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Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 58.
V. 1. Rufe getrost usw. Dies Kapitel ist unrichtiger Weise von dem vorhergehenden getrennt, während es doch mit ihm zusammenhängt. Wenn wir die Meinung des Propheten erkennen wollen, müssen wir es lesen, als wenn keine Trennung vorhanden wäre. Der Prophet hat die Notwendigkeit der Bestrafung des Volkes bezeugt, und zwar einer solchen, die noch eine Hoffnung auf Frieden übrig ließ; sodann hat er den Gottlosen, die Gott in stolzem Hohn verachten, immerwährende Unruhe angekündigt. Jetzt bestätigt er jene Drohungen. Von Gott, sagt er, ist ihm die Aufgabe auferlegt, laut, oder wie wir gewöhnlich sagen: aus vollem Halse zu rufen. Wozu? Um dem Volke seine Sünde vorzuhalten. Er meint nicht lediglich den lauten Ton der Stimme, sondern die Wucht und Strenge des Wortes, wie sie vor allem die Heuchler bedürfen, als wenn Gott Blitze vom Himmel schleudert. Sie haben ja nur zu gern in ihren Sünden Gefallen an sich selbst, wenn sie nicht ganz ernstlich gerügt und zur Rechenschaft gezogen, ja wenn sie nicht mit Wucht niedergeworfen werden und stürzen.
Der Beisatz „schone nicht“, ist eine den Hebräern geläufige Wiederholung, die etwa auch sagen: „Ich rede und schweige nicht“. Wie schon gesagt, meint der Prophet hier nicht den gewöhnlichen Ton der Stimme, sondern das ernste, strenge Schelten, das angebracht ist, um die Gottlosen zu erschüttern. Wenn z. B. die Propheten über das Gesetz des Herrn nur Worte machen, Anweisungen für ein rechtes, heiliges Leben geben, den Gottesdienst empfehlen, auch die Sünden tadeln würden, ohne aber dabei irgendwelche Leidenschaftlichkeit zu beweisen, - was würden sie wohl ausrichten bei den Heuchlern, deren Gewissen derartig eingeschläfert ist, dass es ohne besondere Anstachelung nicht geweckt werden kann? Eine schlichte Lehrweise wäre unzureichend: man muss ernstlicher auf jene Leute eindrängen und die Blitze des Wortes gegen sie schleudern. Paulus hat es auch so gemacht wie die Propheten. Nachdem er dem ganzen Menschengeschlecht das Urteil gesprochen, wendet er sich (Röm. 2, 17 ff.) mit großer Heftigkeit gegen diejenigen, die wohl irgendeine Form der Frömmigkeit zur Schau trugen, aber die Langmut Gottes missbrauchten. Siehe, sagt er, du heißest ein Jude und verlässt dich auf das Gesetz und rühmst dich Gottes und weißt seinen Willen; und weil du aus dem Gesetze unterrichtet bist, prüfst du, was das Beste zu tun sei, und vermisst dich zu sein ein Leiter der Blinden, ein Licht derer, die in Finsternis sind, ein Züchtiger der Törichten, ein Lehrer der Einfältigen, hast die Form, was zu wissen und recht ist, im Gesetz. Nun lehrst du andere und lehrst dich selbst nicht, du predigst, man solle nicht stehlen, und stiehlst usw. So kündigt er ihnen denn Gottes Gericht und furchtbare Strafen an; denn sie haben Gottes Güte missbraucht und rühmen sich in eitler Weise seines Namens. Ebenso wendet sich der Prophet an dieser Stelle gegen die Juden, die sich zwar des Namens Gottes rühmten, sich aber stolz gegen ihn erhoben. Diesen Weg müssen wir also gegen die Heuchler, die den bloßen Schein der Frömmigkeit zur Schau tragen, einschlagen, wenn wir unsere Pflicht recht und erfolgreich erfüllen wollen. Wie der Herr die Propheten in dieser Kampfesweise übte, so müssen auch wir uns heute darin üben, dass wir nichts übersehen, auch jene nicht oberflächlich anfassen, sondern mit aller Kraft uns gegen sie wenden. Man könnte einwenden: Wenn der Herr befiehlt, die Sünden des Volkes, dem er Frieden verheißt, zu strafen, dann wollte er ihm zweifellos eine Hoffnung auf Errettung übrig lassen; und doch zielt diese Anklage ganz bestimmt nur auf die Gottlosen, denen er vorher den Krieg angedroht hatte. Darauf ist zu antworten, dass damals die Frommen nur in geringer Anzahl vorhanden waren, denn wenige nur nahmen den ihnen angebotenen Frieden an. Wenn nun Jesaja eine Hoffnung auf nahen Frieden äußert, so hat er jene kleine Schar im Auge; wenn er aber Krieg ankündigt, so droht er der gottesentfremdeten Menge, die alle Warnungen in den Wind schlug. So war ja der Zustand des Volkes, dass kaum ein Reiner und Schuldloser vorhanden war, wie wir bereits im ersten Kapitel sahen. Mit Recht empfängt er also den Auftrag, dem Volk oder dem Hause Jakob seine Sünden anzuzeigen, da der größte Teil des Volkes verderbt war. Man muss bei den Propheten sorgfältig auf diese Unterscheidung achten, da sie bald ihre Stimme gegen das ganze Volk erheben, bald ihre Predigt einschränken auf die wenigen Treuen. Nicht ohne bitteren Hohn nennt Gott diejenigen sein Volk und Söhne Jakobs, die ihren Ursprung vergessen hatten und in schändlicher Weise vom Glauben der Väter abgefallen waren. Das Zugeständnis ist also ironisch gemeint; er will sagen: kein Vorrecht hindert, dass sie hören sollen, was sie sich zuschulden kommen lassen.
V. 2. Sie suchen mich täglich usw. Hier will der Prophet jeden Stoff zur Gegenrede den Heuchlern nehmen, die Einwendungen folgender Art bereithielten: Wir fürchten doch Gott, verehren, suchen und lieben ihn mit ganzer Seele; warum schiltst du uns Gottlose? Wir wollen ja unser Leben nach der Vorschrift des Gesetzes einrichten! Um dieser Einwendung zu begegnen, bestreitet er das Vorhandensein irgendwelcher Reinheit und Lauterkeit ihrer Handlungen; alles sei angenommenes Wesen und Heuchelei, darum wertlos vor Gott, der ein reines Herz sucht. Man muss hier die vom Propheten beobachtete Ordnung ins Auge fassen: Erst hat er den Gottlosen und Heuchlern Krieg angekündigt, dann geht er mit ihnen streng ins Gericht und nimmt ihnen die Vorwände und den Schein, womit sie sich deckten. So also müssen die Heuchler behandelt und gleichsam aus ihrem Versteck gezogen werden, sonst würde die Predigt nichts bei ihnen ausrichten. Nicht bloß fromme Lehrer müssen diesen Weg einschlagen, sondern jeder einzelne muss diese Lehrweise auf sich selbst anwenden, damit er nicht in Selbstzufriedenheit gerate oder den Lockungen der Sünde nachgehe, sich also selbst betrüge oder durch das Blendwerk Satans sich verführen lasse. Ein reines und aufrichtiges Herz muss er besitzen, wenn er mit der Verkündigung des Wortes Erfolg haben und Gott angenehm sein will. Wenn nun auch Jesaja den Heuchlern und Lügnern einen gewissen äußeren Schein von Heiligkeit zugesteht, so tadelt er sie doch mit bitteren Worten und gibt zu verstehen, dass in ihrer gottlosen Prahlerei der Betrug doch allzu stark hervortrete. Wir haben hier also nicht eine bloße Ironie, sondern zugleich eine Aufforderung zur Rechenschaft, weil sie eine Scheinbetriebsamkeit entfalten, sich um Gott verdient zu machen. Wenn aber jemand sie genauer prüft und ihre ganze Lebensführung erwägt, wird er ihre große Gottentfremdung erkennen.
Sie fordern von mir Rechte usw. Vielfach wird dieser Satz so übersetzt und verstanden, als ob die Heuchler mit Gott rechten und den Streit mit ihm aufnehmen wollten. Aber damit trifft man den Sinn des Propheten nicht. Gewiss geschieht dies schon im nächsten Verse. Aber bevor der Prophet dazu übergeht, reißt er ihnen die Maske ihrer eingebildeten Frömmigkeit vom Gesicht. Nach den Worten, dass sie Gott täglich suchen, als ob die Frage nach der Frömmigkeit ihre größte Sorge wäre, fährt er in demselben Sinne fort und sagt, dass sie das Recht erforschen, um Gott zu ehren und das Gebot der rechten Lebensführung zu halten, während doch ihr angeblicher, glühender Eifer für die Frömmigkeit nur Heuchelei ist. Sicherlich denkt der Prophet hier an die hauptsächlichsten Frömmigkeitsübungen der Gläubigen, welche die Gottlosen prahlerisch zur Schau tragen. Das aber ist doch die Hauptsache bei der Religion, nach dem Willen Gottes fragen, um das Leben nach seinem Willen zu führen, sowie an seinem Munde hangen. Aber die Heuchler ahmen in trügerischer Weise so die Kinder Gottes nach, indem sie alles, was zum wahren Gottesdienst gehört, zu halten, ja dabei sogar die Besten zu übertreffen scheinen.
V. 3. „Warum fasten wir?“ Jetzt erfolgt innerhalb desselben Gegenstandes ein Gedankenfortschritt. Jetzt erfolgt innerhalb desselben Gegenstandes ein Gedankenfortschritt. Die eingebildeten und verkehrten Gottesverehrer sind nicht nur blind in ihrer Heuchelei, sondern auch in Hochmut geschwollen, sodass sie sich erfrechen, offen gegen Gott zu murren: sobald er sie etwas härter anfasst, beklagen sie sich, als ob ihnen großes Unrecht geschähe. Verwirfst du denn unseren Gehorsam, das Fasten, die Gebete? Warum sind sie dir nicht angenehm? Oder quälen wir uns vergeblich? Wie schon gesagt, gesteht der Prophet den Heuchlern einen gewissen, die Menschen täuschenden Schein der Frömmigkeit zu, aber nun zeigt er, wie sie innerlich von Stolz aufgeblasen und trunken sind, indem sie Werke erdacht haben, mit denen sie dem Herrn Genüge zu leisten glauben. Aus diesem Grunde erheben sie sich wider die Propheten und lassen sich in den größten Sünden gehen, z. B. in Unglauben, hartnäckigem Ungehorsam gegen Gott, Misstrauen, Grausamkeit, Betrug, Raub. Diese gelten bei ihnen für gering und werden durch Fasten oder andere äußerliche Werke leicht getilgt. Denn das sind ihre herrlichen Verdienste, aus denen nach ihrer Meinung der Gottesdienst besteht und von denen sie eine Sühnung aller Sünden erwarten. So seihen sie Mücken und verschlucken unbedenklich ganze Kamele. Wenn allein die Juden so gewesen wären, die Welt aber nun ihren Sinn geändert hätte, dann müssten wir Beispiele weither suchen; aber wir erleben täglich ganz dasselbe und brauchen uns darum bei der Erläuterung dieser Stelle nicht weiter aufzuhalten. – Übrigens kann die Klage der Heuchler sich sowohl gegen die Worte als die Werke Gottes richten. Das Volk könnte, wie manche Ausleger glauben, über eine zu harte Behandlung in der Gefangenschaft klagen. Ich nehme dagegen lieber an, dass man wider die Worte der Propheten murrt, die man als einen zu harten Tadel empfand. Denn die Juden wollten für fromm und gottesfürchtig gelten und konnten den Vorwurf der Gottlosigkeit und Nichtswürdigkeit nicht mit Gleichmut ertragen. Deswegen deckt der Prophet ihre inneren Triebe auf und zeigt ihnen, dass Gott es ist, mit dem sie einen Krieg beginnen; sie sollen nicht meinen, dass es sich um eine Privatsache mit ihm, dem Propheten, handelt. Im zweiten Teile des Verses verwirft der Prophet im Namen Gottes die Tugenden, welche die Heuchler als solche ausposaunen; denn sie legen dabei die bösen Lüste des Fleisches nicht ab und beginnen nicht mit der Selbstverleugnung. Diesen Umstand, dass sie sich ihren Begierden ergeben, verurteilt er am schärfsten; sodann zählt er einige Arten von Sünden auf. Daraus kann man deutlich erkennen, dass ihnen jegliches Streben nach innerer Umkehr völlig fernlag.
V. 4. Ihr fastet, dass ihr hadert. Dieser Vers muss mit dem Schluss des vorigen verbunden werden; in dessen erstem Gliede lässt Jesaja die Heuchler sich beklagen über die Strenge und Härte der Propheten, im zweiten Gliede gibt er den Grund für die Verwerfung ihres Fastens und aller Werke seitens des Herrn an: sie gehen nicht aus einer reinen Herzensgesinnung hervor. Nun aber schildert der den Zustand ihrer Seele nach ihren Früchten. Er erinnert sie an die Pflichten der zweiten Tafel, aus denen wir leicht unseren Zustand erkennen können. Die Reinheit der Seele zeigt sich ja darin, dass wir unsträflich leben und von jeglichem Betrug und Unrecht uns fernhalten. Das sind Zeichen einer lauteren Gesinnung, ohne die der Herr allen äußeren Gottesdienst verwirft, ja verabscheut. Wo aber Betrug, Raub, Unrecht im Schwange ist, ist ganz bestimmt keine Gottesfurcht. Der Prophet macht also den Heuchlern den Vorwurf, dass sie aus ihrem Fasten eine größere Freiheit zum Sündigen herleiten und umso mehr ihren Begierden folgen. Dies erfahren wir täglich. Denn sehr viele fasten, nicht allein um ihre Betrügereien und Räubereien zu sühnen und dann umso freier wieder Beute zu machen, sondern auch um zur Zeit des Fastens mehr Muße zu haben zum Erwägen ihrer Maßnahmen, zum Prüfen ihrer Hilfsmittel, zum Berechnen ihrer Erträge und zum Ersinnen von Mitteln, durch die sie die Güter ihrer Schuldner an sich reißen können. Deshalb verschieben sie öfter solche Dinge auf die vierzigtägige Fastenzeit und auf bestimmte Fastentage. Andere, besonders schlimme Heuchler, hören täglich mehrere Messen, um desto freier unbedenklich unter dem Deckmantel der Religion ihre Betrügereien und Verrätereien auszuüben. Kurz und gut, der Prophet verwirft das Fasten solcher Menschen, mögen sie selbst es auch für noch so wertvoll halten; denn dadurch wird nur Gottes Zorn umso mehr herausgefordert. Gleich darauf verwirft er auch ihre Gebete. Daraus geht klar hervor, wie es auch schon im ersten Kapitel ausführlich dargelegt ist, dass keine Werke ohne Reinheit und Aufrichtigkeit des Herzens das Wohlgefallen Gottes finden. Sicherlich gibt es kein besseres Opfer als die Anrufung Gottes, und doch sehen wir, wie Unreinheit des Herzens alle Gebete verdirbt und befleckt. Ja, der Erfolg kann nur sein, dass Gott härtere Strafen verhängen muss. Wir lernen daraus, dass er von äußerlichen Werken nichts wissen will, wenn nicht wahre Furcht vor ihm dabei vorhanden ist. Übrigens wird das Fasten, wie es bei den Juden üblich war, hier nicht an und für sich verworfen, als wäre es ein abergläubischer Brauch, sondern nur sein Missbrauch und das falsche Vertrauen, welches man darauf setzt. Das aber hatten Juden mit den Päpstlichen gemein, dass sie mit dem Fasten ihre Pflicht vor Gott zu erfüllen meinten und es für ein verdienstliches Werk hielten. Aber das Fasten ist kein Gottesdienst und wird nicht an sich von ihm gefordert, wie die vom Gesetz vorgeschriebenen Werke, sondern es ist eine äußere Übung, welche dem Gebete hinzugefügt wird, oder zur Zähmung des Fleisches dienlich ist, oder unsere Demütigung bezeugen soll, wenn wir als Schuldige im Unglück um Abwendung des göttlichen Zornes bitten. Ausführlicheres ist darüber in meinem „Unterricht in der christlichen Religion“ zu finden (IV. 7, 5).
V. 5. Sollte das ein Fasten sein usw. Die vorhergehende Darlegung bestätigend, zeigt der Prophet, dass das Fasten an und für sich von Gott weder gewünscht noch gebilligt wird, sondern nur, soweit es auf den wahren Zweck abzielt. Er will es nicht völlig abgeschafft wissen, sondern nur den verkehrten Gebrauch. War doch nach Meinung der Juden das Fasten ein Gottesdienst; und diese leibliche Übung hielten sie unter Hintansetzung, ja sogar unter Verachtung der wahren Frömmigkeit für ausreichend, wie ja immer die Heuchler die äußeren Formen als Mittel zur Versöhnung Gottes hervorkehren. Weil nun ferner menschliche Anmaßung nur zu gern selbst bestimmt, was zur Verehrung Gottes gehören soll, so will der Herr uns ausdrücklich an seine Willensverfügung gebunden wissen: wir sollen nicht meinen, dass alles, was unser Verstand für richtig hält, auch seine Billigung finde. Wie sehr auch die Menschen mit sich selbst zufrieden sein mögen und, von wunderlichem Stolz aufgeblasen, anmaßend auftreten, der Herr weist sie zurück und verabscheut sie, denn das Recht zu wählen behält er sich allein vor. Darum sagt er: ein Fasten, das ich erwählen, d. h. als mir angenehm billigen soll. Er hat aber, wie er sagt, keine Freude daran, dass jemand einen Tag hungrig zubringt und dann traurig und gebückt einhergeht. Der Vergleich mit einem Schilf ist sehr passend: ein solches beugt sich leicht, auch wenn es gerade aufrecht steht. So beugen sich auch die Heuchler und lassen, gleichsam von Hunger geschwächt, den Kopf hängen und tragen ein demütiges Wesen zur Schau. Der Prophet will also die abergläubischen Gebärden, in denen die Heuchler eine besondere Frömmigkeit finden, verurteilen.
Dass man auf einem Sack und in der Asche lag, war auch mit dem Fasten verbunden, zumal wenn man in feierlicher Weise Buße tat. Man bekleidete sich mit einem Sack und streute Asche aufs Haupt. Gewiss war diese Sitte eine heilige und Gott angenehme; sehen wir doch, wie die Propheten, wenn sie das Volk zur Buße auffordern, zur Buße in Sack und Asche aufrufen. Aber wie nach unserer Darlegung das Fasten an sich hier nicht getadelt wird, ebenso wenig verurteilt Jesaja diese äußeren Formen, sondern er schilt die Heuchler, welche dieselben von der Wahrheit loslösen. Wenn man fragt, ob Sack und Asche auch noch für unsere Zeit passen, dann antworte ich, dass dies zu den Mitteldingen gehört, die man, wenn es förderlich ist, anwenden darf. Im Übrigen haben wir im Licht des Evangeliums, das uns die Freiheit gebracht hat, solche Zeichen nicht nötig. Außerdem muss man den Unterschied beachten zwischen den orientalischen Völkern, die eine Menge verschiedener Zeremonien haben, und den unsrigen, die sich viel schlichter gebärden. Wenn wir es jenen nachtun wollten, so wäre dies nichts anderes als Nachäfferei oder Schauspielerei. Doch steht nichts im Wege, dass Leute, die ihre Schuld bekennen wollen, als demütig Bittende Trauerkleider anlegen.
Einen Tag, dem Herrn angenehm. Hieraus geht hervor, dass mit den feierlichen Gebeten bei heiligen Versammlungen das Fasten verbunden war. Es ist eine Zugabe zum Gebet; auch Christus hat es, wie wir wissen, mit dem Gebet verbunden. Es ist also nicht lediglich für sich eingesetzt, sondern zielt auf einen anderen Zweck.
V. 6. Das ist aber ein Fasten usw. Nunmehr beschreibt der Prophet die wahren, von Gott uns hauptsächlich anbefohlenen Pflichten der Frömmigkeit: wir sollen den Elenden und Bedrückten helfen. Scheint dann aber nicht der Prophet das Fasten überhaupt aufzuheben, wenn er an dessen Stelle Werke nennt, die Gott bei weitem die angenehmsten sind? Ich antworte: Das Fasten findet Gottes Wohlgefallen, wenn es mit der Liebe verbunden ist. Deswegen verweist uns der Prophet auf jenes Grundgesetz, dass wir ein reines, aufrichtiges Gewissen haben und gegenseitige Liebe üben sollen. Wenn das geschieht, wird das Fasten, das hinzutritt, dem Herrn lieb und angenehm sein. Aber, so könnte man sagen, tatsächlich ist doch hier nicht von Herzensreinheit die Rede. Ich erwidere, dass sie uns an den Werken oder Früchten beschrieben wird. Aus diesen kann man ja leicht auf den Zustand der Seele schließen. Verzeichnet werden übrigens nur die Pflichten der zweiten Tafel, wobei doch, wie wir schon früher darlegten, an die Beobachtung des ganzen Gesetzes zu denken ist. Es wäre ja nicht genug, dem Nächsten durch Wohltaten zu helfen, wenn wir dabei Gott verachten würden. Weil denn die Liebe gegen die Nächsten nur geübt werden kann, wenn wir sie in Gott lieben, so fordert der Prophet zur Beweisung der Gottesfurcht dies als ihre erste Äußerung, dass wir gerecht, rechtschaffen und freundlich miteinander verkehren. Mit dem äußeren Schein ist er natürlich nicht zufrieden. Sicher blüht dort keine Liebe, wo der Geist des Herrn nicht regiert. Deswegen rechnet sie auch unter die Werke des Geistes (Gal. 5, 22). Wenn also von der Beobachtung des Gesetzes die Rede ist, müssen wir nicht nur an die äußeren Werke, sondern auch an die Verfassung der Seele denken.
Lass los, welche du mit Unrecht gebunden hast usw. Heuchler plagen in ihrer Grausamkeit nur zu gern die Armen und legen ihnen schwere Lasten auf, unter denen sie seufzen und müde werden. Dies wird mit den verschiedensten Wendungen beschrieben. Mit alledem erhalten wir also nicht eine tatsächliche, genauere Beschreibung des Fastens, sondern einen Hinweis auf das, was der Herr an erster Stelle und vor allen Dingen fordert. Wir werden belehrt, unter welchen Bedingungen unser Gehorsam ihm angenehm ist und welchen Sinn Leute beweisen müssen, die in rechter Weise fasten wollen.
V. 7. Brich dem Hungrigen dein Brot usw. Der Prophet fährt in der Darstellung der im vorigen Verse erwähnten Liebespflichten fort. Während er zunächst die Enthaltung von jeglichem Unrecht betonte, weist er jetzt auf die Pflicht der Liebeserweisung gegen die Armen und die unserer Hilfe Bedürftigen hin. Das richtige und gerechte Handeln besteht aus zwei Stücken; einmal sollen wir niemand verletzen, sodann sollen wir unsere Kräfte und Fähigkeiten zum Nutzen der Schwachen und Armen verwenden. Diese beiden Stücke müssen miteinander verbunden sein. Es genügt nicht, sich des Unrechts zu enthalten, wenn man dem Armen seine Hilfe versagt; andererseits ist es nicht viel wert, einem Armen Hilfe zu bringen, wenn man dem einen raubt, was man dem anderen gibt. Man darf den Nächsten nicht mit geraubtem oder gestohlenem Gut unterstützen, auch darf man nicht, wenn man sich ungerechte, grausame oder trügerische Handlungen hat zuschulden kommen lassen, sich eine Ausgleichung nach eigenem Gutdünken zurechtlegen, indem man Gott zum Teilnehmer an der Beute macht. Die erwähnten beiden Stücke gehören also unbedingt zusammen, wenn unsere Liebeserweisung dem Herrn angenehm und wohlgefällig sein soll. Mit der Aufforderung, das Brot dem Hungrigen zu brechen, will der Prophet den Habsüchtigen und Geizigen jegliche Ausflucht nehmen. Denn in der Meinung, all ihr Hab und Gut für sich behalten zu dürfen, sprechen sie nur zu gern: Dies gehört mir, also darf ich es behalten; weshalb soll ich das, was Gott mir gegeben hat, für die Allgemeinheit verwenden? Die Antwort lautet: Freilich gehört es dir, aber unter der Bedingung, dass du dem Hungrigen und Durstigen davon mitteilst und nicht alles allein für dich verzehrst! Und gewiss sagt uns das natürliche Empfinden, dass man den Hungrigen ihr Recht vorenthält, wenn man ihnen in ihrer Not nicht zu Hilfe komme; nötigt doch solch ein trauriger Anblick sogar rohen und harten Menschen Mitleid ab. Andere Stücke erwähnt dann noch der Prophet, die sogar eisenharte Gemüter zur Sympathie zu bringen pflegen; umso weniger entschuldbar ist dann das unmenschliche Verhalten derjenigen, die doch keine Empfindung haben für den Mangel und die Notlage der Brüder. Er schließt mit den Worten: Entzeuch dich nicht von deinem Fleisch. Bemerkenswert ist die Bezeichnung „Fleisch“; es sind damit alle Menschen gemeint, bei deren Anblick wir, wie in einem Spiegel, unser eigenes Fleisch erkennen. Es ist also ein Zeichen höchster Unmenschlichkeit, diejenigen zu verachten, in denen wir unser eigenes Bild sehen müssen.
V. 8. Alsdann wird usw. Der Prophet zeigt, dass Gott nicht zu streng ist und nicht mehr von uns fordert, als billig ist, so dass die Heuchler ihn ganz grundlos allzu großer Strenge beschuldigen. Sie schelten ja, wenn ihre Werke verurteilt werden, und antworten, dass man Gott in keiner Weise genugtun könne und nicht wisse, was man tun oder welchen Weg man gehen solle. Die Entgegnung lautet, dass er nur ein lauteres, einfältiges Herz, d. h. ein reines Gewissen, sucht. Wenn dies vorhanden ist, dann will er gnädig sein und dieselben Leute, deren Trug er sonst mit Recht strafte, sammeln, der Heiligkeit Zeugnis geben und ihnen Segnungen aller Art spenden. Überhaupt besteht kein Grund, ihn murrend allzu großer Strenge und Härte anzuklagen. Denn sie werden ihn als einen gütigen Wohltäter erkennen, sobald sie jegliche Heuchelei ablegen und zur wahren Gottesverehrung gelangen. Bemerkenswert ist hier das Wörtchen „alsdann“; es deutet gegensätzlich an, dass die Heuchler gegenwärtig weit entfernt sind von dem wahren Dienste Gottes, während sie doch besonders heilig scheinen wollen. Aber der Prophet hält sie für genügend überführt, indem er an ihren Werken zeigen kann, dass sie Gott weder ehren noch fürchten. Als „Licht“ wird ein Zustand des Glücks bezeichnet, wie denn das Wort Finsternis der Ausdruck für ein elendes, trauriges Leben ist. Diese Redewendung kommt ja in der Schrift häufig vor. Das Wort „Besserung“ kennzeichnet den Zustand des Heils und der Unversehrtheit; denn die Schläge, die Gottes Hand dem Volke wegen seiner Sünde zufügte, hatten es niedergeworfen, dass es dahinschwand wie ein von Schwäche aufgezehrter Kranker. Denn keine Krankheit kann schmerzlicher sein, als unter dem Druck eines gerechten Gottesurteils zu leiden und von seinem Fluch verzehrt zu werden.
„Gerechtigkeit“ kann hier in zweifacher Weise verstanden werden: entweder als Zeugnis der Gerechtigkeit oder als rechte Ordnung, weil Gott die verwirrten Verhältnisse regeln und alles zurechtbringen wird. Im ersteren Falle ergibt sich etwa der Sinn: Wenn Gott dir gnädig geworden ist, wird das Zeugnis deiner Gerechtigkeit vor Gott und Menschen sichtbar werden. Es wird gleichsam ein Herold vor dir hergehen, der deine Gerechtigkeit anzeigt. Einige Ausleger verstehen dagegen unter Gerechtigkeit lieber eine rechte Leitung, die eine Gabe Gottes und ein Zeichen seiner väterlichen Huld ist; einige Male wird das Wort bei den Hebräern auch so gebraucht. Aber das folgende Glied „die Herrlichkeit des Herrn“ usw. veranlasst mich, die erste Erklärung zu wählen: Deine Gerechtigkeit wird hervorgerufen, d. h. alle werden dich als heilig und gerecht anerkennen, während du vorher angeklagt und überführt warst. So wirst du mit der Herrlichkeit des Herrn geschmückt werden, während du vorher mit Schande bedeckt warst. Dem Schimpf und der Schande sind wir ja preisgegeben, wenn wir für unsere Sünden bestraft werden.
V. 9. Dann wirst du rufen usw. Jesaja setzt seine vorigen Ausführungen fort: die Juden würden in allen Angelegenheiten Erfolg haben, wenn sie gerecht und unsträflich lebten, von jeglichem Unrecht sich fernhielten und so ihre Gottesfurcht und Frömmigkeit bewiesen. Es ist ganz dasselbe, was Hosea sagt und was Jesus wiederholt (Hos. 6, 6; Mt. 9, 13; 12, 7): „Barmherzigkeit ist besser als Opfer.“ Nachdem der Prophet so die Pflichten der Liebe besprochen und denen, die sie beobachten, eine gute Zukunft verheißen, fügt er hinzu: Dann wirst du rufen, und der Herr wird dich erhören. Das ist ja das hauptsächlichste Stück unseres Glaubens, dass wir von Gott erhört werden; kein größeres Unglück dagegen kann es für uns geben, als wenn wir ihn zum Gegner haben. Seine freiwillig und umsonst gespendeten Gaben gewährt er uns auf unsere Bitten, um unseren Glauben zu üben. Denn wenn er seine Wohltaten den Menschen immer aufdrängte, ohne dass sie sich darum zu bemühen brauchten, dann würde der Drang zum Gebet völlig erkalten, ja sogar aufhören, und Gottes Güte würde nur die Trägheit großziehen. Wenn nun aber auch seine reine Gnade uns zuvorkommt, so will er doch, dass unser Bitten dazwischentrete. Darum fügt der Prophet hinzu: Wenn du wirst schreien, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Diese Verheißung schließt zugleich die Ermahnung in sich, dass wir nicht in Trägheit darniederliegen sollen. Wenn der Herr seine Gegenwart verheißt, so erscheint er zwar nicht unseren Augen, aber durch die Tat selbst beweist er uns seine Nähe und seine Huld. Der Schluss des Verses sichert wiederum den Juden, wenn sie Vernunft annehmen wollen, Gottes gnädige Gesinnung zu. Dass man niemand beschweren soll, deutet auf jegliche Belästigung, mit der man arme Leute quälen kann. Der Prophet will sagen: wenn du nicht mehr deine Brüder bedrückst und dich von aller Gewalttat und Betrügerei fernhältst, wird der Herr dir Segnungen aller Art gewähren. Der Ausdruck „mit Fingern zeigen“ umfasst alle Arten von Beleidigung, dass man etwa dem Nächsten droht, ihn unbarmherzig behandelt oder ihm sonst Gewalt antut. Das an dritter Stelle genannte „übel reden“ ist eine besondere Form von Unrecht, dadurch wir dem Nächsten schaden, indem wir ihn mit listigen und trügerischen Worten oder mit Schmeichelei umgeben. Alles Unrecht besteht ja entweder in heimlicher Bosheit und Hinterlist oder in ungerechter Gewalttat.
V. 10. Und wirst den Hungrigen usw. Der Prophet fährt in der Empfehlung der Liebespflichten fort. Das ist ja der Inhalt der ganzen Verkündigung, dass die Menschen dem Herrn vergeblich dienen, wenn sie ihm nur kalte Zeremonien darbringen; es ist das auch keine ernste, wahrhaftige Verehrung Gottes, der ein gerechtes und uneigennütziges Zusammenleben mit unseren Nächsten ernstlich von uns fordert, sowie die Bereitwilligkeit verlangt, uns und unsere Kräfte gerne ihnen zu widmen und freudig und eifrig ihnen zu helfen, so oft es nötig ist. Die beiden, vom Propheten deutlich bezeichneten Seiten dieser Pflicht sind wohl zu beachten. Zunächst mutet er uns eine barmherzige und menschenfreundliche Gesinnung zu, sodann fordert er zur Tat selbst, zur Arbeit, auf. Es wäre ja nicht genug, den Menschen Wohltaten zu erweisen, wenn nicht unser Herz sich ihnen gütig zuwendete. Wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe, sagt Paulus (1. Kor. 13, 3), hätte aber der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Du sollst den Armen lassen finden dein Herz, - will ja besagen: Du sollst sein Leid mitempfinden und von seiner Not dich so rühren lassen, als wenn du selbst sie zu tragen hättest. Hinwiederum bezeichnet man alle, die sich diesem Zuge nicht ergeben, vielmehr selbstsüchtig sind, als solche, die ein eisernes und verschlossenes Herz besitzen, ihr Inneres verschließen und ihre Gefühle unterdrücken. Es folgt nun wieder dieselbe Verheißung unter demselben Bilde. Als „Finsternis“ wird der unglückliche, als „Licht“ der glückliche Zustand bezeichnet. Der Prophet will dem Volke sagen: Der Herr lässt alle Leiden, unter deren Druck du darniederliegst, aufhören und plötzlich eine Glückszeit anbrechen. Ohne Grund also rechten sie mit Gott über ihre schweren Heimsuchungen; sofort würden sie davon frei werden und das Glück erlangen, wenn sie Gott aufrichtig ehrten und ihm gehorchten.
V. 11. Der Herr wird dich immerdar führen usw. Jetzt wird deutlicher ausgedrückt, was bisher kurz und bildlich gesagt war: Gott will seinem Volk ein Führer sein, sodass demselben alle Güter reichlich zufließen müssen. Dass der Herr uns führt, pflegen wir zu sagen, wenn wir erfahrungsmäßig spüren, dass er auf unserem Wege vorangeht, als sähen wir ihn vor Augen. Der Prophet fügt hinzu, dass dies nicht bloß vorübergehend, sondern „immerdar“ geschehen wird: Gott verlässt die Seinen nicht mitten auf dem Wege, sondern führt sein Wohltun gegen sie in unermüdlicher Treue zu Ende. Darum verheißt der Prophet Sättigung im größten Mangel, da ja Gott jederzeit über die Menge aller Güter verfügt und der Not der Seinigen abhelfen kann. Und wertvoller noch als die reichlichsten Regengüsse eines ganzen Jahres ist sein Segen. Der Prophet verheißt den Gläubigen nicht lediglich ein fröhliches, herrliches Gedeihen der Früchte oder eine reiche Ernte, sondern die Fürsorge Gottes auch dann, wenn die Erde keine Nahrung hervorbringt: Er wird deine Seele sättigen in der Dürre. Damit fordert er sie auf zum Vertrauen auf Gottes Hilfe und zur Zufriedenheit, selbst wenn sie nicht von dem Übel der Dürre verschont bleiben. In diesem Sinne heißt es gleich nachher: Er wird deine Gebeine stärken. Damit bezeichnet er sie nicht nur als Menschen, die schlecht genährt sind, sondern als so mager, dass die Knochen aus der Haut hervorschauen. Mit dem Worte „Gebeine“ meint er also Leute, die vor Hunger und Kummer ganz ausgedörrt sind, die fast nur aus Haut und Knochen bestehen. Und die Juden werden nach seiner Darlegung mit dem Mangel an allen Dingen und mit der Armut kämpfen müssen, bis sie von Gott wiederhergestellt werden. Denselben Sinn haben die anderen Vergleichungen mit dem bewässerten Garten und der Wasserquelle. Jesaja kann sich nicht genug tun in der Schilderung der Güte Gottes, mit der er seine wahren Diener beglückt, auf dass die Menschen nirgends anders als bei sich selbst die Ursache der Unfruchtbarkeit suchen. Kurz, der Quell der Güte Gottes vertrocknet niemals, fließt vielmehr immerfort, wenn wir ihm nur nicht durch eigene Schuld den Weg versperren.
V. 12. Und soll durch dich gebaut werden, was lange wüste gelegen ist. Wüste lag Jerusalem in Folge der furchtbaren Vernichtung, die über die Juden bei ihrer Wegführung in die Gefangenschaft hereingebrochen war. Das Land wurde ja zur Einöde gemacht, die Stadt vernichtet, der Tempel zerstört, das Volk in die Knechtschaft geführt und zerstreut. Ausdrücklich wird auch erinnert, dass die Stadt „lange“ wüste lag, weil der Tempel nicht sogleich wiederhergestellt werden konnte, noch irgendeine Hoffnung auf seine Wiederherstellung oder auf Befreiung des Volkes vorhanden war. Denn wenn bei einer Zerstörung oder Vernichtung einer Stadt die Einwohner da bleiben, kann sie sogleich wieder aufgebaut werden; wenn aber gar keine Einwohner übrig bleiben, oder wenn sie in eine ferne Gegend weggeführt werden, oder ihr Wegbleiben sehr lange dauert, dann gibt es keine Hoffnung auf Wiederherstellung jener Stadt. Wie ein Wunder erscheint es, wenn jemand, nachdem sie lange zerstört dagelegen hat, verkündigt, dass sie von dem scheinbar untergegangenen Volk wiederhergestellt und auferbaut werden solle. Da diese Verheißung unglaublich war, wollte der Prophet dem Zweifel entgegentreten. Denn man konnte ihm entgegenhalten: Wenn Gott uns wiederherstellen will, warum lässt er uns dann so lange in dieser traurigen Lage? Er antwortet, dass keine Zeitdauer den Herrn hindert, das, was schon sehr lange darniedergelegen, wieder in die Höhe zu bringen. Dies darf aber nicht auf den von Serubabel begonnenen und von Nehemia fortgeführten Tempelbau beschränkt werden, sondern umfasst auch die einige Jahrhunderte später erfolgte Erneuerung der Gemeinde. Der Prophet ruft nun dem Volke zu: „durch dich“ soll Jerusalem gebaut werden. Buchstäblich: „Leute aus dir“ werden es aufrichten. Also aus jenem gleichsam erstorbenen Volke werden Männer aufstehen, die den elenden Zustand beseitigen und als Baumeister oder Werkführer den Wiederaufbau Jerusalems betreiben werden. Was also zunächst von einzelnen gilt, wird dann auch dem ganzen Volk zugeschrieben: Du wirst Grund legen usw. Doch bleibt der Sinn derselbe. Denn wenn man fragt: Wer hat Jerusalem wieder aufgebaut? dann war es gewiss jenes Volk; aber aus jener zahllosen Menge hat der Herr gleichsam unter Zurückstellung der anderen eine kleine Zahl ausgewählt. Dass der zu legende Grund für und für bleibe, deutet auf einen unvergänglichen Bestand der Gottesgemeinde. Andere Gebäude bestehen nicht lange, dies Gebäude aber wird viele Jahrhunderte überdauern.
Und sollst heißen: Der die Lücken verzäunt usw. Hier greift der Prophet beides zusammen: einmal, dass das Volk einem zerstörten Gebäude gleicht, sodann, dass es wieder in den früheren Zustand gebracht werden soll. Den Juden aber schreibt er die Aufgabe zu, Wiederhersteller und Wegbereiter zu sein, weil der Herr ihre Arbeit gebrauchen will. Alles muss man ja dem mächtigen Wirken Gottes zuschreiben, der uns so großer Ehre würdigt, dass er unsere Hände für sein Werk gebraucht. Hier haben wir eine herrliche Verheißung über die Sammlung und den Wiederaufbau der Trümmer der Gemeinde, eine Sache, in der wir, wenn Gott unsere Arbeit in Anspruch nehmen will, uns ihm ohne Zögern ganz hingeben sollen; auch wenn die Welt Widerstand leistet, uns höhnt und für wahnsinnig hält, sollen wir Mut fassen und alle Schwierigkeiten überwinden. Denn eine feste Zuversicht muss unseren Geist beseelen, sobald wir wissen, dass es sich um des Herrn Werk handelt, und dass seine Ausführung uns übertragen ist.
V. 13. So du deinen Fuß von dem Sabbat kehrst usw. Nach der Meinung einiger Ausleger spielt der Prophet auf die äußere Beobachtung des Sabbats an, weil man an diesem Tage keine Reise machen durfte. Wenn ich das auch nicht abweise, so haben doch nach meiner Meinung diese Worte eine weitreichende Bedeutung. Der Prophet meint den ganzen Lauf des menschlichen Lebens; wird ja doch, wie genügend bekannt ist, unser Leben als ein Gehen oder als eine Wanderung hingestellt. Er sagt also: Wenn du aufhörst, deinen seitherigen Weg fortzusetzen, wenn du Schluss machst mit deiner jetzigen Lebensführung, also nicht nach deinem Willen wandelst usw. Den Fuß vom Sabbat kehren heißt demnach, sich nachdrücklichst einprägen, dass man sich nicht ungehindert und schrankenlos von seinen Begierden treiben lassen darf. Wie der Prophet vorher unter dem Fasten alle Zeremonien und allen äußeren Schein verstand, darin man seine Heiligkeit suchte, und ihre Nichtigkeit und Nutzlosigkeit aufzeigte, so legt er hier die wahre Beobachtung des Sabbats dar und will uns einprägen, dass sie nicht in der äußeren Ruhe, sondern in der Selbstverleugnung besteht; wir sollen uns alles Unrechts und aller Bosheit, aller Begierden und bösen Gesinnung enthalten. Der Hinweis auf den Wandel unseres Fußes deutet nun zunächst auf die Werke; denn während die Juden am Sabbat keine Reise zu machen oder Fleisch zu kochen wagten, scheuten sie sich nicht, die Nächsten zu quälen und die Unglücklichen zu bedrücken. Die folgenden Worte gehen aber auch auf den Willen und die Worte über: so werden alle Stücke des dem Herrn schuldigen Gehorsams zusammengestellt.
Und den Sabbat eine Lust heißt. Der Sinn ist hier nicht, dass der Sabbat für Menschen, sondern dass er für Gott eine Lust ist. Denn für Gott kann es nichts Schöneres und Angenehmeres geben als die wahre Beobachtung des Sabbats und ein aufrichtiger Dienst vor ihm. Eifrig schärft der Prophet den Menschen ein, wie verkehrt sie handeln, wenn sie unter Hintansetzung der Gebote Gottes wertlose Werke hochschätzen, und fordert sie auf, lediglich nach seinem Willen die Dinge zu beurteilen. So zählt er wieder verschiedene Stücke auf, um daran zu zeigen, dass die wahre Sabbatbeobachtung in der Selbstverleugnung und der aufrichtigen Bekehrung bestehe. Darum bezeichnet er die Gesinnung als die Grundlage, aus der zunächst die Worte, dann die Taten hervorgehen. Wir reden das, was wir mit dem Geiste erfassen, offenbaren durch die Worte unsere Gesinnung, und dann kommt die Ausführung. Jeder also, der Gott wirklich dienen will, muss seiner fleischlichen Gesinnung völlig entsagen. Daran erkennen wir, warum der Herr in der ganzen Schrift so sehr die Beobachtung des Sabbats anempfiehlt. Er hat mehr im Auge als die äußere Zeremonie, d. h. die Ruhe und Arbeitsenthaltung – darin sahen ja die Juden die größte Heiligkeit -, vielmehr wollte er, dass die Juden ihre fleischliche Gesinnung fahren ließen, ihren Lüsten den Abschied gäben und sich gehorsam in seinen Dienst stellten; es kann ja niemand seine Gedanken auf die himmlischen Dinge richten, wenn er nicht sich und der Welt abgestorben ist. Nachdem jene Zeremonie abgeschafft ist, bleibt nichtsdestoweniger das eigentliche Wesen bestehen: wir sollen, weil Christus gestorben und auferstanden ist, einen ewigen Sabbat haben, d. h. wir sollen feiern von unseren Werken, auf dass der Geist Gottes kräftig in uns wirke.
V. 14. Alsdann wirst du Lust haben am Herrn. Dieser Satz spielt auf das Wort des vorigen Verses an, nach welchem es dem Herrn die höchste Lust bereitet, wenn wir den Sabbat in rechter Weise halten. Und er gibt zu verstehen, dass das Volk keine Freude von Gott erlangt, weil es ihn herausfordert und seinem Willen nicht gehorcht. Denn wenn wir unser Leben im Gehorsam gegen Gott führten, würden wir gleichsam seine Freude sein, und ebenso würde er unsere Lust sein. Der Prophet sagt also, dass es nur an den Juden liegt, wenn sie ihr Leben nicht im Vertrauen auf die gnädige Gesinnung Gottes fröhlich und glücklich zubringen. Darin liegt der versteckte Vorwurf, dass sie durch eigene Schuld sich viele Mühen bereiten. Aber es wird hinzugefügt, dass sie über die Höhen des Landes einherfahren werden. Damit wird ihnen die Rückkehr ins Vaterland und ein sicheres Wohnen daselbst verheißen. Wir wissen ja, dass Judäas Lage eine höhere war als die der benachbarten Länder; Babylon, wo das Volk wie in einer Höhle zitternd sich verbarg, lag niedriger. Gleich nachher verheißt der Prophet noch deutlicher das „Erbe deines Vaters Jakob“, das sie selbst damals noch bewohnten, dessen sie aber nachher eine Zeitlang beraubt wurden. Denn des Herrn Mund sagt es. Dies fügt der Prophet hinzu, damit man sich von der Wahrheit aller dieser Dinge unzweifelhaft überzeuge. Es muss dies aber nicht nur auf jene Verheißungen, sondern auch auf den Anfang des Kapitels bezogen werden. Er schalt ja die Heuchler, die eine gerechte Sache zu vertreten glaubten, und zeigte ihnen, wie sie mit Recht für ihre sündigen Taten bestraft wurden. Vergeblich streiten sie wider Gott und weisen auf ihre doch völlig nichtigen und wertlosen Werke hin. Deswegen führt der Prophet sie zurück zur wahren Beobachtung des Sabbats und zeigt, wie glücklich sie leben würden, wenn sie dem Herrn lauter dienten. So schließt er mit dem Hinweis, dass sie es nicht zu tun hätten mit einem sterblichen Menschen, sondern dass Gott, der Richter, dies verkündige.