicht im Anfang geboten wurde, sondern nachdem er schon geraume Zeit das Lehramt ausgeübt hatte. Damit stimmt auch die Überschrift des ersten Kapitels, die doch wahrscheinlich besagt, dass der Prophet schon unter dem König Usia längere Zeit wirkte, während der Sinn an unserer Stelle zu sein schein, dass ihm die Schauung zuteil ward, als Usia gestorben war und Jotham in Begriff stand, seine Nachfolge anzutreten. Wir wissen ja, wie mannigfache Veränderungen der Wechsel des Regiments mit sich bringt, sodass es nicht auffallen kann, wenn Jesajas Berufung von neuem bestätigt wird. Auch zeigt das nun folgende Stück der Weissagung, dass der Prophet schon einige Zeit gepredigt hatte, bevor er den Herrn sah. Denn es ist von der Verstockung des Volks die Rede: Jesaja hatte dessen Widerspenstigkeit erfahren und konnte leicht von seinem Werk abstehen, da er sah, dass er nichts ausrichtete. Darum stärkt ihn Gott durch diese Schauung, dass er trotz allem den anbefohlenen Dienst fruchtlos durchführe und fortsetze.
Ich sah den Herrn sitzen usw. Man fragt, wie Jesaja Gott sehen konnte, der ein Geist ist und darum für körperliche Augen unsichtbar. Wenn schon die menschlichen Gedanken Gottes unermessliche Höhe nicht zu erreichen vermögen, wie soll man ihn unter sichtbarer Form begreifen? Wir haben uns aber zu merken, dass Gott, so oft er sich den Vätern zu schauen gab, niemals erschien wie er ist, sondern wie er von menschlichen Sinnen erfasst werden konnte. Die Menschen kriechen am Boden, oder reichen wenigstens bei weitem nicht an den Himmel: so ist es verständlich, dass Gott sich zu ihnen herablässt, um, wie in einem Spiegel, die Strahlen seiner Majestät schauen zu lassen. So wurde dem Jesaja eine Gestalt gezeigt, an welcher er nach seinem Verständnis einen Eindruck von Gottes unermesslicher Majestät gewinnen konnte. Darum schreibt er dem Herrn auch einen Thron, ein Gewand, überhaupt eine körperliche Erscheinung zu. Wir entnehmen daraus die nützliche Lehre, dass Gott uns ganz gewiss gegenwärtig ist, so oft er irgendein Zeichen seiner Gegenwart gibt: denn er täuscht uns nicht mit leeren Bildern, wie Menschen ihn mit gottlosen Gebilden verkehrt darstellen. Weil das Bild, das der Prophet sah, ein untrügerisches Zeichen der Gegenwart Gottes war, kann er versichern, ihn selbst gesehen zu haben. So heißt es auch, dass Johannes den heiligen Geist in der Gestalt einer Taube sah, und es wird der Name des Geistes auf diese seine bildliche Darstellung übertragen, weil es sich eben in derselben nicht um Trug, sondern um Wahrheit handelte. Dennoch sah Johannes nicht das Wesen des Geistes, sondern empfing nur ein gewisses und klares Zeugnis, welches ihn versicherte, dass der Geist Gottes auf Christum sich niederließ. Des Weiteren erhebt sich die Frage, wer jener „Herr“ war, den Jesaja schaute. Johannes (12, 41) lehrt, es sei Christus gewesen. Mit Recht: denn Gott hat sich den Vätern niemals anders geoffenbart, als in seinem ewigen Wort und eingebornen Sohn. Indessen wäre es verkehrt, die Aussage auf Christi Person zu beschränken: der Prophet spricht ganz im Allgemeinen von Gott dem Herrn. Dennoch kann man recht wohl sagen, Jesaja habe Christi Herrlichkeit gesehen, der ja schon damals das Abbild des unsichtbaren Gottes war.
Auf einem hohen und erhabenen Stuhl. Besser denn als Richter konnte Gott unter den gegenwärtigen Umständen gar nicht beschrieben werden: so sollte seine Majestät die Juden aus dem Schlaf aufwecken. Denn es wird uns alsbald das überaus schwere Gericht vorgestellt werden, welches Gott von seinem Stuhle aus übt. Wir sollen aber nicht meinen, dass der Prophet sich selbst ausgedacht habe, wie er den Herrn darstellen sollte: vielmehr hat er treulich die Gestalt beschrieben, die ihm dargeboten und gezeigt wurde. Zweifeln kann man, ob der Prophet in den Tempel geführt wurde, oder ob ihm im Traum die Schauung gezeigt ward. Es lässt sich für jede Möglichkeit mancherlei sagen. Denkbar bleibt aber immer, dass auch außerhalb des Tempels dem Propheten, wie dies auch sonst geschah, in seinem Hause oder auf dem Felde solche Vision zuteil wurde.
Sein Saum füllte den Tempel. Dabei denkt man allgemein an den Saum des Gewandes. Man könnte aber auch an den äußersten Saum der Gerichtstribüne denken, welche sich bis in die äußersten Ecken des Tempels erstreckt hätte. In jedem Fall will der Prophet dem Herrn eine überwältigende Erscheinung zuschreiben, die über alle Menschengestalt hinausgeht. Von besonderem Gewicht ist auch, dass Gottes Erscheinung im Tempel stattfindet, wo er versprochen hatte, sich dem Volk zu offenbaren, und wo das Volk seine Antworten erwartete. So hatte es ja Salomo bei Einweihung des Tempels deutlich ausgesprochen (1. Kön. 8, 23 ff.). Damit also das Volk erkenne, dass die Worte des Propheten von dem Gott kamen, den es täglich anrief, wobei es sich in hohlem Vertrauen hoch erhob, erschien die Darstellung Gottes im Tempel. Es musste zur Vergewisserung zudem nicht wenig beitragen, dass öffentlich bezeugt ward, wie ihnen nicht die Rede irgendeines sterblichen Menschen vorgehalten wurde, sondern eine himmlische Offenbarung. Diese Rede kam von dem Gott, dessen Namen sie hochmütig vorzuwenden pflegten, wenn sie irgendetwas Besonderes sich anmaßen wollten. Ohne diese starke Bekräftigung hätte die Weissagung hart und verhasst erscheinen müssen. Überhaupt begegnen wir dem Ausdruck bei den Propheten häufig, dass Gott aus seinem Tempel oder seinem Heiligtum geredet habe.
V. 2. Seraphim standen über ihm. Nachdem der Prophet bezeugt hat, dass Gott ihm in voller Majestät und Herrlichkeit erschienen ist, fügt er hinzu, dass Engel bei ihm bestanden waren. Er nennt sie wegen der ihnen innewohnenden Glut „Seraphim“. Denn auf etwas Derartiges deutet die Ableitung des Wortes, mag nun gemeint sein, dass sie in der Liebe zu Gott glühen, oder dass sie schnell sind wie Feuer, oder dass sie in hellem Glanz erstrahlen. In jedem Falle zeigt uns diese Darstellung den Glanz der unermesslichen Majestät Gottes gleichsam in ihren Strahlen: in ihnen sollen wir die wunderbare und erschreckende Herrlichkeit erkennen und verehren lernen. Viele nehmen an, dass zwei Seraphim bei Gott standen, wie zwei Cherubim die Bundeslade überschatteten. Das will ich mir gern gefallen lassen, wage jedoch nichts Bestimmtes zu behaupten, da die Schrift keine weitere Angabe macht. Allerdings schließt sich gewöhnlich die Beschreibung Gottes an die den Frommen geläufigen Symbole an, - anderseits hat aber Daniel (7, 10) nicht bloß zwei, sondern zehntausend mal zehntausend Engel gesehen.
Ein jeglicher hatte sechs Flügel. Diese Darstellung hat ihren guten Grund: in dieser eigenartigen Anordnung der Flügel wird uns ein göttliches Geheimnis kundgetan. Die zwei Flügel, mit welchen die Engel flogen, bedeuten nichts anderes, als ihre Schnelligkeit und Bereitschaft, Gottes Befehle auszuführen. Dies ist ohne weiteres deutlich. Dass sie mit zwei anderen Flügeln ihr Angesicht bedecken, deutet darauf hin, dass nicht einmal die Engel den strahlenden Glanz Gottes ertragen können, sondern von seinem Anblick so geblendet werden, wie wir, wenn wir in die leuchtende Sonne schauen wollen. Wenn nun die Engel Gottes Majestät nicht ertragen können, was für eine Kühnheit ist es dann, wenn Menschen zu ihr durchbrechen wollen! Wir wollen hier lernen, dass man über Gottes Wesen nur solche Fragen stellen soll, die sich geziemen und Nutzen bringen: unsere Erkenntnis soll nüchtern und bescheiden sein und nur tastend sich nach dem ausstrecken, was unserem vollen Verständnis verborgen bleibt. Doch bedeckten die Engel ihr Angesicht nicht derartig, dass sie Gott gar nicht mehr zu sehen vermochten: dann hätten sie ja unsicher umherflattern müssen. So sollen auch wir allerdings Gott anschauen, aber nur soweit wir es nach den Kräften unseres Geistes vermögen. Schwieriger ist die Deutung der beiden unteren Flügel. Manche meinen, die Füße der Engel seien bedeckt gewesen, damit sie nicht die Erde berührten, womit sie sich hätten beschmutzen müssen, wie dies bei uns Menschen zu geschehen pflegt. Denn wie wir bei einer Fußwanderung nicht ohne Schmutz und Staub davonkommen, so werden wir überhaupt durch unseren Wandel auf Erden immer irgendwie angesteckt. So empfangen die Gläubigen einen Fingerzeig, dass sie keine Gemeinschaft mit den Engeln haben können, wenn sie sich nicht empor schwingen und von der Erde lösen. Besser gefällt mir doch noch eine andere Deutung, welche den unteren Flügeln einen den oberen entsprechenden und doch gegensätzlichen Zweck zuschreibt. Wie die Engel mit den oberen Flügeln ihr Angesicht bedecken, um nicht von Gottes Glanz geblendet zu werden, so haben sie auch unten ein Flügelpaar, mit welchem sie sich gegen unseren Anblick decken. Ist es nun so, dass wir schon durch die abgeschwächten Strahlen des göttlichen Glanzes geblendet werden, der in den Engeln sich offenbart, wie sollten wir dann Gottes Majestät in ihrem vollen leuchtenden Glanze anschauen können, der alle unsere Sinne übertäubt? Mögen also die Menschen, die nicht einmal bis zu den Engeln vordringen können, lernen, dass sie von der vollen Erkenntnis Gottes sehr weit entfernt sind.
V. 3. Und einer rief zum andern usw. Dies alles musste dem Propheten in der Vision gezeigt werden, damit sowohl das Volk, als auch er selbst, einen desto tieferen Eindruck empfange. Dessen bedurfte er nicht minder, als das ganze Volk, da ihm harte und schwere Kämpfe bevorstanden. Und er hätte seine Botschaft nicht ohne Furcht vorbringen können, hätte er nicht zuvor eine Bekräftigung empfangen. Das Volk wurde durch diese Schauung des dreimal heiligen Gottes erinnert, wie schrecklich die Majestät des Herrn ist, dessen Drohung ihm darnach vorgetragen wurde: so musste es mit gutem Grund erschrecken. Trat doch der Gott in die Mitte, vor dessen Anblick selbst Engel sich scheuen, dessen Lob sie unablässig mit vollem Munde rühmen und dem sie Gehorsam und Folgsamkeit beweisen. Dagegen erhoben sich Menschen, die er gewürdigt hatte, als seine Kinder anzunehmen, in frechem Aufruhr wider ihn. Übrigens wollen wir uns einprägen, dass es uns zum Vorbild beschrieben wird, wie die Engel sich im Ruhm der göttlichen Herrlichkeit üben. Ist es doch die allerheiligste Pflicht, die wir ihm leisten können, dass wir uns der Verherrlichung seines Namens widmen: dies verbindet uns mit den Engeln und macht uns, während wir noch auf Erden wandeln, den Bewohnern des Himmels ähnlich. Soll aber ein wahrer und völliger Zusammenklang zwischen uns und den Engeln zustande kommen, so müssen wir uns bemühen, dass Gottes Lob nicht bloß von unseren Lippen erklinge, sondern auch die gesamte Betätigung unsers Lebens damit zusammenstimme. Das werden wir aber nur dann erreichen, wenn wir in allen unsern Taten vornehmlich auf Gottes Ehre schauen.
Die Alten haben sich auf das „Heilig, heilig, heilig“, berufen, um zu beweisen, dass in dem einen göttlichen Wesen drei Personen sind. Obgleich ich ihrer Ansicht nicht widerspreche, meine ich doch, man sollte deutlichere Schriftstellen dafür gebrauchen, damit wir uns nicht mit solchen Beweisen für ein Hauptstück unseres Glaubens vor den Ketzern lächerlich machen. Die Wiederholung des Worts deutet vielmehr auf den unermüdlichen Eifer der Engel, deren Lobgesang zu Gottes Ehre nicht aufhören will; wie uns denn Gottes Heiligkeit unerschöpflichen Stoff zur Anbetung gibt.
Alle Lande sind seiner Ehre voll. Buchstäblich wäre zu übersetzen: „Was die ganze Erde anfüllt, ist seine Ehre.“ Man könnte diese Aussage auf Früchte, Tiere und den mannigfachen Reichtum beziehen, mit welchem Gott die Erde überschüttet hat. So ergäbe sich der Sinn: in dem Schmuck der Erde und ihrer reichen Ausstattung erstrahlt Gottes Herrlichkeit, weil uns jedes einzelne Stück zu einem Zeugnis seiner väterlichen Liebe wird. Einfacher und genauer ist doch die Deutung, dass Gottes Herrlichkeit den ganzen Erdkreis anfüllt oder über alle Teile der Erde ausgegossen ist. Darin steckt, wie mir scheint, ein verborgener Tadel des törichten Selbstruhms der Juden, die alle Herrlichkeit Gottes nur bei ihnen selbst finden wollten und sie im Tempel eingeschlossen dachten. Jesaja zeigt dem gegenüber, dass sie in so engen Grenzen nicht beschlossen ist, sondern die ganze Erde erfüllt. Dies stimmt mit der nachfolgenden Weissagung von der Verstockung der Juden zusammen. Öffnete doch diese den Heiden den Zutritt in die Gemeinde Gottes und ließ sie an den leeren und verwaisten Platz der Juden treten.
V. 4. Die Überschwellen bebeten. Die Gewalt, die sich in der Stimme der Engel offenbart, zeigt, dass der Prophet mehr als menschliche Laute vernommen hatte. Vermag doch kein Sterblicher durch seine Stimme Überschwellen und Pfosten erbeben zu machen. Der Herr will seinem Wort nicht bloß dem Propheten gegenüber Gewicht verschaffen, sondern es auch für die künftigen Jahrhunderte bekräftigen, damit es niemals dahinfalle. Auch wir sollen also zittern, so oft der Herr redet. Denn wenn schon seelenlose und stumme Kreaturen bewegt werden, - was sollen wir dann tun, die wir doch nur dazu empfinden, riechen, schmecken und denken, damit wir heilig und ehrfürchtig seinem Worte gehorchen?
Das Haus ward voll Rauchs. Dies war ein gewöhnliches Zeichen, dessen sich der Herr gegenüber dem Volk des alten Bundes zu bedienen pflegte. So oft Mose die Stiftshütte betrat, breitete sich eine Rauchwolke aus, sodass das Volk weder ihn noch die Hütte sehen konnte. Der Rauch, wie ihn Jesaja hier beschreibt, war also keine ungewohnte Erscheinung, sondern Gott wollte in bekannter Weise bezeugen, dass er jetzt seine Macht offenbare, um sein Volk zu richten. Man kann aber fragen, warum er sich zur Anzeige seiner Gegenwart gerade dieses Symbols und keines anderen bedienen wollte. Es lässt sich dafür ein doppelter Grund angeben. Erstlich wollte der Herr zu allen Zeiten die Kühnheit der Menschen dämpfen, damit sie in sein majestätisches Wesen nicht vorwitziger eindringen möchten, als sich geziemt. Denn in diesem Stück sind fast alle gar zu kühn und zudringlich. Man will über die Wolken empor steigen und in Gottes Geheimnisse eindringen, während man doch nicht einmal sieht, was vor den Füßen liegt. Daher stammt das Gewirr von Irrtümern: und nachdem der Menschengeist sich darin verfangen hatte, schlossen sich eitle und erdichtete Formen der Gottesverehrung an. Die Menschen erlauben sich, alle möglichen Einfälle über Gott aufzubringen, und wagen alles wider ihn zu versuchen. Darum hüllt sich der Herr mit gutem Grunde in die Rauchwolke, um die Menschen an ihre Schwachheit zu erinnern. Immerhin wollte er sie nicht blind und stumpfsinnig lassen und in der Unwissenheit befangen, welche die Papisten unter dem Namen der Einfalt verstecken: aber er hindert uns, mehr zu fragen und zu forschen, als er in seinem Wort uns geoffenbart hat. So kommen wir, mit Augustin zu reden, zu einer gelehrten Unwissenheit. So oft also an diese Rauchwolke erinnert wird, wollen wir bedenken, dass unsrer gar zu vorwitzigen Erforschung der göttlichen Ratschlüsse ein Zügel angelegt werden soll. Übrigens soll die Rauchwolke uns auch Schrecken einjagen, wie David, wenn er den Herrn in seinem schrecklichen Zorn schildert, ausspricht (Ps. 97, 2): „Wolken und Dunkel ist um ihn her.“ Dies stimmt auch trefflich für unsere Stelle, die ein schreckliches Gericht, nämlich die Verstockung der Juden, ankündigt.
V. 5. Weh mir, ich vergehe! Jetzt berichtet der Prophet, welch tiefen Eindruck ihm die Vision gemacht hat: er wurde durch den Anblick des Herrn derartig erschreckt, dass er meinte, sein Ende stünde bevor. Er gibt auch den Grund an, weshalb er sich als verloren betrachtet: denn ich bin unreiner Lippen. Wir dürfen uns nicht wundern, dass der Prophet in seinem Schrecken fast einem Toten gleicht. Denn der ganze Mensch muss nach dem Fleische zunichte gemacht werden, damit wer nach Gott erneuert werde. Denn dass die Menschen „leben“, oder zu leben glauben und sich in hohlem Vertrauen auf ihre Weisheit und Macht aufblähen, kommt doch nur daher, dass sie Gott nicht kennen. Ehe er sich offenbart, bedenken wir nicht, dass wir Menschen sind; ja wir glauben beinahe, Götter zu sein. Sobald aber der Herr erscheint, beginnen wir zu fühlen und zu empfinden, wie wir sind. Daraus erwächst dann wahre Demut, die darin besteht, dass der Mensch sich nichts weiter anmaßt, sondern sich völlig von Gott abhängig macht. Unter diesem Gesichtspunkt wollen wir diese und ähnliche Stellen uns fleißig einprägen. So oft die frommen Väter den Herrn sahen, pflegten sie in Worte wie die auszubrechen: Ich komme um und vergehe! Denn bevor unsre Gedanken sich ernstlich zu Gott nahen, ist unser Leben ein hohles Gebilde: wir wandeln in Finsternis, in welcher es schwer ist, Wahres und Falsches zu unterscheiden. Sobald wir aber ins Licht treten, fällt der Unterschied ins Auge. Wenn uns nun Gott naht, bringt er Licht mit sich: so erkennen wir unser hohles Wesen, das wir zuvor im Nebel der Täuschung nicht durchschauen konnten.
Denn ich habe den Herrn gesehen. Bringt wirklich das Schauen Gottes den Menschen den Tod? Es scheint doch ungereimt, dass der Anblick und die Nähe Gottes, der Quell und Urheber des Lebens ist, uns das Leben nehmen soll. Doch geschieht dies nur durch eine Nebenwirkung, wegen unserer Sünde, nicht durch Gottes Wesen. Denn der Tod ist in uns: wir sehen ihn aber nicht, als wenn er mit Gottes Leben verglichen wird. Eben dies meint auch ohne Zweifel der Prophet. Denn er sagt nicht einfach, dass er vergehe, sondern gibt als Grund dafür an, dass er unreiner Lippen ist. Aber warum redet er gerade bloß von unreinen Lippen? War er etwa an anderen Teilen des Körpers oder an seiner Seele rein? Der Prophet hebt eben das heraus, was bei ihm das Wichtigste war: seine Zunge sollte dem Gott geweiht sein, dem er als Prophet diente. Auch wenn er im Übrigen ein Sünder war, konnte er doch wegen seines heiligen Amtes in diesem Stück als heilig gelten. Weil er aber vor Gottes Heiligkeit sich durchaus unwürdig fühlte, bekennt er sich gerade auch an dem Teile befleckt, der noch sein heiligster war.
Und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen. Dies wird erläuternd hinzugefügt. Der Prophet beschreibt sich als ein Glied des Volkskörpers, welches von der Befleckung des ganzen Leibes mit angesteckt ist. Und weil er vor dem Herrn nicht bestehen kann, vergisst er auch der Reinheit, die er von ihm bereits empfangen hatte. Denn Gott ist Richter, und wir fühlen, dass ihm nichts verborgen und unbekannt ist; vor seinem Anblick ist auch unsre Reinheit unrein. Wenn dies schon der Prophet empfinden muss, was sollen wir dann von uns denken? Sind wir etwa mehr, als er? Auch wenn der Herr begonnen hat, uns zu reinigen, müssen wir unsere Unreinigkeit anerkennen, deren Reste noch immer an unserem Fleische haften. Es ergibt sich hier auch die allgemeine Wahrheit, dass aller Menschen Lippen unrein und befleckt sind, wenn sie nicht vom Herrn gereinigt werden. Daraus folgt, dass alle Menschenlehren nach menschlicher Unreinheit schmecken, und dass völlig rein nur ist, was von Gott stammt.
V. 6. Da flog der Seraphim einer zu mir usw. Der Prophet zeigt, welches Heilmittel ihm gebracht wurde, nachdem er bis zum Tode erschreckt war. Er bestätigt damit, war wir schon sagten, dass reine Lippen allein der Herr schenken kann. Denn die Menschen können aus sich nur Schmutziges und Beflecktes hervorbringen. Es könnte nun jemand einwenden, es sei ungereimt, dass der Herr den Propheten erst jetzt reinigt, - als wäre seine Zunge, die doch ein Werkzeug des heiligen Geistes war, zuvor unrein und unheilig gewesen. Wir antworten darauf, dass allerdings der Herr den Propheten schon früher gereinigt hatte, aber nur teilweise: die Reinigung, die ihm jetzt zuteil wird, ist umfassender: der Zuwachs bewegt sich hier eben auf Stufen, die niemand mit einem Male überspringen kann. Dass Jesajas Lippen jetzt gereinigt werden, lässt also nicht darauf schließen, dass sie zuvor gänzlich unrein waren. Vielmehr wollte der Herr seine Gnade in ihm vermehren und wachsen lassen; er wollte ihn auf eine höhere Stufe der Würde empor heben, damit er beim Volk noch mehr Ansehen gewönne. Das war um der veränderten Zeitlage willen notwendig. Wird das Feuer vom Altar genommen, so bedeutet dies, dass es göttliches oder himmlisches Feuer ist. Denn das Gesetz verbot, fremdes Feuer dorthin zu bringen, weil jede menschliche Beimischung eine Entweihung der himmlischen Dinge ist. So wurde Jesaja durch diese bildliche Darstellung belehrt, dass alle Reinheit allein von Gott stammt.
V. 7. Und rührte meinen Mund usw. Gott bequemt sich dem rohen menschlichen Verständnis an: er gibt eine Zange dem Seraph in die Hand, damit er eine Kohle vom Altar nehme und sie an den Mund des Propheten führe. Das geschah freilich nur in der Vision: und doch bediente sich Gott dieses äußeren Zeichens, um den Geist des Propheten aufzurichten. Übrigens sollen wir nicht glauben, dass in der Kohle irgendeine Kraft verborgen war, wie etwa der Aberglaube geheime Kräfte in magischen Künsten sucht. Von alledem findet nichts statt: denn Gott allein kann unsere Unreinigkeit, wo sie sich auch findet, ausläutern. Der Engel ist dabei sein Diener, nicht aber der Urheber: wir dürfen nicht einem andern zuschreiben, was allein Gottes Werk ist. Das gibt auch der Engel selbst deutlich zu verstehen, indem er nichts für sich selbst beansprucht, sondern nur an das heilige Unterpfand erinnert, welches er vom Herrn empfangen hatte. Dieses bringt er an den Mund des Propheten, gleichwie ein Sakrament. Gewiss hätte derselbe auch ohne die Kohle gereinigt werden können, - und doch war das sichtbare Zeichen zur Bekräftigung und Bezeugung nützlich. Dies ist ja überhaupt die Aufgabe der Sakramente, unserer Schwachheit zur Stärkung zu dienen. Denn wir sind keine Engel, welche die Geheimnisse Gottes ohne solche Hilfsmittel betrachten können. Darum erhebt uns der Herr wie in einem Wagen allmählich zu sich empor.
Siehe, hiermit sind deine Lippen gerühret usw. Diese Worte zeigen, dass die Bekräftigung, welche durch das Zeichen gebracht wurde, nicht vergeblich war: die Wirklichkeit, auf welche das Zeichen deutete, wurde dem Propheten tatsächlich dargeboten, sodass er sich durchaus nicht getäuscht fühlte. Daraus können wir schließen, dass uns in den Sakramenten mit dem Zeichen die Sache selbst dargeboten wird. Wenn uns der Herr das Sakrament reichen lässt, weidet er unsere Augen nicht mit einem hohlen und leeren Bilde, sondern knüpft die Wirklichkeit selbst daran. Er will uns durch die Sakramente bezeugen, dass er wirksam mit uns verkehrt. So darf man die Wirklichkeit von den Zeichen nicht trennen, wohl aber unterscheiden. Denn das Zeichen sehen und fühlen wir, wie z. B. das Brot, welches uns im Abendmahl gereicht wird; weil aber Christus im Himmel gesucht sein will, so müssen wir unsere Gedanken auch dahin erheben. Er bietet uns durch die Hand des Dieners seinen Leib an, damit ihn die Frommen in Wahrheit genießen, die durch den Glauben aufwärts seiner Gemeinschaft entgegen streben. Er gibt ihn also den Frommen, welche durch den Glauben ihre Gedanken zu ihm erheben: denn er kann uns nicht täuschen. Übrigens empfangen die Ungläubigen zwar das Zeichen: weil sie sich aber in den Grenzen der Welt halten und nicht zu Christi himmlischem Reich durchdringen, haben sie an der Wirklichkeit keinen Teil. Denn wem der Glaube fehlt, kann seine Gedanken nicht zu Gott erheben und darum auch nicht Christi teilhaftig werden. Allein der Glaube öffnet uns die Tür zum Reich Gottes. Wer darum das Fleisch Christi genießen will, muss über alle Menschengedanken hinaus durch den Glauben sich zum Himmel erheben. Endlich ist es allein Gottes Geist, der uns dieser Gemeinschaft teilhaft machen kann. Darum folgt aber nicht etwa, dass durch den Unglauben der Menschen der Wahrheit des Sakraments Abbruch geschieht. Denn von Gottes Seite wird die geistliche Wesenheit immer angeboten, aber die Gottlosen stoßen sie von sich. So wird ja auch im Evangelium Gottes Gnade angeboten, aber nicht alle gewähren ihr den Zutritt ins Herz, obgleich sie mit den Ohren etwas davon aufnehmen und auch die Wahrheit selbst notgedrungen anerkennen müssen.
Übrigens lernen wir auch unserer Stelle, dass die Sakramente niemals vom Wort getrennt werden dürfen. Denn der Engel tritt nicht als eine stumme Person auf, sondern hängt an das Zeichen eine Lehre, um den Zweck desselben zu erläutern. Könnte doch von einem Sakrament keine Rede sein, wenn nicht eine Lehre hinzugefügt wäre, aus welcher Jesaja entnehmen konnte, warum sein Mund mit einer Kohle berührt wurde. Darum sollen wir wissen, dass das Hauptstück im Sakrament das Wort ist, ohne welches die Handlung nur ein Missbrauch wäre. So sehen wir heute allenthalben im Papsttum, dass man die Sakramente in Schauspielerei verwandelt hat. Alles in allem soll Jesaja aus der Handlung entnehmen, dass er mit vollkommener Reinheit beschenkt und von aller Befleckung gereinigt ist, sodass nun nichts mehr ihn hindert, als Gottes Bote aufzutreten.
V. 8. Und ich hörte die Stimme des Herrn usw. Jetzt beginnt der Prophet von dem Zweck der Vision zu handeln und darzutun, warum ihm Gott in so herrlicher Majestät erschien und ihn von neuem zum Propheten weihte: er hatte die unglaubliche Botschaft von der Verstockung der Juden zu bringen. Für dies gehässige Geschäft wird er seines Berufs vergewissert, damit er die Furcht niederkämpfe und dem Befehl Gottes gehorche. Denn nichts gibt einem frommen Herzen größere Zuversicht, als wenn man wissen darf, dass man im Gehorsam gegen Gott handelt. Dazu besaß der Prophet das andere Zeugnis, dass er vom Herrn gereinigt war: so war er für die Übernahme auch des schwersten Geschäfts wohl gerüstet.
Wen soll ich senden? Der Prophet führt den Herrn selbst redend ein, gleich als hätte er einen für diese Botschaft geeigneten Menschen nicht finden können. Manche Ausleger sehen hier die Trägheit der Priester und Propheten getadelt, von denen trotz ihrer großen Zahl kein einziger zum Lehren geeignet war. Obgleich dies einen gewissen Schein hat, glaube ich doch lieber, dass dem Propheten die Gewissheit seiner Berufung bekräftigt werden sollte. Er konnte aus der Frage entnehmen, dass der Herr ihn nicht wahllos, sondern mit gutem Bedacht zu seinem Diener angenommen hatte. Es ist also eine überaus wichtige Ratforschung, wen der Herr schicken wolle. Gewiss zweifelt Gott selbst nicht; aber eine solche Redeweise wird in Rücksicht auf uns gebraucht, wie dies der Herr auch tut, wenn er etwa sagt (1. Mos. 18, 21): „Ich will herabsteigen und sehen.“ Denn Gott, vor dessen Augen alles offen liegt, bedarf keines Nachforschens: aber damit die Menschen nicht glauben, dass er irgendetwas unbesonnen tue, drückt er dies in einer Form aus, die sich der gewöhnlichen menschlichen Sprechweise anbequemt. Wenn er also fragt, wen er senden soll, will er zu verstehen geben, dass er für sein besonders wichtiges Geschäft nicht einen gewöhnlichen, sondern einen ganz hervorragenden Lehrer nötig hat. So dient der Satz auch dazu, Jesajas Ansehen zu steigern. Man soll ihn nicht für einen gemeinen, sondern für einen besonders ausgezeichneten Propheten halten.
Wer will unser Bote sein? Ich will es gelten lassen, was man zu sagen pflegt, dass wir hier eine Erinnerung an die drei Personen in Gott haben, wie auch in dem Wort (1. Mos. 1, 26): „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei.“ Denn Gott redet mit sich selbst, und zwar in der Mehrzahl. Er hält also ohne Zweifel Zwiesprache mit seiner ewigen Weisheit und Kraft, d. h. mit dem Sohn und heiligen Geist.
Hie bin ich. Die schnelle Antwort zeigt, welch eifriger Gehorsam aus dem Glauben erwächst. Denn der Prophet, der soeben noch wie tot dalag, fürchtet keine Schwierigkeit. Daraus sehen wir, dass die Verwirrung seines Gemüts, von der wir sprachen, nicht etwa aus einem widerspenstigen Sinn hervorging, der dem Herrn entfliehen oder das auferlegte Amt abschütteln wollte, sondern einfach daraus, dass der Prophet eines neuen Gnadenzuflusses bedurfte und Gewissheit darüber haben wollte, ob er die ihm auferlegte Last werde tragen können. Daraus wollen wir entnehmen, dass wir ohne ein gewisses Zeugnis unserer Berufung nichts in rechter Weise angreifen können. Wir würden bei jedem Schritt wanken und schwanken müssen. Es bedeutet eine große Stütze für unsere Zuversicht, wenn wir fühlen dürfen, dass uns die nötigen Gaben nicht abgehen, sondern von Gott geschenkt werden, damit wir leichter unsern Auftrag ausführen können. Übrigens soll dies ausgezeichnete Beispiel von Gehorsam uns anleiten, für jeglichen Dienst bereit zu stehen, den der Herr uns auferlegen will, so oft er uns ruft: wir wollen uns nicht weigern, wenn die Sache uns auch noch so schwierig scheint. Denn wenn der Prophet sagt: „Hie bin ich“, - stellt er sich für die Befehle des Herrn zur Verfügung. Diese Redewendung ist in der Schrift häufig ein Ausdruck des Gehorsams.
V. 9. Und er sprach: Gehe hin usw. Hier wird noch einmal deutlich, wie nötig die Vision war, wenn Jesaja nicht alsbald in seinem Lauf müde werden sollte. War es doch kein geringer Anlass, dass er im Volke Gottes einem solchen Widerspruchsgeist und aufrührerischen Wesen begegnen musste, und dies nicht für das eine oder andere Jahr, sondern für mehr als sechzig Jahre. Er musste also gewappnet werden, dass er wie eine eherne Mauer gegen solche Hartnäckigkeit stehen konnte. Darum kündigt ihm der Herr ohne weiteres an, dass er es mit widerspenstigen Menschen zu tun haben werde, bei denen wenig Frucht zu erwarten ist. Damit aber der Prophet sich nicht an dieser unerhörten Erfahrung stoße und den Mut verliere und dem Widerspruch der Menschen weiche, sondern mit unbesiegtem Geiste fortfahre und jede derartige Versuchung überwinde, erinnert ihn der Herr rechtzeitig und im voraus an den Ausgang. Es ist als wollte er sagen: Du wirst zwar ohne Furcht dein Lehramt führen, aber lass dich das nicht verdrießen, du handelst in meinem Auftrag. Stehe auch nicht ab, weil du keine Frucht siehest: folge mir nur und lege allen Erfolg deiner Arbeit in meine Hand. Ich sage dir dies schon jetzt, damit nicht ein unerwarteter Ausgang dich erschrecke. Es wird dem Propheten sogar geheißen, die blinde Verstockung des Volkes offen zu schmähen, als ob er absichtlich mit den Worten aufträte: Meine Mühe um euch wird vergeblich sein, - aber das kümmert mich nicht: mir ist genug, dass mein Tun dem Herrn gefällt. Ihm wird mein Predigen ein süßer Geruch sein, obwohl es auch den Tod bringt.
V. 10. Verstocke das Herz dieses Volks. Dieser Ausdruck überbietet noch den vorigen. Gott sagt dem Jesaja nicht bloß, dass seine Arbeit und sein Lehren vergeblich sein werde, sondern dass er damit das Volk sogar verstocken, dass er ihm Anlass zu größerer Verblendung und Widerspenstigkeit geben und ihm endlich das Verderben bereiten wird. Gott kündigt an, dass das Volk der Vernunft und Einsicht beraubt und zugrunde gerichtet werden solle, sodass niemand mehr helfen kann. Zugleich aber erklärt er, dass die Arbeit des Propheten, die den Juden Verderben und Tod bringt, ihm ein angenehmes Opfer sein werde. Eine sehr bemerkenswerte Aussage, nicht nur darum, weil Jesaja darin zuvor verkündigt hat, was sich nachmals unter Christo erfüllte, sondern auch, weil sie eine überaus nützliche Lehre enthält, die in der Gemeinde Gottes zu allen Zeiten in Geltung bleiben wird. Denn alle, die treulich den Dienst am Worte treiben, werden das gleiche erfahren müssen. In der Tat haben auch wir es reichlicher erfahren, als man wünschen möchte: aber dies ist ja das Geschick aller Diener Christi. Darum müssen wir es mit Gleichmut tragen, obwohl es für Leute, die dem Herrn mit reinem Gewissen dienen, ein überaus schwerer Anstoß ist und auch die Sache selbst Anstoß genug in sich birgt. Satan treibt die Seinen, Feindschaft wider das Evangelium unter dem Vorwande zu erregen, dass seine Predigt nicht bloß unfruchtbar, sondern sogar schädlich sei: sie mache die Menschen schuldiger und treibe sie ins Verderben. Leute, welche der Lehre des Evangeliums durchaus widersprechen wollen, sagen auch heute, dass die Welt durch seine Predigt schlechter geworden sei. Mag aber geschehen, was da will, so gibt doch Gott Zeugnis, dass unser Dienst ihm gefällt. Denn wir folgen seinem Befehl und haben darin fortzufahren, wenn auch unsere Arbeit vergeblich scheint und die Menschen in ihr Verderben stürzen und schuldiger werden. Denn wir tun nichts nach eigenem Belieben und sich mit dieser Anerkennung Gottes zufrieden. Allerdings müssen wir seufzen, wenn der Erfolg unserer Mühe nicht entspricht, und den Herren bitten, dass er seinem Worte Wirkungskraft gebe. Teilweise ist es auch unsere Schuld, wenn man so geringe Frucht sieht. Dennoch dürfen wir unsern Dienst nicht verlassen, noch die Waffen wegwerfen. Unablässig soll aus unserm Munde die Wahrheit erschallen, wenn auch kein Ohr sich öffnet und die Welt nichts sieht und empfindet: denn es ist vollauf genug, dass wir der Ehre Gottes treulich dienen und unser Eifer ihm gefällt. Es ist auch der Schall unserer Stimme nicht wirkungslos: denn er macht die Welt unentschuldbar. Daraus können fromme Lehrer einen unschätzbaren Trost gewinnen, um ihre Seele wider die schweren Anstöße zu stärken, die ihnen täglich aus der Widerspenstigkeit der Menschen erwachsen. Sie brauchen sich dadurch nicht aufhalten lassen, sondern können mit unbesiegter Standhaftigkeit in ihrer Pflicht verharren. Freilich bedeutet es ein ganz allgemeines Ärgernis, dass das lebendige Wort Gottes, bei dessen Schall der ganze Erdkreis erzittern müsste, die Ohren der Menschen vergeblich und fruchtlos trifft. Darum mögen die Schwachen lernen, sich mit diesem unserem Satz zu stärken. Wir wundern uns, wie es geschehen kann, dass der größte Teil der Menschen dem Herrn so hartnäckig widersteht. Da schleicht sich denn der Zweifel ein, ob, was man so ungestraft verachten darf, Gottes himmlische Wahrheit sein kann. Lässt es sich doch kaum glauben, dass Gott zu den Menschen redet, um sich von ihnen verspotten zu lassen. Damit unser Glaube nicht wanke, wollen wir ihn mit der Erinnerung stützen, dass einem Jesaja das Lehramt lediglich übertragen ward, damit er den Samen des Lebens ausstreue und dadurch Tod schaffe. Damit wird nicht ein bloß einmaliges Ereignis berichtet, sondern eine Weissagung von Christi künftigem Königreich gegeben. Auch die besondere Sachlage wollen wir uns vergegenwärtigen: Jesaja wurde nicht zu beliebigen Leuten gesandt, sondern zu den Juden. Darum wird mit besonderem Nachdruck gesagt, dass er das Herz „dieses“ Volkes verstocken solle: das Volk, welches der Herr zu seinem besonderen Eigentum erwählt hatte, wird den Propheten nicht hören und mitten im hellen Lichte blind bleiben. So dürfen wir uns nicht wundern, dass wir oft auch bei denen, die sich des Namens Gottes rühmen, tauben Ohren predigen. Es ist freilich eine harte Rede, dass ein Prophet vom Herrn gesendet wird, damit er die Ohren verstocke, die Augen verblende und das Herz des Volks verhärte. Denn dies alles scheint mit Gottes Wesen und darum auch mit seinem Wort nicht zu stimmen. Doch es lässt sich wohl begreifen, dass Gott die Bosheit des Volks mit äußerster Verblendung straft. Der Prophet hat auch kurz zuvor darauf hingedeutet, dass die Schuld der Blindheit beim Volke selbst zu suchen ist. Denn wenn demselben zugerufen wird (V. 9): „Höret` s“, so ist dies ein Zeugnis, dass es eine genügende Belehrung empfangen hatte, wenn es sich nur gelehrig erweisen wollte, dass ihm Licht für seinen Weg angeboten wurde, wenn es nur die Augen öffnen wollten. Die Schuld für das Übel wird also gänzlich dem Volk zugeschoben, weil es Gottes unvergleichliche Wohltat verachtet. Daraus ergibt sich die Lösung des Knotens. Auf den ersten Blick zwar scheint es ungereimt, dass die Propheten die Menschenherzen widerspenstiger machen sollen, denn sie führen Gottes Wort im Munde, welches wie eine Leuchte die Schritte der Menschen lenken sollte. Wenigstens gibt ihm David dieses Lob (Ps. 119, 105; 19, 9). Es ist darum die Pflicht der Propheten, die Augen nicht zu blenden, sondern zu öffnen. Gottes Wort wird auch als vollkommene Weisheit bezeichnet: wie kann es dann die Menschen töricht und stumpf machen? Es sollte die zuvor ehernen und eisernen Herzen erweichen: wie kann es geschehen, dass sie durch sein Wirken noch verhärtet werden? Ich habe schon darauf hingewiesen, dass solche Verblendung und Verhärtung nicht aus dem Wesen des Wortes sich ergibt, sondern eine Nebenerscheinung ist, die allein auf Rechnung menschlicher Verkehrtheit gesetzt werden muss. So dürfen auch blödsichtige Menschen nicht die Sonne anklagen, dass sie ihre Augen mit ihrem Glanz blende, noch Leute mit empfindlichen Ohren sich über eine klare und starke Stimme beschweren, die sie doch nur wegen ihres Gehörfehlers nicht ertragen können; ein Mensch mit geringen Geisteskräften soll nicht über eine schwierige Sache klagen, die er nicht verstehen kann. So haben auch die Gottlosen keinen Grund, das Wort Gottes zu schelten, weil sie durch sein Anhören schlechter werden. Alle Schuld fällt auf sie, weil sie dem Worte den Zugang ganz versperren. So dürfen wir uns nicht wundern, dass zum Verderben ausschlägt, was ihnen heilsam sein sollte. Es ist die gerechte Strafe für die Untreue und den Unglauben der Menschen, dass sie da den Tod schmecken müssen, wo sie Leben hätten gewinnen können, dass sie Finsternis statt des Lichts, vielfaches Verderben statt einer Fülle von Heil empfangen. Dies wollen wir uns wohl einprägen: denn der Missbrauch der Gaben Gottes ist unter den Menschen nur zu verbreitet. Dabei geben sie sich nicht nur als unschuldig aus, sondern schmücken sich noch mit fremden Federn. Doppelt schuldig aber werden sie, weil sie die ihnen zugedachten Gottesgaben nicht bloß nicht recht gebrauchen, sondern auch sündhaft verderben und entweihen. Johannes (12, 39 ff.) beruft sich auf diese Stelle, um die Widerspenstigkeit der Juden in ein helles Licht zu rücken. Dabei gibt er ohne genaue Rücksicht auf jedes einzelne Wort den Sinn nur im Allgemeinen wieder. Und er erinnert, dass die Juden nicht glauben konnten, weil Jesaja dies gesagt habe. Nun war gewiss diese Weissagung nicht die Ursache ihres Unglaubens, sondern der Herr sagte ihn zuvor, weil er ihn voraussah. Der Evangelist dehnt nun das, was schon unter dem Gesetz sich zeigte, auch auf das Verhalten der Juden zum Evangelium aus. Er zeigt, wie seine Zeitgenossen des Verstandes und der Erkenntnis beraubt wurden, weil sie sich wider Gott auflehnten. Wenn man allerdings nach der letzten Ursache fragt, wird man schließlich bei Gottes Zuvorbestimmung anlangen. Weil aber dieser ewige Rat uns verborgen ist, dürfen wir nicht zu vorwitzig sein, ihn zu erforschen. Der ewige Grund des göttlichen Ratschlusses wird uns nicht aufgedeckt; darum sollen wir nur die Ursache betrachten, die vor unseren Augen liegt, nämlich die Widerspenstigkeit, durch welche sich die Juden so vieler und großer Wohltaten unwürdig machten. Auch Paulus zeigt nach unserer Stelle (Apg. 28, 26 f.), dass die ganze Schuld der Blindheit in ihnen selbst liegt: „Sie hören schwer mit den Ohren und schlummern mit ihren Augen.“
Dass sie nicht sich bekehren und genesen. Hier sagt Gott ganz deutlich, dass er den Propheten nicht geschickt hat, das Volk zu retten, sondern zu verderben. Aber Gottes Wort ist doch eine heilsame Gabe: so muss seine Predigt wenigstens einige Frucht bringen und hier und da einem Menschen nützen, wenn auch viele ihr Unglaube um jeden Nutzen bringt. Darauf antworte ich, dass hier von dem gesamten Volkskörper die Rede ist, der bereits dem Verderben zugesprochen und geweiht war. Einzelne, die der Herr der allgemeinen Verderbnis entriss, hat es dabei immer gegeben. Ihnen war das Wort heilsam und offenbarte in Wahrheit seine Wirksamkeit. Die Volksmasse in ihrer hoffnungslosen Ungläubigkeit und Verstockung wurde aber durch die tadelnde Zusprache dem Verderben entgegen geführt. Neben der Verderbenswirkung des Wortes bleibt also bestehen, dass einzelne es als heilsam empfinden und in Wahrheit erfahren. Weiter können wir aus der Abfolge der Worte entnehmen, dass die Bekehrung der Anfang der Genesung ist. Zuerst wollen wir nun sehen, was unter der Genesung verstanden werden soll. Dem Propheten schweben dabei die Strafen vor, welche dem Volk wegen seiner Sünden auferlegt waren. Die Ursache aber aller Übel, die wir zu tragen haben, ist unsre Auflehnung gegen Gott: sobald wir uns bekehren und Gott seine Gnade uns wieder zuwendet, hören die Schläge auf, mit denen er uns züchtigte. Dies ist unsere Genesung. Auf diese Ordnung müssen wir fleißig achten: aus ihr wird ersichtlich, was Gottes Absicht ist, indem er uns zu sich einlädt, und worauf die himmlische Lehre zielt, nämlich dass wir uns bekehren sollen. So ist dies das eine Hauptstück im Evangelium: Tut Buße! Darnach bietet uns der Herr die Wiederaussöhnung an und verheißt Genesung von allen Übeln, nicht bloß des Leibes, sondern auch der Seele. Wird uns dies als die herrliche Frucht des Wortes Gottes vorgehalten, so dürfen wir die Schuld nicht von uns abwälzen, sondern müssen sie ganz auf uns selbst nehmen, wenn die Versöhnung mit Gott nicht zustande kommt und sein Wort in unser Ohr nicht eindringt. Der Prophet will es ohne Zweifel auch als ein überraschendes Wunder darstellen, dass die Menschen durch die Lehre seines Wortes, die es auf Heilen und Erweichen absieht, aufsässig, widerspenstig und ganz unheilbar gemacht werden, - und der Arm des Herrn wird nicht allen geoffenbart: aber durch diese schreckliche Strafe verstockter Bosheit will Jesaja lehren, dass wir uns ernstlich hüten müssen, den Ruf Gottes nicht zu verachten.
V. 11. Ich aber sprach: Herr, wie lange? Obgleich die Propheten in aller Strenge den Zorn Gottes verkündigen, legen sie doch ein Gefühl von Menschenfreundlichkeit nicht ab. Darum müssen sie eine doppelte Rolle spielen. Sie haben mit hohem und ungebrochenem Geist Gottes Gericht vorzutragen. Dabei müssen sie lieber die Welt vernichtet und vertilgt sehen, als dass irgendetwas von Gottes Ehre abgebrochen werde. Bei alledem sind sie nicht grausam, sodass kein Erbarmen gegen die Brüder sie ergriffe, deren Untergang zu verkündigen ihre unerbittliche Pflicht ist. Diese doppelte Stimmung birgt keinen Widerspruch, sondern passt trefflich zusammen, wie das Beispiel des Jeremia zeigt. Derselbe weigert sich anfangs gegen den harten Auftrag, dem Volk den Untergang zu verkündigen. Bald aber fasst er Mut und greift tapfer seine Pflicht an (Jer. 1, 6). Dies war auch die Gesinnung des Jesaja: indem er dem Herrn Folge zu leisten wünschte, wurde er zu einem strengen Prediger seines Gerichts. Zugleich aber sah er einigermaßen auf das Volk, und es lag ihm besonders an, dass die Verblendung nicht eine dauernde sein möchte. Indem er Gott in dieser Richtung bat, hat Mitleid ihn erfasst, und er wünscht die Strenge der Strafe gemildert zu sehen. So darf natürliche Liebe uns nicht abhalten, unsere Pflicht zu tun. Ein Beispiel: es gibt eine natürliche Neigung des Mannes zur Frau, des Vaters zum Sohne; sie ist aber in einer Weise einzuschränken, dass wir vor allem auf das sehen, was unserem Beruf entspricht und was der Herr befiehlt. Dies wollen wir uns wohl merken: denn wenn wir uns die Zügel lockern lassen wollen, pflegen wir gewöhnlich vorzuwenden, dass unsere Bereitschaft zum Gehorsam gegen Gott der natürlichen Neigung erlegen sei. Es gilt aber eben, diese Neigung in Zucht zu nehmen, damit sie unserem Beruf kein Hindernis bereite. Auch der Prophet hat sich durch sie nicht hindern lassen, seine Pflicht zu tun. Des Herrn Befehle müssen uns so gewichtig sein, dass wir über ihnen uns selbst und alles, was unser ist, vergessen. Obgleich übrigens hier Jesajas fromme Fürsorge für das Wohl des Volkes gezeigt wird, hören wir doch zugleich von der schweren Strafe, damit die Gottlosen sich nicht etwa nach ihrer Gewohnheit Erleichterung versprechen. Ohne Zweifel ist der Prophet durch einen verborgenen göttlichen Antrieb zu seiner Bitte veranlasst worden. Er sollte dadurch die deutliche harte und schreckliche Antwort hervorlocken, die alsbald folgt. Dieselbe zeigt, welcher Ausgang der Ungläubigen wartet: nicht eine leichte und mäßige Strafe soll ihnen auferlegt, sondern sie in völligem Verderben vertilgt werden. Dies wird steigernd in den Worten ausgedrückt: und die Häuser ohne Leute und das Feld ganz wüste liege. Denn wenn Länderstriche verwüstet werden, kann immerhin eine einzelne Stadt übrig bleiben; wenn Städte erobert und zerstört werden, kann manches Haus stehen bleiben. Hier aber wird eine solche Verwüstung angekündigt, bei der nicht bloß die Städte, sondern auch die Häuser selbst vertilgt werden: das ganze Land soll in eine trostlose Einöde verwandelt werden, während sonst doch auch die schlimmste Niederlage einige Reste übrig lässt. Dies Wort des Jesaja gilt einmal für seine Zeit, aber auch wir wollen es uns gesagt sein lassen. Denn die gleiche Strafe wird allen gelten, die einen aufrührerischen Geist wider Gott setzen und einen harten Nacken gegen sein Joch stemmen. Denn je heftiger sie anstürmen, desto unerbittlicher wird Gott sich wider sie stellen, bis dass er sie gänzlich vernichtet.
V. 12. Der Herr wird die Leute ferne weg tun. Dieser Vers enthält nichts Neues, sondern erläutert nur den vorigen und beschreibt die bevorstehende Niederlage Judas mit anderen Worten: Gott wird die Bewohner weit wegführen. Die aus dem Kriege überbleiben, sollen doch der Strafe nicht entgehen, dass sie in die Verbannung ziehen müssen. Angefügt wird ein allgemeiner Schluss von der Entleerung des Landes. Es wird verlassen sein: denn die einen sind geflohen, andere in die Gefangenschaft geführt, wieder andere sind durch das Schwert gefallen. Das ist der Lohn, den die hartnäckigen Aufrührer empfangen, die Verbrechen auf Verbrechen häufen, bis Gottes unversöhnlicher Zorn ihnen zu schwer wird.
V. 13. Und ob noch das zehnte Teil drinnen bleibet usw. Die Worte dieses Satzes lassen sich verschieden wiedergeben. Ich bevorzuge folgende Übersetzung: „Wenn noch das zehnte Teil drinnen bleibt, wird es doch wiederkehren; seine Vernichtung wird sein wie eine Linde und Eiche, in welchen beim Abwerfen der Blätter noch Lebenskraft bleibt.“ Jedenfalls will der Prophet das Volk damit trösten, dass es noch etwas von verborgener Kraft behalten und wieder wird sprossen können, wenn es auch für eine Zeit gänzlich vergangen zu sein scheint. So werden die Bäume, wenn der Winter vorüber ist, wieder grün. Mag das Volk bis auf den zehnten Teil zusammengeschmolzen sein, sodass aus Tausend Hundert, aus Hundert Zehn, aus Zehn Einer wurde, so wird doch eine Wendung zum Besseren eintreten, wenn die Juden aus der Gefangenschaft in ihr Vaterland zurückkehren: dann wird die Erde ein neues Angesicht gewinnen. Die Verwüstung wird nur dem Abfallen der Blätter gleichen, wobei man nichts mehr sieht, als ein scheinbar erstorbenes Holz. Aber es wird sein wie bei Bäumen, denen die Hoffnung auf nahe Wiederherstellung bleibt. Mit gutem Grund nennt aber Jesaja zwei Baumarten, deren eine schneller grünt und auch schneller wieder dürr wird. So geschah es dem Stamm Juda. Denn die zehn Stämme mit dem halben Stamm Benjamin waren schon früher in die Gefangenschaft geführt. Die also schneller zur Blüte gekommen waren, sind auch schneller verwelkt. Dagegen verwelkte der Stamm Juda als letzter von allen, behielt auch dabei die beste Hoffnung, wiederum grün zu werden. Denn hier wird ihm Hoffnung zur Befreiung gemacht: so war die Art seiner Gefangenschaft eine andere, als bei den zehn Stämmen. Dass uns Gottes geistliche Gnadenwirkung unter einem dem Naturlauf entnommenen Bilde dargestellt wird, ist besonders eindrücklich. So gibt uns auch Paulus in der Aussaat der Körner ein Bild der Auferstehung (1. Kor. 15, 36). An unserer Stelle beschreibt Jesaja mit dem Gleichnis von den Bäumen, denen im Herbst die Blätter abfallen, um im Frühling sich zu erneuern, die Wiederherstellung der Gemeinde. Diese Erneuerung ist nur möglich, weil die Bäume auch mitten im Winter etwas von Lebenskraft in sich behalten, obgleich sie erstorben scheinen. Ganz dasselbe soll nun dem Volke geschehen: obgleich es in seiner schweren und harten Gefangenschaft einem trocknen Holz gleicht und jede Aussicht auf Wiedererhebung geschwunden scheint, soll doch etwas von Lebenskraft in ihm bewahrt werden, welche es in jenen Bedrängnissen aufrecht erhält und endlich wieder grünen und blühen lässt. Wir sagten schon, dass diese Lehre nicht bloß für ein bestimmtes Zeitalter gilt: darum wollen wir sie uns wohl einprägen. Es geschieht ja nicht selten, dass die Kirche in den verschiedenen Niederlagen, die über sie kommen, alle Lebenskraft verloren zu haben scheint, als wäre es völlig um sie geschehen. In solchem Falle sollen wir aber bestimmt glauben, dass trotzdem in ihrem Innern eine verborgene Lebenskraft noch waltet: mag dieselbe unsern Augen nicht sofort offenbar werden, so wird sie doch endlich ihre Frucht bringen. Verborgen ist aber diese Kraft im Wort des Herrn, durch welches allein die Kirche aufrechterhalten wird.
Ein heiliger Same wird solcher Stamm sein. Dieser Satz zeigt, worin der Lebensbestand der Kirche gefunden werden soll: in einer kleinen Zahl von Frommen, die als ein heiliger Same bezeichnet werden. Der Prophet denkt an die Auserwählten, die durch Gottes freie Gnade gerettet werden und aus jener Gefangenschaft übrig bleiben sollen. So führte die Gefangenschaft zur Reinigung der Kirche, durch welche der Herr die Gottlosen entfernte. Nachdem sie ausgetilgt waren, sammelte sich der Herr ein zwar kleines, aber wahrhaft heiliges Volk. Manche Ausleger deuten unsern Satz auf Christus: aber dies ist eine gezwungene Auslegung; er passt viel besser auf alle Frommen. Denn eben dieser heilige Same macht den Stamm oder den Lebensbestand der Kirche aus.