Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 42.
V. 1. Siehe, das ist mein Knecht. Hier geht der Prophet auf Christus über, in dem alle Verheißungen Ja und Amen sind (2. Kor. 1, 20). Was hätte Gott mit uns zu schaffen, wenn dieser Mittler nicht einträte, wenn wir in seiner Gnade nicht das Unterpfand unseres Heils und aller guten Gaben hätten? Und so sollten auch die Juden, denen die Befreiung verheißen, noch höher hinauf denken. War doch, was ihnen widerfuhr, nur ein Vorspiel der Erlösung durch Christus; ja, das Ende ihrer Gefangenschaft schloss die Wiederherstellung der gesamten Kirche in sich. Zu Christo also, dem Erstgeborenen, wenden wir uns als die in seinen Leib eingefügten Gotteskinder; nur auf ihn trifft das zu, was der Prophet reden wird. „Gottes Knecht“ heißt Christus in besonderem Sinn über alle Frommen und alle großen Lehrer der Kirche hinaus, weil ihn allein der Vater zu unvergleichlichem, herrlichem Werk berufen hat, das keinem sonst zukommt. Knecht nach seiner menschlichen Natur, denn er, der Sohn des Vaters, Gott von Art, kam ins Fleisch, um sich in den Gehorsam zu schicken; er hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an (Phil. 2, 6 f.). Und seine freiwillige Erniedrigung nimmt ihm nichts von seiner Würde; so sagt auch Paulus, dass ihm ein Name über allen Namen gegeben sei. – „Siehe“ – von der trüben Gegenwart sollen die Juden ihre Augen abwenden, um auf Christus zu schauen.
Ich erhalte ihn, d. h. ich richte ihn auf und festige seine Tritte. Und das alles tut Gott, indem er ihn, wie die nachfolgenden Worte sagen, durch seinen Geist regiert. Dessen bedurfte der Herr, sein göttlich Werk zu tun und ein Mittler zu sein zwischen Gott und den Menschen; denn dazu reicht sein menschliches Können nicht aus. Gottes Auserwählter oder Auserlesener heißt er, weil er die Botschaft der Versöhnung zu künden hat und Gott selbst überall sein Tun regiert. Hier leuchtet die freie Gnade, durch die der Vater auch uns im eingeborenen Sohn umfasst; und die Hoffnung ewigen Lebens, die wir erlangt haben, ist nur ein Widerschein der Erwählung unseres himmlischen Hauptes. Und wenn wir Christus hören, so lasst uns nicht achten auf Fleisch und Blut, sondern auf die Gotteskraft, die in seiner Niedrigkeit wohnt.
An welchem meine Seele Wohlgefallen hat. Ja, er allein ist dem Vater wohlgefällig, und nur durch seine Vermittlung ist Gnade bei Gott zu erlangen. In diesem Sinn wird unser Spruch auch im neuen Testament angeführt, wie denn Paulus sagt (Eph. 1, 6), dass wir in dem Geliebten und um seinetwillen versöhnt seien, wie Christus ja auch den Geist Gottes nicht für sich behält, sondern ihn weit und breit ergießt. Dass er das Recht unter die Heiden bringt, deutet nicht auf ein richterliches Urteil, sondern auf Gottes Regiment und Herrschaft; über alle Welt soll dieselbe sich ausbreiten: bisher wussten ja nur die Juden von Gott. Umso stärker musste diese Verheißung uns versichert werden, damit wir an unserer Berufung nicht zweifeln. Christus ist der, der alle Welt Gott zu Füßen legt. Und ohne ihn, und ehe er kam, war alles verwirrt und verkehrt. Ihm folge, wer recht und billig regiert sein will! Und seine Herrschaft bezieht sich auf unseren inwendigen Menschen, sie besteht in Einfalt des Gewissens, Lauterkeit des Lebens, nicht vor Menschen, sondern vor Gott. Durch die Kraft seines Geistes wandelt Christus unsere durch Adam verderbte Natur und schafft in uns ein neues Leben.
V. 2. Er wird nicht schreien usw. Der Prophet zeichnet die Armut des Auftretens Christi. Da ist kein Aufsehen und Pomp, wie bei irdischen Königen, die durch ihr Kommen Zusammenlauf und Getöse verursachen, als wenn der Himmel herabstürzte auf die Erde. Anders Christus in seiner Sanftmut; sein Reich ist nicht von dieser Welt, und seine milde Freundlichkeit lockt uns, ihm eilends zu nahen.
Dass er seine Stimme nicht erheben wird, will besagen, dass er kein groß Geschrei und Aufsehens von sich machen wird. Und bestätigen es nicht die Evangelien, dass es ihm fern lag, sich vor dem Volk zur Schau zu tragen? Wie oft hat er verboten, seine Wunder zu erzählen! Wie anders die Könige und Fürsten auf Erden, die durch das Geräusch um sich her die Menge zu gewinnen trachten!
V. 3. Das zerstoßene Rohr wird er nicht zerbrechen. Die Milde des Herrn gegen alles, was schwach und gebrechlich ist, tritt uns in diesem Verse vor die Augen. Das wollen die beiden Bilder besagen, das eine vom zerstoßenen Rohr: Er wird halbgebrochene Menschen nicht völlig brechen, sondern was er etwa Gutes in ihnen findet, hegen und pflegen. Und das andere vom glimmenden Docht: wo auch nur ein Funke der Frömmigkeit noch schimmert, da will er ihn anfachen. Und wenn jemand wankt oder auf beiden Seiten hinkt, weil er innerlich verrenkt oder gebrochen ist, der Herr verwirft ihn nicht sogleich als unnütz, sondern trägt ihn lange in Geduld, um ihn fester und beständiger zu machen. War nicht die Taube, die Gott bei der Taufe Christi erscheinen ließ, ein Abbild solcher Lindigkeit? Und das Verhalten Christi entsprach völlig dem, was hier geschrieben ist: Er erregte kein Getöse und trat nicht auf als Mann der Schrecken, wie die Könige dieser Welt; nicht drängen oder über das Maß drücken wollte er sein Volk, sondern ihm helfen und beistehen. So sollen seinem Vorbild gemäß auch die Diener des Evangeliums sanftmütig sein, die Schwachen tragen und sänftiglich leiten, um die Flämmchen der Frömmigkeit nicht auszulöschen, sondern anzufachen. Doch soll die Lindigkeit nicht dem Laster und der Verderbnis zu gute kommen.
Er wird das Recht wahrhaftig halten lehren, fügt der Prophet hinzu. Mit der Schmeichelei, die das Böse hegt, hat Christus nichts zu tun. So sollen auch wir uns vor dem doppelten Abweg hüten: durch zu große Strenge die Schwachheit zu brechen und durch zu große Milde das Unrecht zu schützen. Und um immer Bescheid zu wissen, gegen welche Menschen die Milde nach Christi Vorbild angebracht ist, sind die Worte des Propheten sorgfältig zu erwägen: zerstoßenes Rohr und glimmender Docht. Starke, hartnäckig widerstrebende und in zügellosem Wahnwitz dahingehende Menschen sind keiner Nachsicht wert; der zerschmetternde Hammer des Wortes soll sie treffen und brechen. Schonung und Milde in Ehren, nur aber zur rechten Zeit, in der richtigen Weise und gegen die rechten Personen; nicht dem harten, sondern dem biegsamen Rohr gegenüber, nicht dem ganz erloschenen, sondern dem glimmenden Docht, den Menschen, die der Belehrung Christi zugänglich und sie anzunehmen geneigt sind, denen, die noch einige, wenn auch noch so schwache Fünkchen in sich tragen. Dagegen kann die schonende Behandlung etwas vorhandener Untugenden nur zur Fäulnis führen, nimmermehr aber zu rechtschaffener Besserung schwacher Gemüter. Wir hart konnte Christus gegen seine Verächter sein! Mit ehernem Zepter weckt er sie, die sich seinem sanften Hirtenstab nicht beugen. Und derselbe, der seinen willigen Jüngern zuruft: „Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht“, trägt auch das Schwert aus Eisen, seine Feinde zu zerschmettern (Psalm 2, 9) und sich zu netzen mit ihrem Blut.
V. 4. Er wird nicht matt werden noch verzagen usw. Der Prophet bestätigt das im vorigen Vers Gesagte, dass Christus bei aller Lindigkeit gegen die Schwachen doch fern sein wird von weibischer Weichlichkeit. Mannhaft wird er das vom Vater ihm anvertraute Werk zum Ziele führen. Das ist Milde rechter Art, die sich nicht in zügellose Nachgiebigkeit verliert, sondern auf ihre Pflicht bedacht ist. Wie viele, welche die Wahrheit schnöde verraten, um der Welt gefällig zu sein! Und hinterher werden solche Schmeichler zum Gespött für jedermann, wenn die Verhältnisse sie nötigen, ihre tröstlich linden Worte zurückzunehmen. Christi Stärke aber soll alle Hindernisse besiegen; sein Dienst wird nach des Propheten Worten wirksam und fruchtbar sein. Denn es heißt nicht nur: bis dass er den Willen Gottes verkünde, sondern bis dass er auf Erden das Recht, d. h. das Regiment, die Herrschaft Gottes anrichte. Das bezieht sich nicht nur auf die dreijährige, persönliche Wirksamkeit des Herrn selbst, sondern auf den gesamten Lauf des Evangeliums, wie es durch seine Diener verkündigt wird. Und wer solch Amt übernimmt, der muss auf viel Schwierigkeit und Gefahr, Kampf und Entbehrung gefasst sein. Doch gilt es: nicht ablassen, sondern aushalten bis zum Ziel nach dem Vorbild des Herrn. Unter dem Gesetz ist die Lehre insgemein zu verstehen, und die Propheten betonen immer aufs Neue, dass sie nicht etwas Neues, Mose Widerstreitendes sei. Die Inseln sind, wie oben bereits erwähnt, die jenseits der Meere gelegenen Länder: nicht nur den Juden gehört Christus zu, sondern auch den Heiden, die mit dem Gottesstaat Israels nichts zu tun haben; aller Welt soll die Frucht der Erneuerung und Wiederherstellung zu teil werden, und „warten“, begierig verlangen werden die Auserwählten aller Geschlechter auf die Darbietung der frohen Botschaft. Sind sie auch früher als verlorene Schafe in der Irre gegangen, - sobald sie die Stimme des guten Hirten hören, eilen sie herzu und legen sich ihm zu Füßen, wie denn Christus selbst gesagt (Joh. 10, 16): „Sie werden meine Stimme hören.“ Und wie wahr ist Augustins Wort: Viele Schafe sind außerhalb des Stalles, und die Wölfe weilen drinnen! Und das Aufmerken auf Christi Wort ist auch ein Werk Gottes; nicht dass wir tüchtig wären von uns selber: auf ihn, unseren Meister Christus, sind wir allein gewiesen.
V. 5. So spricht Gott, der Herr usw. Möchte das, was hier vom Reiche Christi gesagt wurde, bei der gegenwärtigen Lage unglaublich erscheinen, die Allmacht Gottes steht dafür ein, und wir sollen nicht zweifeln, dass, der die Welt aus Nichts geschaffen, der die Himmel ausgebreitet und allem Lebendigen seinen Odem gegeben hat, auch seine Verheißungen halten wird. Um seiner Allmacht willen müssen wir seinem Wort unbedingten Glauben schenken. Ihm ist es ein Leichtes, das, was am Boden liegt, aufzurichten.
V. 6. Ich, der Herr, habe dir gerufen in Gerechtigkeit. Soll das auf den Sinn hinauskommen: Christus werde die Menschen den Weg der Gerechtigkeit führen? Davon ist hier nicht die Rede. „In Gerechtigkeit“ ist ganz schlicht auszulegen: auf gerechte, heilige Weise. Und weil Gott also Christum berief, darum ist diese Berufung auch fest und wohl gegründet. Und habe dich bei deiner Hand gefasset: dies deutet auf gegenwärtige Hilfe Gottes. Wie ich dich berufen, so will ich dich in dieser Berufung bestätigen und sicher führen; ich will dich schützen, ja ein Helfer und Rächer will ich dir sein, dessen Gegenwart du inne werden sollst auf Schritt und Tritt. Und habe dich zum Bund unter das Volk gegeben. Das jüdische Volk ist hier gemeint, ihm gebührt in dieser Verheißung die erste Stelle. Denn ehe die Scheidewand, von der Paulus (Eph. 2, 14) spricht, niedergerissen war, hatten die Juden um des Bundes willen, den Gottes Freundlichkeit mit ihnen gemacht, einen Vorzug vor den Völkern der Heiden. Aber wie kann denn nun Christus als Bund für das Volk bezeichnet werden? Hatte Gott nicht den Abraham 2000 Jahre zuvor erwählt? Auch der Abrahamsbund war in Christo gegründet, wie aus dem Wort hervorgeht: In deinem Samen sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Dieser Same aber ist Christus, und erst durch seine Ankunft wird der so lange Zeit vorher geschlossene Bund bestätigt. In Christo sind alle Verheißungen Gottes Ja und Amen (2. Kor. 1, 20); er heißt (Röm. 15, 8) ein Diener der Beschneidung, um die Verheißungen zu erfüllen, die den Vätern gegeben sind. Und er wird (Eph. 2, 17) der Friede für alle genannt, auf dass die vorher Getrennten in ihm zusammen wachsen, und also alle, die Nahen und die Fernen, zusammen mit Gott versöhnt werden sollten. So ist er denn nicht nur den Juden, sondern der ganzen Welt verheißen; an unserer Stelle wird er ja nachdrücklich zum Licht der Heiden bestimmt. Waren doch diese in tiefste Finsternis versenkt, während zur selben Zeit der Herr den Juden vorleuchtete. Jetzt aber ist es nur unsere Schuld, wenn nicht auch wir sein Heil gewinnen. Öffnen wir nur die Augen, so wird er unsere Finsternis licht machen und mit dem Schein seiner Wahrheit unsere Gemüter füllen.
V. 7. Dass du sollst öffnen die Augen der Blinden usw. Der Segen, den Christus uns bringt, und unsere Bedürftigkeit tritt hier vor unser Auge, unsere Blindheit, ihn zu erkennen, ehe wir von ihm erleuchtet werden, unsere Armut und Finsternis, ehe unser Heiland uns sein Licht aufgehen lässt. Und obwohl Gott hier Christum selbst anredet, so tut er es doch um unseretwillen, dass wir wüssten, was wir zu hoffen haben, und nicht zweifeln möchten an ihm, welcher der rechte Arzt für alle unsere Schäden ist. Der Vater schreibt dem Sohn nicht vor, was er zu tun hat, als ob es dessen bedürfte. Wir, wir sollen wissen, wozu er uns gesendet ist, sollen seine Würde und Hoheit ermessen, dass der Vater ihm die höchste Herrschaft übergeben hat, damit unser Glaube umso sicherer in ihm ruhe.
V. 8. Ich, der Herr, das ist mein Name. Wie tief muss uns die Krankheit der Ungläubigkeit im Blute liegen, da Gott sich nicht genug tun kann, sie zu heilen! Misstrauisch sind wir von Natur und schenken auch der Rede Gottes nicht eher Glauben, bis er von Grund aus unsere Herzenshärtigkeit erweicht hat. Und auch nachher würden wir oft um unserer Leichtfertigkeit willen in denselben Fehler verfallen, wenn er uns nicht immer aufs Neue Zaum und Zügel anlegte. So bekräftigt er auch hier abermals, was er schon gesagt. Seiner Verheißung über das Amt Christi drückt er hier das Siegel auf: der solches verspricht, der bezeugt, dass er allein Gott ist, dass nur ihm dieser Name zukommt. Und will meine Ehre keinem andern geben; sie soll nicht gemindert werden, indem ich meine Verheißungen nicht erfüllte. Ja, darin besteht vornehmlich seine Herrlichkeit und das ist der festeste Grund unserer Zuversicht, dass er nicht trügt, und was er zusagt, hält er gewiss. Und gegen alle Versuche Satans, seine Ehre zu verdunkeln, stellt er, der einige Gott sich den Götzen gegenüber: Ich will ihnen meinen Ruhm nicht geben, nicht dulden, dass die Ungläubigen sich wider die wahre Religion rühmen und meine Kirche unterdrücken. Und hat Gott nicht auch uns bisher so sanft und schonend geleitet, weil er sein Evangelium nicht dem gotteslästerlichen Schimpf der Papisten aussetzen will? Unbefleckt muss seine Ehre bleiben, mit starkem Eifer wacht er darüber, dass sie auch nicht zum kleinsten Teil einem anderen gegeben werde.
V. 9. Siehe, was ich vorhin habe verkündigt, ist kommen, so verkündige ich auch Neues. Aus der Erfüllung der früheren Weissagungen schöpfe der Glaube an das Künftige seine Kraft. Was wir selbst erfahren haben, das festigt und stärkt. Beschämend genug, wenn ihr mich in allem, was ich zu den Vätern redete, treu erfunden habt und wollt mir für das, was kommt, keinen Glauben schenken! Möchten doch die Guttaten Gottes, die wir erfahren, uns alle darin bestärken, Zeit unseres Lebens zu ruhen in dem Wort, das die Hoffnung kommenden Heils in sich birgt!
Ehe denn es aufgeht, lasse ich es euch hören. Das unterscheidet Gott und die Götzen. Diese wissen nichts von dem, was künftig ist. Ihre Orakel waren, wie wir sahen, falsch oder irreführend, und die darauf achteten, wurden jämmerlich betrogen. Und wenn wirklich auf den ersten Blick Erfüllung stattzufinden schien, in umso tieferes Verderben versanken sie bald. Gerechtes Gericht Gottes über alle, die vom Satan sich blenden lassen! Anders die Verheißungen, die der Gemeinde Gottes zum Heil, zur Sinnesänderung gegeben sind; sie richten die Hoffnung auf, dass wir unter der Last der Gerichte nicht verzagen.
V. 10. Singet dem Herrn ein neues Lied. Hier fordert der Prophet zum Dank auf, als hätte man das gnädige Tun Gottes schon vor Augen. Liegt darin nicht eine sonderliche Bestätigung der vorher gegebenen Weissagung? In der Zeit schweren Drucks sollen die Gläubigen ihr Gemüt zur Freude, zur guten Hoffnung erheben und ein Danklied singen. Singen, dass Christus der Welt offenbar geworden ist, vom Vater gesendet zur Erlösung der Kirche, zur Erneuerung der ganzen Welt! Und das alles in dem Augenblick, wo die Dinge aussichtslos standen, der Glaube zu wanken drohte, und alle prophetische Vorherverkündigung als eitel und lächerlich erscheinen musste. Ein neues Lied d. h. ein auserlesenes, köstliches, wie ja auch die Gnade in Christo, die es preisen soll, über alles Denken und Begreifen geht. Preise hoch Gottes Lob, je mehr du seine Wohltat erfahren hast! Und wenn alle ihn zu loben Ursache haben, da sie ihm alle verpflichtet sind, wie viel mehr muss die Stimme überschwänglichen herrlichen Lobes von den Lippen derer klingen, denen Gott in Christo den Quell aller Segnung eröffnet und den Reichtum himmlischer Güter verliehen hat! Aber solch ein Lied kann nur von denen gesungen werden, die da neu geworden sind; denn aus tiefstem Herzen muss es quellen und Gottes Geist selbst muss es eingeben. Alle Welt fordert der Prophet zum Danke auf, da Christus nicht nur diesem oder jenem Volke, sondern allen zugleich bestimmt ist.
V. 11. Ruft laut, ihr Wüsten usw. Die dem Volk bekannten Weltenden hebt der Prophet besonders hervor: im Westen Judäas lag das Meer mit den Inseln, von denen der vorige Vers sprach; im Osten die Wüste und Arabien. Letzteres ist hier unter den Hütten Kedars, der Wüste und den Felsen zu verstehen, und es bezeichnet zusammenfassend den ganzen Orient: vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne soll das Lob des Herrn erklingen, weil er nun allenthalben verehrt wird.
V. 12. Lasst sie dem Herrn die Ehre geben usw. Groß soll dieser Schall des Lobes Gottes sein; mit dankerfüllter Stimme soll die Erlösung und ihr überall ausströmender Segen gepriesen werden. So ziemt es uns auch heute noch, mit lebhafter Empfindung die Stimme laut zu erheben, wenn wir Gottes Lob künden; in flammender Begeisterung, die sich auch anderen mitteilt. Das ist ein Zeichen dessen, dass wir die Gnade wahrhaft schmecken und fühlen.
V. 13. Der Herr wird ausziehen wie ein Riese usw. Um die Frommen tüchtig zu machen, der Anfechtung Herr zu werden, weist der Prophet auf Gottes schützende Kraft und Stärke hin. Denn um deswillen haben wir ja solche Not im Unglück, weil Gottes Hilfe uns zweifelhaft wird, zumal, wenn er zaudert und unsere Hoffnungen zu versäumen scheint: ausziehen wird er, wie ein Riese, er, der sich eine Weile verborgen; ans Licht wird er treten, um Hilfe zu bringen. Nicht als ob ihm die leidenschaftliche Erbitterung eines Kriegführenden eigen wäre: in bildlicher Weise und in Anbequemung an menschliche Verhältnisse soll die Zuverlässigkeit der Hilfe hervorgehoben werden, die uns auf andere Weise nicht so eindrücklich werden könnte. Unserer Schwachheit trägt der Prophet Rechnung; der brennende Eifer des Herrn für die Erhaltung der Seinigen, seine tiefe Bekümmernis über ihren Fall, sein schrecklicher Zorn, wenn er sich gürtet zu rächendem Kampf, soll uns vor die Seele treten. Und auch hier haben wir die Zeit, für die der Prophet schreibt, im Auge zu behalten: bei dem unmäßigen Wüten der Feinde und ihrer Beschimpfung des unglücklichen Volkes waren die Frommen darauf gewiesen, allem, was sie vor Augen sahen, zuwider an die Macht Gottes zu glauben, welche die Feinde zu Boden zu werfen und sie aus ihrer Hand zu erretten vermochte. Aber nicht nur für die Zeit der Gefangenschaft galt es, aus dieser Verheißung Trost zu schöpfen, sondern auch späterhin; denn bis zur Erscheinung Christi blieben dem Volk die härtesten Mühsale nicht erspart.
V. 14. Ich schweige wohl eine Zeitlang usw. Der Versuchung zur Ungeduld will der Prophet wehren. Ist es nicht ärgerlich, wenn Gott schweigt, und seine Feinde erheben sich, wenn er kalt bleibt und sie flammen in böser Begierde und rennen dahin in rasender Wut? Die also Angefochtenen richtet Jesaja auf, und insbesondere warnt er sie davor, des langen Wartens überdrüssig zu werden. Denn seit Josaphats Tode waren beständig vernichtende Kriege über sie dahingebraust, die Aussicht auf 70 Gefangenschaftsjahre kam hinzu, und auch hinterher noch sollte der Bedrängnis kein Ziel gesetzt sein. Umso nötiger war die Erquickung daran, dass das Zaudern Gottes für die Frommen, die geduldig bleiben, kein Verlust, und für die Ungläubigen kein Anlass zu schrankenlosem Übermut ist. Gott hat sich seiner Macht nicht begeben, auch wenn er wie ein Zuschauer „stille ist und sich enthält.“
Nun aber will ich wie eine Gebärerin schreien. Die heilige Glut und Zartheit der Liebe Gottes wird in diesem Bilde ausgedrückt: der Mutter ist er gleich, die das Kind, das sie mit Schmerzen geboren, über alles liebt. Hier knüpft wiederum die Rede an Dinge, die uns bekannt sind, an, um das uns Unbekannte zu erklären. Denn über unser Verstehen hinaus, unvergleichlich viel reiner und vollkommener als die Liebe der Menschen ist die Liebe Gottes, gänzlich fern von stürmisch erregter Leidenschaft. Im Übrigen stellt das vom Prophet gebrauchte Bild auch die Befreiung des Volkes als eine Geburt aus dem Mutterschoße dar, den Juden zum Zeichen, dass sie auch im Grab der Verwesung die Hoffnung behalten möchten. Der Vergleich mit der Gebärerin kann Gottes Macht und Majestät nicht mindern, denn dem Propheten kommt es hier auf die Zärtlichkeit der göttlichen Liebe an. Anderwärts vergleicht er Gott um seiner Macht willen mit einem Löwen oder Riesen.
V. 15. Ich will Berge und Hügel verwüsten usw. Alle Vorräte und Hilfskräfte der Gottlosen werden Gott nicht hindern, sein Volk zu befreien. Und um die Furcht zu bannen, die vor der strotzenden Machtfülle der Widersacher erbleicht, kündet der Prophet eine Umwälzung an, infolge deren die Mächtigsten zerschmettert werden und alle gegen Gott gerichteten Versuche ohnmächtig zu Boden fallen sollen. So haben wir es ja schon oben gesehen, dass die göttliche Macht nicht an die natürlichen Mittel gebunden ist, sondern auf wunderbare Weise Rat zu schaffen und alles, was hindert, aus dem Wege zu räumen vermag.
V. 16. Aber die Blinden will ich auf dem Wege leiten usw. Unter den Blinden sind hier die zu verstehen, die, in schwierige Verlegenheiten verwickelt, nicht wissen, wo aus und ein. Kein Ausgang, überall gähnender Abgrund und brausende Strudel! Ja, gehen die Dinge nach Wunsch, dann sieht das Auge auch ebenen gleichmäßigen Weg; aber mit unseligem Dunkel umnachtet es sich beim Drohen rauer, hoffnungsloser Widerwärtigkeit. Aber gerade da sollten wir am mutigsten hoffen. Es ist uns nur gut, wenn es gelegentlich zum Äußersten kommt, dass wir keinen Ausweg sehen und Blindheit uns umfängt, damit wir es lernen, von Gottes alleiniger Hilfe abhängig zu sein und auf sie zu bauen. Denn ist auch nur ein Brettchen da, an das wir uns klammern könnten, so ergreifen wir es doch mit heißer Begierde, werden hierhin und dorthin gerissen, und das Gedächtnis himmlischer Gnade entschwindet uns ganz. So ist den geradezu, soll Gott uns Hilfe bringen, die Blindheit uns vonnöten, dass wir unsere Augen verschließen vor der gegenwärtigen Not und unser Urteil hemmen, um seiner Zusage von tiefstem Herzen zu trauen. Ist diese Blindheit auch unbequem – sie zeigt uns unsere Schwäche – so ist sie doch, ihren Segen angesehen, nicht zu verachten: weit besser, als ein Blinder von Gottes Hand regiert werden, als in überkluger Scharfsichtigkeit sich Irrgänge zurecht machen! Er, der Herr, wird leicht unsere Finsternis in Licht verwandeln und die höckerichten Hügel niedrigen, so dass wir sicher wandeln können. Doch gibt er solche Verheißung nur den Gläubigen, die ihre Blindheit erkennen, ihn zum Führer nehmen und in der Trübsalsnacht den Aufgang seiner Gnadensonne geduldig erharren; ihnen reicht er die Hand, nicht aber den Listigen, die gegen seinen Willen zu schauen begehren und auf verbotenen Wegen jählings dahinstürzen.
V. 17. Aber die sich auf Götzen verlassen usw. Hier ist zum Überfluss klar, auf wen sich das früher Gesagte bezieht. Seinem Volk wird Gott sich als Führer entbieten, aber die Götzendiener sollen zu Schanden werden. So ist auch uns die Wahl gestellt und der Weg der Errettung und des Todes vorgelegt. Ruhen wir nur vertrauend in Gottes Wort, so wird, wenn auch nach mühseligem Ringen, unser Hoffen seines Ziels nicht fehlen. Der Götzendienst ist zwiefacher Art; dem Propheten schwebt hier die gröbere Gestalt vor, die den Bildern göttliche Ehre in Glaube und Anbetung erweist. Aber ist es nicht übertrieben, wenn er von Menschen redet, die zum Bilde sprechen: Du bist mein Gott? Bekennen es nicht auch die Abergläubigen, dass Gott im Himmel ist? Gleichwohl, alle Götzendiener legen den Bildern göttliche Kraft bei. Wozu denn sonst die betende Zuflucht zu Statuen und Gemälden, wozu die mancherlei Gelübde zu Holz und Stein? Mit Recht ergeht die Anklage des Propheten, und es wird den Götzendienern nicht gelingen, ihre blöde Stumpfheit, durch die Gott dem Herrn das höchste Unrecht geschieht, mit Goldfarbe zu übertünchen.
V. 18. Hört, ihr Tauben, und schaut her, ihr Blinden, dass ihr seht! Hier meint der Prophet eine andere Blindheit, als in V. 16; die nämlich, die am hellen Tage im Dunkeln tappt und Gottes Werke nicht schaut; und taub heißen die stumpfen Gemüter, die den Herrn nicht hören und träge in den Hafen ihrer Unwissenheit versinken. Und der Vorwurf der Blindheit wird hier nicht Israel allein, sondern allen Völkern gemacht, da Gott sich ihnen insgesamt durch die Kreatur, durch die Stimme des Gewissens und durch seine wunderbaren Werke offenbart hatte; wenn sie seine Macht und Wahrheit nicht erkannten, so war lediglich ihre Taubheit und Blindheit daran schuld, dazu böswilliger Undank: denn der Mangel an Aufmerken bei aller Klarheit der Zeugnisse verursacht erst zum guten Teil die Blindheit.
V. 19. Wer ist so blind, als mein Knecht? usw. Viele meinen, in diesem Verse führe Jesaja die Schmährede der Gegner an, die den ihnen gemachten Vorwurf zurückgäben: „Ihr Knechte Gottes, ihr Propheten seid ja selbst blind! Was beschuldigt ihr andere?“ Allein die genauere Beschreibung der Blindheit im Folgenden passt doch unmöglich auf die Propheten. Wir haben ganz einfach zu erklären: der im vorigen Verse enthaltenen allgemeinen Beschuldigung der ganzen Menschheit entspricht hier die besondere Anklage gegen die Juden. Ihnen hatte Gott nicht nur das allgemeine Licht der Vernunft, sondern sein Wort, die strahlende Leuchte seiner Lehre und seines Gesetzes leuchten lassen; so hätten sie ihn schauen und erkennen sollen, auch wenn alle anderen mit Blindheit geschlagen waren. So konnte ihnen auch der besondere Tadel nicht erspart bleiben: Was streite ich mit denen, die mir fern stehen? Dass die blind sind, ist nicht verwunderlich. Ungeheuerlich aber, wenn meine Knechte das Licht nicht sehen, das vor ihren Augen leuchtet, die Stimme nicht hören, die in ihre Ohren dringt! Ist meine Botschaft so klar, dass sie auch Blinden und Tauben zugänglich sein müsste, wie überschwänglich muss die stumpfe Blindheit und Taubheit derer sein, die vor allen anderen hätten sehen und hören sollen!
Mein Bote, den ich sende. Stufenweise steigt der Prophet auf vom Volk zu den Priestern, den Vornehmsten und Höchsten im Volk. Ihr Amt war es, das Gesetz auszulegen, andern ein gutes Beispiel zu geben und den Weg des Heils zu zeigen. Wie beklagenswert, wenn auch sie in Blindheit irren, die anderen Führer zu sein berufen sind! So wiederholt und verstärkt der Prophet hier, was er schon vorher über die Unachtsamkeit der Juden gesagt. Wir aber mögen bedenken, dass unsere Verantwortlichkeit noch größer ist, da wir von Gott eines offenen Zugangs zu seinem Herzen und einer hohen Ehrenstellung gewürdigt sind.
Wer ist so blind als der Vollkommene? So nennt der Prophet die Kinder Israels mit Rücksicht darauf, dass sie es sein sollten. Und dem Stand der Vollkommenheit stellt er tadelnd den schnöden Abfall gegenüber und die schmähliche Entweihung der hehren Güte Gottes. Hatten sie eine untrügliche Richtschnur der Gerechtigkeit, so stand es bei ihnen, ihr auch Folge zu leisten.
V. 20. Sie sehen wohl viel, aber sie beachten es nicht. Doppelt ist die Blindheit des Volkes, doppelt wird auch die Schuld vor dem Gerichtsstuhl Gottes sein. Zwar haben auch die Völker keine Entschuldigung, Israel aber ist zwiefacher Verdammnis wert: es wollte weder Gottes Licht schauen, noch Gottes Wort hören. Lasst auch uns sein Gericht fürchten, denn die Blindheit ist heutzutage nicht minder groß, wie damals bei den Juden.
V. 21. Der Herr wollte ihnen wohl um seiner Gerechtigkeit willen, dass er das Gesetz herrlich und groß mache. Noch höher häuft der Prophet die Schuld der Juden. Hatten sie in den Drangsalen, die ihnen auflagen, eine Bestrafung der Blindheit zu sehen, die sie sich mutwillig zugezogen, so ließ ihre fernere Hartnäckigkeit auch keine Erleichterung ihrer Lage zu. So viel an Gott war, hätte er gern und willig seines Volkes Bande gelöst, um sein Gesetz herrlich zu machen und seine Gerechtigkeit zu erheben. Denn den Unwürdigen Hilfe erzeigen, durch seine Herrlichkeit ihnen aushelfen zum Heil, darin eben zeigt sich seine Gerechtigkeit, darin grünt und blüht sein Gesetz. Und das Unglück der Juden kommt allein daher, dass sie lieber in eigensinniger Blindheit dahingingen, als dem Gott gehorsam sein wollten, der es so wohl mit ihnen meinte. Andere Ausleger verstehen die Gerechtigkeit Gottes hier von der Strafe, die dem gottlosen Volke drohe, andere deuten sie auf Christum; aber ohne Zweifel ist sie hier als die Treue und Willigkeit Gottes, die Herrlichkeit seiner Zusage zu erweisen, gemeint. Auch die Deutung, der Prophet wolle Gott in Schutz nehmen um des bösen Scheines willen, den das Unglück des auserwählten Volkes erwecke, ist dem einfachen Sinn der Stelle zuwider. Unsere Sache ist es, wohl zu bedenken, was die Gnadenabsicht Gottes bei der Erweisung seiner Wohltaten ist: Sein Gesetz will er ausbreiten, zur Anbetung seiner Herrlichkeit die Menschen führen, dass ihnen immer völliger das Licht seines Wortes leuchte. Und zu diesem guten und gnädigen Willen wird er nicht durch dieses und jenes, sondern durch sich selbst getrieben: „um seiner Gerechtigkeit willen.“ Darum übt er sich im Wohltun, weil er gerecht ist, nicht weil die Menschen es wert wären.
V. 22. Aber es ist ein beraubt und geplündert Volk usw. Durch eigene Schuld ist das Volk elend und dem Untergang geweiht, da es die Willigkeit Gottes zur Hilfe von sich wies. So kann Gott der Herr mit Recht Klage führen, dass Israel ihn undankbar verschmäht und seine Güte gemissbraucht habe. Aber das Hauptanliegen des Propheten ist, wie gesagt, nicht, Gott den Herrn in Schutz zu nehmen, als vielmehr seinen Volksgenossen voller Schmerz zu Gemüte zu führen, dass sie sich zu ihrem eigenen Untergang verschworen und in gottvergessener Gelassenheit sich in den Abgrund vielen Jammers gestürzt haben. Und wenn wir heute die Kirche in ihrer Verwirrung und Missgestalt erblicken, so ist das unsere Schuld: auch wir lassen es so vielfach nicht zu, dass Gott uns seine Wohltat zeige.
Sie sind zum Raube geworden. Versteht man dies vom gesamten Menschengeschlecht, dem erst Christus die Befreiung zu bringen vermöge, dann trifft man die Meinung des Propheten nicht: er denkt an sein Volk, das ohne Rettung dem Untergang verfallen ist, weil es Gottes Gnade verschmäht. Welch ein Warnzeichen auch für uns, wenn wir seine Freundlichkeit nicht zu rechter Zeit annehmen. Dann sind auch wir nichts Besseres wert, als aller Hilfe bar dem Raub und der Plünderung anheim zu fallen.
V. 23. Wer ist unter euch, der solches zu Ohren nehme? So groß ist die Stumpfheit des jüdischen Volkes, dass es auch bei wiederholter Mahnung nicht zur Einsicht kommt; und während es anderen längst voraus sein sollte, sich auch in die offenkundigen Gerichte Gottes nicht zu finden weiß. Dass wir für die Zukunft hören sollen, will besagen, dass wir uns durch das Übel zähmen lassen und endlich, wenn auch spät, klug werden sollen. Gott tadelt und straft uns nicht, weil er Wohlgefallen daran hätte oder auf Entgelt bedacht wäre, sondern um uns klug zu machen, dass wir für die Zukunft uns hüten.
V. 24. Wer hat Jakob übergeben zu plündern? usw. Die Juden führten ihre Leiden auf zufällig, äußere Ursachen zurück. So kommt es, dass sie die Drohungen der Propheten und die Gerichte Gottes nicht beachteten. Darum stellt sie Jesaja vor den Richterstuhl des Höchsten: Gott der Urheber ihres Ungemachs, gerechterweise straft er sie um ihrer Sünden willen. Eine verdrießliche Wahrheit, die uns auch heute noch nur schwer eingeht. Wohl gibt man zu, dass alles von Gott kommt, aber die Frage zu bejahen, ob denn auch die Übel Züchtigungen seiner Hand seien, schämt man sich: hier pflegt man unsicher mit seinen Gedanken umherzufahren und richtet seinen Blick lieber auf das so genannte Geschick und andere Ursachen, als auf Gott. Er ist es, der des Volkes Missetat schlägt, wie schon Mose sagt (5. Mose 32, 30): „Wie geht es zu, dass ihrer tausend werden vor einem fliehen? Ist es nicht also, dass der Herr euch verfolgt und in die Hände eurer Feinde beschlossen hat?“ Wir wundern uns, dass so vieles wider unser Vermuten uns trifft, aber dass die Ursache in uns gelegen ist, verhehlen wir uns. So brauchen wir den Druck und den Stecken des Treibers, um unsere Schuld zu bekennen, brauchen die immer wiederholte Verkündigung derselben Wahrheit. Und um Gott vor dem Vorwurf der Grausamkeit zu schützen, fügt der Prophet hinzu, dass er nur notgedrungen zur Strafe greift.
Sie wollten auf seinen Wegen nicht wandeln. Hier redet der Prophet auf einmal in der dritten Person; bisher hat er sich den anderen zugesellt, weil doch auch er ein Glied des Volkes war und bei solchem Gewirr der Sünde seinen Anteil an der Befleckung, wie an der Verantwortung hatte. Wenn er hier nun spricht: „sie“ wollten nicht, so drückt er damit sein Missfallen an jener Verachtung Gottes aus, die in wildem Übermut sein Joch von sich wies. Mit solchem Tun will Jesaja nichts gemein haben. – So ist den Juden ihr Unglück mit Recht widerfahren; und auch wir mögen uns scheuen und zur Einsicht kehren. Wollen auch wir nicht hören, wo Gott so liebevoll ladet und seine Freundlichkeit und vergebende Milde uns bezeugt, dann wird es auch uns nicht anders gehen, wie jenen.
V. 25. Drum hat er über sie ausgeschüttet den Grimm seines Zornes usw. Die Wucht und Heftigkeit der Züchtigung, die Gott über das Volk verhängt, beschreibt der Prophet in mancherlei Bildern. Er schüttet aus den Grimm seines Zorns, wie einen Blitz, oder wie die Wasser, da am Tage der Sintflut die Schleusen des Himmels zerrissen und seine Fenster sich auftaten, und die Flut bracht hervor mit brüllendem Getöse. Die Kriegsmacht von der nachher die Rede ist, hat man hier und da auf menschliche Feinde gedeutet, die Gott gegen die Juden aufstehen lasse; war nicht in der Tat Nebukadnezar eine Geißel Gottes? Aber Jesaja stellt hier wohl den Herrn selbst als bewaffneten Kriegsmann und grimmigen Kämpen hin, der auf mancherlei Weise den Streit mit seinem Volke führt: durch Hungersnot, Krankheit und Krieg, durch das ganze Heer der Plagen, die er je und je über Menschenkinder kommen lässt. Erscheint uns dergleichen zu hart und schwer, so lasst uns auf unsere Sünden schauen! – Sie nehmen es nicht zu Herzen. Ja wenn wir es sorgsam bedächten, und das Eine alle Zeit in Herz und Sinn geschrieben stünde: der Herr ist Richter! dann würden wir alsbald geheilt sein von unserem Unverstand. Und wenn heute, wo Gott fast keinen Winkel der Welt mit seinen Plagen verschont, die Menschen dennoch mit ungebändigtem Sinn sich wider ihn auflehnen, ist es dann ein Wunder, dass er zu immer härterer Züchtigung greift?