Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 47.
V. 1. Herunter, Jungfrau, setze dich in den Staub. Was Jesaja seither in betreff des Ratschlusses Gottes und seiner Erfüllung nur kurz angedeutet hatte, führt er jetzt aus. Von Babylons Fall redet er nunmehr klar und deutlich. Solange das babylonische Reich bestand, war ja keine Rückkehr des Volkes zu erhoffen. Deshalb verbindet er den Sturz jenes Reiches mit der darauffolgenden Befreiung des Volkes. Denn jene gewaltige Stadt war wie ein tiefes Grab, in das die Juden versenkt waren. Der Herr musste es öffnen, um sein Volk in das frühere Leben zurückzurufen. Der Gebrauch der Befehlsform ist wirksamer, als wenn mit nackten Worten die schlichte Tatsache erzählt worden wäre. Majestätisch vom Richterstuhl aus redet der Prophet die Stadt an. Er handelt ja in Gottes Auftrag. Und darum verkündet er kühn die Zukunft. Es ist ja eine bekannte Sache, dass Gott seinen Propheten dazu Vollmacht gab. So lesen wir bei Jeremia (1, 10): „Siehe, ich setze dich heute dieses Tages über Völker und Königreiche, dass du ausreißen, zerbrechen, verstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.“ Jede Macht ist dem Worte Gottes unterworfen. Die hier gebrauchte Ausdrucksweise dient also dazu, den Juden in ihrer augenblicklichen Notlage Mut zu machen. Eine Änderung derselben konnte nur von einem unmittelbaren Eingreifen Gottes vom Himmel her erwartet werden.
Du Tochter Babel. Das ist eine hebräische Redeweise. Ein Volk wird oft „Tochter“ genannt. Jungfrau heißt sie, nicht weil sie keusch und züchtig gewesen wäre, sondern weil sie wie eine Jungfrau zart und weichlich behandelt und noch nie von Feinden vergewaltigt worden war. Von Sidon war dasselbe gesagt worden (23, 12). Es gibt ja auch heute Menschen, die nach dem Urteil der andern für überaus glücklich gelten, weil es ihnen an Macht und Vergnügen nicht fehlt. Da muss dann ein plötzlicher Umschlag in den Verhältnissen nicht bloß die Betroffenen, sondern auch die Zuschauer, und wenn sie noch so weit von der Gefahr ferne sind, aufrütteln und in Bestürzung versetzen. Dass man Babel nicht mehr die Zarte und Üppige nennen wird, will besagen, dass die Leute, die sie früher glücklich priesen, ihr nicht mehr zujauchzen werden.
V. 2. Nimm die Mühle usw. Die ganze Ausmalung geht darauf hinaus, darzustellen, dass den Chaldäern eine ganz furchtbare Umwälzung bevorsteht. Sie, die einst der höchsten Ehre gewürdigt waren, werden in ihrer tiefen Schmach und Schande vor aller Welt eine einzigartige Darstellung dessen gewähren, was es heißt: Gott zürnt. Was hier genannt wird, weist auf den niedrigsten Knechtsstand. Die wertlosesten Sklaven wurden vorzeiten in die Stampfmühle verwiesen. Das war das härteste Los, das nach der Anschauung jener Zeit einen Gefangenen treffen konnte. Sonst wurden Gefangene wohl auch von ihren Besiegern mit mehr Achtung und Güte behandelt. Hier wird aber das Niedrigste angeführt, was ihrer warten konnte. Denn die Gläubigen sollten nicht daran zweifeln dürfen, dass sie frei ausgehen sollten, wenn die Chaldäer, ihre jetzigen Zwingherren, in die Arbeitshäuser eingeschlossen sein würden. Wenn wir auch nichts davon lesen, dass die Ersten im Reiche so schmachvolle Dienste leisten mussten, so war diese Weissagung doch hinreichend dadurch erfüllt, dass Kyrus sie durch Übertragung von Knechtsdienst entehrte und sie zwang, allen standesgemäßen Beschäftigungen zu entsagen. – Flicht deine Zöpfe aus usw. Damit spielt der Prophet auf eine Sitte der Jungfrauen an, die ein Stück ihrer maßlosen Prachtliebe geworden war. Wir wissen, dass die Mädchen übertrieben viel Sorgfalt verwandten auf Haarschmuck und sonstigen Putz. Hier sagt der Prophet nun gerade das Gegenteil: vom Scheitel bis zur Sohle werden sie nichts als Schmach, Schmutz und Trauerzeichen an sich haben, sie, die früher ausgesucht fein auftraten. Die Jungfrauen betraten kaum die öffentlichen Straßen, jedenfalls gingen sie nur auf wohl geebneten Wegen. Die Chaldäerinnen aber müssen Flüsse überschreiten, und dazu noch mit nackten Beinen.
V. 3. Dass deine Blöße aufgedeckt werde. Solange das babylonische Reich blühte, behauptete es seine geachtete Stellung. Man kam ihm mit den höchsten Ehrungen entgegen. Macht und Ansehen verbergen ja oft wie mit einer Decke die hässlichen Geschwüre. Zieht man aber die Decke weg, so werden sie offenbar und ernten die größte Schmach. So sagt schon Demosthenes1): „Solange jemand kräftig ist, merkt man die körperlichen Gebrechen im Einzelnen nicht. Nimmt aber die Kraft ab, so kommt alles zum Vorschein, ob es nun ein Bruch ist oder eine Verrenkung oder irgendein anderes Gebrechen. Und so ist es auch bei den Staaten und Herrschern.“ Wenn nämlich ihre Machtstellung erschüttert wird und sie ihres Ansehens und ihrer Hilfsmittel verlustig gehen, treten ihre verborgenen Schäden zu Tage. Grausamkeit, Hinterlist, Raublust, Treulosigkeit, ungerechte Quälereien und andere Verbrechen, die man schätzte, so lange es wohl um die stand, welche sie übten, werden nach dem Umschlag der Verhältnisse als Schande gewertet.
Ich will mich rächen. Der Herr wird die Chaldäer vernichten und kein Erbarmen walten lassen.
V. 4. Unser Erlöser. Dieser Ausdruck zeigt, welchen Zweck die Rache Gottes an den Chaldäern hat: das Heil seines Volkes. Dies war auch schon früher gesagt worden. Aber diese Wendung ist weit wirkungsvoller. Denn der Prophet redet, wie aus einem Traum erwacht, in dem er die Zerstörung Babels geschaut hat, des Babels, das früher andere Völker zu unterjochen und mit Füßen zu treten gewohnt war. Der Herr will sich eben als Erlöser und Rächer seines Volkes erzeigen.
Der Heilige Israels. Diese Bezeichnung Gottes erinnert daran, dass er sein Volk nicht vergebens auserwählt und von anderen Völkern abgesondert hat. An ihm wollte er vielmehr seine Macht erzeigen. Eben in diesem Sinne ist Gott „heilig“.
V. 5. Setze dich in die Stille. Weiterhin redet der Prophet von dem nahen Ende des chaldäischen Reiches. Er hätte sich kürzer fassen können. Weil es aber so unglaublich schien, spart er die Worte nicht. Und die Sache ist ihm so lebendig, dass er sie schon in die Gegenwart verlegt. Dass Babel sich stillschweigend setzen soll, ist ein Zeichen von Scham und Schmach. Man kann dies Schweigen in Gegensatz bringen zu der einstigen Gewohnheit, die sie als Herrscherin hatte. Damals redete sie nicht nur voll Stolz, sondern auch mit lauter Stimme vom hohen Throne herab und schreckte mit ihren Erlassen den ganzen Osten. Jetzt hat sich die Lage geändert. Nun wird ihr befohlen, sich schweigend zu setzen. Sie wagt es nicht mehr, leise zu murmeln, geschweige denn schreckenerregende Worte zu sprechen. Des Folgenden wegen ziehe ich die Deutung vor: sie soll aus Scham schweigen. Denn wessen Lage sich verschlechtert, der schließt den Mund vor Scham und wagt kaum zu atmen. Babel soll nicht mehr heißen: Frau über Königreiche. Bekanntlich hatte das Chaldäerreich einen gewaltigen Umfang, und viele große Gebiete unterstanden seiner Macht. Es war ja die Herrin über viele Königreiche. Deshalb musste dem gefangenen Volke durch den verheißungsvollen Hinweis auf den Zusammenbruch der babylonischen Macht der Glaubensgrund gefestigt werden. Nur so konnte die Hoffnung auf Befreiung feste Wurzel in ihm fassen.
V. 6. Denn da ich über mein Volk zornig war usw. Wie des Öfteren, so erinnert der Prophet auch hier die Juden daran, dass das Unglück der Wegführung in die Gefangenschaft ihnen von Gott zur Züchtigung gesandt worden sei. Hätte es seinen anderen Ursprung, so wäre bei Gott keine Hilfe zu finden. Der sie geschlagen hat, der kann sie auch heilen. Aber sie sollen es ihrer Sünde zuschreiben, dass sie so hart bedrückt wurden. Indes fordert er sie auf, die Hoffnung nicht fahren zu lassen. Gott wollte sie ja nur züchtigen. Die Chaldäer fallen der Vernichtung anheim. Denn Gott, der in seiner Gerechtigkeit schon an sich jede Grausamkeit und Bosheit rächt, wird die seinem Volke zugefügten Unbilden insonderheit rächen.
Im ersten Teil des Verses werden übrigens die Juden zur Buße aufgefordert: durch ihre Laster haben sie sich so schweres Übel zugezogen. Dann klagt der Prophet die Chaldäer ihrer Grausamkeit wegen an. Wie ein Folterknecht einen Knaben, den sein Vater zu züchtigen befahl, hätten sie das Gottesvolk ergriffen. Die Chaldäer haben also keinen Grund, darauf stolz zu sein, dass sie mit ihrer Macht die Juden unterworfen und in Gefangenschaft geführt hatten. Denn da sie ihren Sieg falsch ausgenützt und die Gefangenen grausam behandelt haben, wird sie mit Recht die Strafe treffen. Wenn Gott aber sagt, er sei zornig gewesen und habe deshalb sein Erbe entweiht, dürfen wir doch nicht glauben, dass er seinen Ratschluss geändert und in Folge der erfahrenen Beleidigung die Sorge für sein Volk aufgegeben und seines Bundes nicht mehr gedacht habe. Man achte nur auf den Ausgang der Sache, sowie darauf, dass Gott Israel noch immer mit dem Ehrennamen „Mein Volk“ anredet, obwohl es ihm doch zum guten Teil entfremdet war und es ihn mit vollem Recht entweiht hatte. Ja, der Herr rechnet gerade mit seinem Bund, wenn er so spricht. Er sieht nämlich auf dessen Ursprung und seine Grundlage: wer von Abraham abstammt, der soll zum Volke Gottes gehören, wenn auch die wenigsten jenem wahrhaft ähnlich sind und sich nur mit seinem Namen schmücken. Ist also in der Schrift von Gottes Zorn die Rede, so ist nicht etwa an einen Ausbruch von Leidenschaft zu denken: will doch Gott sein Volk behüten! Der Ausdruck erklärt sich vielmehr aus unserem Verhalten, die wir diesen Zorn durch unsere Schandtaten hervorrufen. Gott hat also ein gutes Recht zu zürnen. Gleichwohl hört seine Liebe zu uns nicht auf. Er entweiht also seine Gemeinde, d. h. er gibt sie dergestalt dem Raub der Feinde preis, dass seine Erwählten nicht zu Grunde gehen und sein voriger Bund nicht gebrochen wird. Und während er zürnt, gedenkt der Herr seiner Barmherzigkeit und mäßigt die Plagen, die er über sein Volk bringt. Er straft endlich auch die, welche gegen sein Volk wüten. Wenn der Herr also eine Zeitlang seine Gemeinde entweiht, wenn Wüteriche sie grausam bedrücken, so soll uns dadurch der Mut nicht entsinken, sondern die Verheißung soll uns stärken: Er, der die chaldäische Unmenschlichkeit und Barbarei gerächt hat, wird nicht weniger auch jede andere Bosheit rächen. Man darf auch nicht übersehen, dass niemand den Sieg dahin ausnutzen soll, gegen die Gefangenen zu wüten, wie es häufig geschieht. Denn die Menschen legen nur zu gerne jede Menschlichkeit ab und werden wilde Tiere, schonen weder Alter noch Geschlecht, wenn sie die Oberhand haben, und vergessen ganz und gar ihre Bestimmung. Wenn sie nun ihre Macht missbraucht haben, werden sie zuletzt der Strafe verfallen. Die Unbarmherzigen werden auch ohne jede Barmherzigkeit ihr Urteil empfangen. Wie konnten aber die Chaldäer das von Gott bestimmte Maß überschreiten, als wenn kein Zügel ihre Lust gehemmt hätte? Und wo bleibt die Wahrheit des Wortes, dass kein Haar von unserem Haupte fällt ohne den Willen unsres Vaters im Himmel? Es stand freilich nicht in ihrem Gutdünken, das Maß tatsächlich zu überschreiten. Aber ihre Unbändigkeit wurde so gewertet, weil sie versucht hatten, arme, demütig flehende Menschen zu vernichten. So klagt auch der Prophet Sacharja (1, 15) über die Maßlosigkeit der Heiden: Gott war nur ein wenig zornig über sein Volk, sie aber stürzten sich wütend auf dasselbe, um es zu vernichten. Ihre Schuld wird aber dadurch vergrößert, dass sie nicht einmal die Greise verschont hatten, denen doch schon ihres Alters wegen Ehrfurcht gebührte. Daraus kann man folgern, wie sinnlos dann erst ihr Wüten gegen bewaffnete Feinde sein musste.
V. 7. Und dachtest: Ich bin eine Königin ewiglich. Damit brandmarkt der Prophet den Hochmut der Babylonier. Ihre Herrschaft hielten sie für ewig. Kein Unheil, glaubten sie, könne sie vernichten. So berauscht das Glück die Kinder dieser Welt; alles verachten sie alsdann. Diese Vertrauensseligkeit verlacht aber Jesaja und zeigt, dass sie bei Gott ganz und gar verhasst seien. Dass die Chaldäer „dachten“, zeigt, dass sie ihren Hochmut noch nicht offen zum Ausdruck brachten. Aber sie sind von ihrer Hoheit überzeugt, wenn sie es auch noch verborgen halten. Es ist aber ein ungeheuerlicher Wahnwitz, wenn Menschen, uneingedenk ihrer eigenen Hinfälligkeit, sich über die Allgemeinheit erheben. Auf diese Weise vergessen sie, dass sie eben auch nur Menschen sind. Die Gläubigen sind freilich sorglos, weil die Hand Gottes sie schützt, und weil sie darum auch bereit sind, jedem Missgeschick furchtlos zu begegnen. Doch vergessen sie nicht, dass sie vielen Unbequemlichkeiten ausgesetzt sind; denn nichts in der Welt ist beständig. Die Gottlosen beleidigen also Gott, so oft sie sich in ihrer törichten Einbildung inmitten all des beständigen Wechsels in der Welt ungestörte Ruhe versprechen. Um ihren Wahnsinn in das rechte Licht zu stellen, fügt Jesaja noch bei: nicht einmal die Länge der Zeit habe sie besonnen gemacht. Ein gewonnener Sieg hebt alsbald den Stolz. Das ist nicht so wunderbar. Aber je länger je mehr, von Tag zu Tag übermütiger werden und die Gefangenen quälen, das ist ganz und gar unerträglich. Das aber kommt, wie gesagt, von dem Hochmut, der nicht daran denkt, dass alles einmal sich ändert und eine hervorragende Stellung sich in das Gegenteil verwandeln kann. Das ist der Grund, weshalb der Herr das Reich der Babylonier stürzt.
Wie es damit hernach werden sollte. Dies weist auf den Untergang Babels. Der Herr redet ja oft von seiner Gemeinde, ohne den Namen besonders anzuführen, wie wir es auch zu tun pflegen, wenn wir uns gerne mit jemand beschäftigen. Die Gottlosen wissen nicht, welchen Ausgang es endlich mit der Gemeinde nehmen wird, und welche Absicht der Herr verfolgt, wenn er sie straft. Sie lachen über das Unglück der Frommen. Sie möchten sie ja am liebsten ganz und gar vernichten und merken nicht, dass Gott für die Seinen sorgt. Die Babylonier kannten den Gott, den die Israeliten verehrten. Wenn sie also immer ausfallender und übermütiger den Juden gegenüber wurden, so kränkten sie damit Gott selber. Sie missachteten geflissentlich ihn und den Bund, den er mit seinem Volke geschlossen hatte.
V. 8. So höre nun dies usw. Hier redet der Prophet wiederum vom Untergang Babels. Die Worte, mit denen er Babel anredet, sollen zur Ermutigung der Frommen dienen, damit sie über dem Glück der Babylonier nicht den Mut verlieren. Denn die Anrede an Babel hat nicht die Absicht, auf dieses einen Eindruck zu machen, sondern die Frommen zu trösten. Wenn es heißt, dass Babel in Wollust lebte, so soll nicht ein Zustand des Glückes, der ja Gottes Gabe ist, als an sich verwerflich erklärt, sondern nur darauf hingewiesen werden, wie leicht die Kinder dieser Welt von Freude und Genuss zu stolzem Übermut hinabgleiten.
Ich bin es, und keine mehr usw. Unleidlich ist diese Überhebung, in der sie sich über die ganze Welt stellen, einmal deshalb, weil sie sich überhaupt einbildeten, die übrige Welt gleiche ihnen nicht im mindesten, und endlich, weil sie sich in dem Glauben gefielen, ewige Ruhe zu haben. Fürs erste kann niemand in Wahrheit von sich sagen: „Ich bin“, - als allein Gott. Sein ihm eigentümlicher Name2) ist: „Ich bin, der ich bin“, dadurch unterscheidet er sich von den Geschöpfen. Der raubt also Gott die Ehre, der da meint, durch eigne Kraft zu bestehen. Indem Babel in dieser Weise sich erhob, führte es Krieg wider Gott. Fürs andere beschimpfte Babel die ganze Welt, indem es sich über sie stellte. So fangen die Übermütigen an, sich Gott zum Feinde und alle Welt ohne Ausnahme durch ihren Stolz zu Widersachern zu machen. Der Gipfel ihres boshaften Übermutes ist aber die Einbildung, ihr Herrschaftsstand bliebe ewig, ohne Rücksicht auf die Hinfälligkeit alles Irdischen. Denn es ist eine allgemeine Beobachtung, dass die Menschen desto tiefer fallen, je höher sie gestiegen waren.
V. 9. Aber es wird dir solches beides kommen usw. Da Babylon sich außer aller Gefahr wähnte, kündigt ihr der Prophet das schlimmste Unheil an: sie soll Witwe und kinderlos werden. Er sagt: dieser doppelte Schlag werde sie zu einem schimpflichen Schauspiel machen. Er fügt hinzu: vollkömmlich , d. h. sie wird gar nichts mehr zu eigen haben. Nicht Strafen werden sie treffen, bei denen man noch auf Milderung hoffen kann, sondern die furchtbare Rache Gottes, die keinen andren Ausgang kennt als Vernichtung. Denn je größer das Vertrauen der Gottlosen auf sich war, desto schwerer trifft sie die Strafe.
Um der Menge willen deiner Zauberer. Der Prophet verlacht das Vertrauen, das sich auf leere Wahrsagerei gründet, in der man die Zukunft zu schauen wähnt. Um dieser willen waren sie aller Furcht bar. Und dies war mit ein Grund zu ihrer Bestrafung.
V. 10. Denn du hast dich auf deine Bosheit verlassen. Hier tadelt der Prophet die Hinterlist und Ungerechtigkeit, die Gewalttätigkeit und falschen Künste, durch welche die Chaldäer zu großer Macht gelangten. Denn fast auf alle großen Reiche trifft zu, was jener Seeräuberhauptmann sagte, sie seien große Räuberhöhlen. Denn auf keine andere Weise erweitern sie ihren Machtbereich, als durch Anwendung von Gewalt und Unrecht, die sie an andern üben, und durch Vertreibung der rechtmäßigen Besitzer des Landes, um es allein beherrschen zu können. Was zuerst „Bosheit“ heißt, wird alsbald genauer als Weisheit und Kunst bezeichnet. So verhüllen nämlich meist die Tyrannen ihre Ränke, wenn sie unter Missachtung von Recht und Billigkeit mit Schlauheit Völker hintergehen. Aber der Herr ergreift und entlarvt sie, so dass die eitlen Hüllen von ihrer Bosheit fallen. So lesen wir bei Hiob (5, 13): „Er fängt die Weisen in ihrer Listigkeit.“ Wenn gleich folgt, Babylon hätte geglaubt, seine Schandtaten blieben verborgen, so deutet dies auf eine vollendete Zügellosigkeit sündigen Treibens. Hält nämlich die Menschen weder Furcht noch Scham bei ihrer Pflicht, dass sie weder Gott scheuen, noch sich vor Menschenzeugnis fürchten, so sind alle möglichen Verbrechen die Folge. Es ist zwar Tatsache, dass gerade die Schlechtesten manchmal Gewissensbisse empfinden: aber sie schließen ihre Augen und verfallen in Stumpfheit und Entschuldigungen, kurz sie verhärten sich ganz und gar. Ja, sie verhöhnen Gott und tun, als könnten sie mit ihrer Verschmitztheit ihm die Augen zuhalten. Aber der Herr wird ihnen die Maske leicht vom Gesicht reißen.
Ich bin es, und sonst keine. Noch einmal werden jene Lästerungen wiederholt, damit jedermann sehe, wie verabscheuenswert sie dem Herrn sind, und wie nahe das Verderben denen ist, die sich überheben.
V. 11. Darum wird über dich ein Unglück kommen usw. Auch hier verspottet der Prophet das eitle Vertrauen der Babylonier, welche die Zukunft aus den Sternen lesen wollten. Ihnen droht, was die heilige Schrift allen Verächtern Gottes ankündigt, dass sie plötzlich vom Verderben ergriffen werden, während sie in Frieden und Sicherheit sich wiegen. Am Morgen werden sie nicht wissen, was der Abend bringt. Dass es so gekommen ist, können wir klar bei Daniel lesen.
V. 12. So tritt nun auf mit deinen Beschwörern. Der Prophet redet, wie wir mit Menschen zu reden pflegen, die aussichtslos verloren sind, bei denen keine Mahnung mehr hilft: „Wohlan, handle wie sonst“, - der Erfolg wird dich ja wohl belehren. Du weißt ja, was du an deinen Sehern und Zeichendeutern hast.
Ob du möchtest dich stärken. Die Worte wollen besagen: Du wirst keine Niederlage, die dir droht, durch die Bemühung deiner Seher von dir fern halten können. Sie werden alles versuchen, aber ohne jeden Erfolg.
V. 13. Du bist müde vor der Menge deiner Anschläge. Nun sagt der Prophet ganz offen, was er früher etwas verschleiert hatte: alle Anschläge, welche Babel schon gemacht hat, werden ihm Verderben bringen. Denn das eitle Vertrauen auf seine Macht und Weisheit ließ in ihm gar nicht den Gedanken aufkommen, dass ihm irgendetwas zum Schaden gereichen könnte. Es ist übrigens nicht bloß von Anschlägen, sondern von einer Menge der Anschläge die Rede. Damit will der Prophet andeuten, wie sie sich vergeblich abmühten und anstrengten, aber auch wie erfahren und geistvoll sie sich als trügerische Baukünstler betätigten. Je zahlreicher und durchdachter ihre ränkevollen Anschläge aber waren, umso mehr Beschwerden hatten sie davon. Die Rede wendet sich überhaupt gegen solche Leute, die im Vertrauen auf ihren Verstand nach allen Seiten hin Anschläge machen und Pläne schmieden, und die, von ihrer Klugheit geleitet, alles nur Mögliche an Tücke und Unheil anhäufen, um andere zu unterdrücken. Denn Gott vernichtet alle ihre Erfindungen und stört ihre Listen (vgl. auch 30, 1 ff.). Sie wagen es, sagt der Prophet im Namen Gottes, einen Plan zu fassen, aber nicht nach meinem Willen; sie spinnen Gewebe, aber nicht nach meinem Geist. Und darum hält er nichts von den Plänen der Vielen, weil sie Gott, die Quelle aller Weisheit, zu ihren Beratungen nicht zuziehen. Denn je mehr sie sich zu schaffen machen, desto mehr Mühe laden sie sich auf. Und sie gehen ohne Erfolg aus. Gar deutlich sagt Salomo im 127. Psalm, dass diejenigen doch vergeblich arbeiten, die frühe aufstehen und spät sich niederlegen und ihr Brot mit Sorgen essen. Er meint die Ungläubigen, die ihre Sorgen nicht auf den Herrn werfen, sondern im Vertrauen auf ihren Fleiß kühnen Mutes vielerlei unternehmen. Über dieses Vertrauen lacht der Herr und macht ihre Erwartungen endlich zu Schanden, so dass sie die Nutzlosigkeit ihres Eifers und ihrer Versuche einsehen müssen. So büßen sie für ihre Unbesonnenheit. Indessen schlafen die Freunde Gottes ruhig, wie es dort heißt; - nicht weil sie von aller Mühsal los wären, sondern weil sie sich nicht in eitler Arbeit abmühen und den Erfolg all ihrer Geschäfte Gott anheimstellen.
Lass hertreten die Sterngucker. Hier sehen wir deutlich, welche Ratgeber der Prophet vor allem meint: jene Wahrsager, die sich unter dem eitlen Namen der Weisheit dem Volke anboten, als könnten sie aus der Betrachtung der Sterne die Zukunft erforschen. Von dieser Astrologie und ihrer Nichtigkeit haben wir früher geredet. Dem Einwurf, es hätte nicht in der Macht dieser Leute gelegen, die vorhandenen Gefahren zu beseitigen, halte ich entgegen: die Babylonier hätten auf ihre Warnung hin dies fertig gebracht, wenn sie die Niederlage vorausgesehen hätten. Da dies Letztere aber nicht geschah, so folgt daraus, dass ihre Kunst nichtig war. Eben diese ganze Kunst wird verurteilt, nicht etwa, wie manche Ausleger behaupten, bloß die Unwissenheit gerade der chaldäischen Sterndeuter verspottet. Ist es auch an sich nicht unrecht, den Lauf der Gestirne zu beobachten, so erklärt der Prophet doch, diejenigen überschritten das Maß des Erlaubten, welche die dunkle Zukunft daraus ergründen wollten. Und es scheint, dass diese Seher dem Propheten im Geheimen entgegenarbeiteten, wodurch sie sich noch verabscheuungswürdiger machten, weil sie alle göttlichen Weissagungen zu entkräften suchten. Denn wo die Geschicke von den Sternen abhängig gemacht werden, da muss jede Machtbefugnis Gottes fallen.
V. 14. Siehe, sie sind wie Stoppeln usw. Hier geht der Prophet den Astrologen noch schärfer zu Leibe, die den Übermut der Babylonier mit ihren eitlen Prahlereien steigerten. Betrüger dieser Art reißen ja gewöhnlich alle Gottesfurcht aus den Herzen der Menschen; wenn sie alles den Sternen zuschreiben, so bleibt ja nichts mehr für Gottes Vorsehung übrig. Daraus entsteht Verachtung Gottes und aller seiner Drohungen. Die Strafen sind ja nach ihrer Meinung kein Gericht Gottes, sondern eine Folge von Zufälligkeiten und Verhältnissen, die sie sich in ihrer Torheit zusammenreimen. – Aus diesem Grunde geht der Prophet so heftig gegen die Chaldäer vor und erklärt, sie seien Stoppeln gleich, die im Feuer rasch aufgebrannt werden. Nicht mit dem Holze vergleicht er sie, das man doch noch zur Erzeugung von Wärme gebraucht, sondern nur mit Stoppeln. Nichts ist ja leichter und hat weniger Wert als diese.
V. 15. Also sind sie, unter welchen du dich bemühet hast. Nachdem der Prophet den Astrologen ihre Niederlage verkündigt hat, wendet er sich wieder den Babyloniern zu und sagt ihnen: ihr werdet da keine Hilfe finden, woher ihr sie erwartet. Auch werdet ihr keinen Halt haben an euren eitlen Ratschlägen, mit denen ihr euch ganz umsonst so lange und oft abgequält habt.
Die mit dir Handel trieben. Bildlich werden die Wahrsager mit Handelsleuten verglichen, die mit endlosen Kniffen und jeder nur erdenklichen Betrügerei umzugehen wissen. Die Fürsten des Volks ratschlagten nicht, wie es ihrer Würde entsprach, sondern ließen sich durch schmähliche Künste fangen. Der Zusatz „von deiner Jugend auf“ stellt das Verfahren der Babylonier in noch grellere Beleuchtung. Vom allerersten Anfang an zeichneten sie sich durch eitlen Aberglauben aus, der ihnen gleichsam angeboren war.
Ein jeglicher wird seines Ganges hie- und daher gehen. Der Prophet soll hier von der Flucht der Astrologen reden, von denen jeder auf seine Rettung bedacht sei. Ich pflichte dieser allgemeinen Ansicht gerne bei. Aber ich glaube, in diesen Worten auch eine Anspielung auf die Himmelsbahnen sehen zu dürfen, welche die Astrologen teilen und messen, um daraus ihre Vorhersagen zu entnehmen. Es wird also ihre eitle Prahlerei verspottet: sie werden sich zerstreuen auf ihren Wegen und sich dabei verirren. Sie werden nirgends Schutz finden. Wenn aber jemand diese Worte lieber auf den Untergang derer bezieht, auf deren Hilfe sich die Babylonier verließen, habe ich nichts einzuwenden.