Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 28.

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Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 28.

V. 1. Weh der prächtigen Krone der Trunkenen von Ephraim. Hier beginnt Jesaja eine neue Erörterung. Er zeigt, wie der Zorn des Herrn zunächst über Israel, dann auch über Juda schwebt. Wahrscheinlich stand das Reich Israel noch unerschüttert da, als der Prophet dies weissagte. Mit Sicherheit kann das allerdings nicht behauptet werden. Zunächst weist also der Prophet darauf hin, dass die Strafe Gottes von Israel nicht mehr fern ist, weil dort allerlei Frevel und Schandtaten herrschten. Sie strotzten vor Stolz und Anmaßung, in Schwelgerei waren sie versunken und jeglicher Unmäßigkeit ergeben. Sie gingen noch weiter bis zur offenkundigen Verachtung Gottes. So geht es ja gewöhnlich, wenn Menschen sich allzu sehr die Zügel schießen lassen; sie vergessen den Herrn bald. Sodann zeigt der Prophet, dass Gott mit seinem Zorn noch zurückhält, um den Stamm Juda zu schonen. Als nämlich das Zehnstämmereich mit dem halten Stamm Benjamin in die Verbannung geführt wurde, blieb das Reich Juda noch unberührt und unverletzt. Das war Gottes Barmherzigkeit, dass er seine Kirche nicht wollte untergehen lassen, sondern einen gewissen Rest übrig ließ. Freilich waren auch die Bewohner Judas selber so schlecht und verderbt, dass sie dieser Barmherzigkeit Gottes nicht wert waren. Weil also ihre eigne Gottlosigkeit nicht geringer war, wie die in Israel im Schwange gehende, darum werden auch sie – das zeigt der Prophet – die rächende Hand Gottes spüren müssen.

Der Ausdruck „prächtige Krone“ deutet auf das falsche Selbstvertrauen, welches die Bürger des Reiches Israel erfüllte. Dies wurde aber verursacht durch die reiche Üppigkeit, in der sie lebten. Das ist ja oft miteinander verbunden; Überfluss und Üppigkeit erzeugen wüste Anmaßung. Im Glück blähen wir uns auf und verstehen nicht, dasselbe maßvoll zu genießen. Jene Leute bewohnten ein fruchtbares, reiches Land. Darum redet sie auch der Prophet Amos (4, 1) an: „Ihr fetten Kühe, die ihr auf dem Berge Samarias seid.“ Stolz auf ihre üppige Macht, verachteten sie Gott und Menschen. Darum nennt der Prophet sie die Trunkenen, weil sie, vom Glücke berauscht, kein Unheil fürchteten und meinten, sie stünden außerhalb jeder Gefahr und wären auch dem Herrn nicht unterworfen.

Der welken Blume ihrer lieblichen Herrlichkeit. Ohne Zweifel ist dies eine Anspielung auf die Festkränze, die man damals bei Gelagen anlegte und die auch heute noch an manchen Orten üblich sind. Die Israeliten waren der Üppigkeit und Trunkenheit ergeben; und sicherlich hat die Fruchtbarkeit ihres Landes sie nur zu einem ausschweifenden Leben verleitet. Sehr fein führt nun der Prophet sein Bild aus, indem er von einer welken Blume spricht: wie schnell schwinden Blumengewinde dahin! Es ist aber die Rede von der prächtigen Krone, welche stehet oben über einem fetten Tal. Denn zu ihren Füßen sahen die Bewohner Samarias ihre fetten Weiden liegen, deren üppiges Wachstum ihren Stolz noch mehr anregte. Pflegt doch auf dem Boden des Reichtums eine sorglose, falsche Sicherheit, übermütiges Selbstvertrauen und ungebändigter Trotz zu erwachsen. Daraus können auch wir eine Lehre ziehen: wir sollen des Glücks uns mit Maßen freuen, - andernfalls werden wir in das tiefste Unglück fallen; denn der Herr wird allen unsern Reichtum und Überfluss verfluchen.

V. 2. Siehe, ein Starker und Mächtiger vom Herrn wie ein Hagelsturm usw. Dies kann auf die Assyrer bezogen werden. Dieselben, will der Prophet sagen, werden bereit sein, dem Willen Gottes gemäß unter dessen Fahnen zu kämpfen, sobald sie dazu berufen werden. Lieber möchte ich aber den Satz ohne jede persönliche Beziehung fassen und dabei an irgendeine Art der Heimsuchung denken, durch welche der Herr die Israeliten von ihrer stolzen Höhe herabstürzen wird. Die Art dieser Heimsuchung vergleicht der Prophet mit einem Hagel- und Wassersturm, durch den Pflanzen und Blumen niedergeworfen werden und aller Schmuck der Erde wie weggefegt wird. Er knüpft dabei an das Bild des ersten Verses von der welken Blume an. Nichts ist für die Blumen gefährlicher, als schwerer Regen- und Hagelsturm. Der Prophet sagt: „Siehe,“ ein Starker. Die Gottlosen lassen sich durch keine Drohung erschüttern. Darum zeigt er ihnen, dass er nicht von zweifelhaften Dingen redet und aufs Geratewohl prophezeit, sondern Dinge voraussagt, die bestimmt eintreten werden, auf die er gleichsam mit dem Finger hinzeigen kann.

V. 4. Und die welke Blume ihrer lieblichen Herrlichkeit usw. Der Prophet wiederholt fast dieselben Worte. Wir wissen ja, wie schwer es ist, diejenigen in Furcht zu setzen und zu demütigen, die durch ihr Glück und durch ihr üppiges Wohlleben blind geworden sind. Der Prophet sucht wiederholt den gleichsam in Stumpfsinn erstarrten Herzen dasselbe einzuprägen, damit sie doch das, was sonst unglaublich erschien, glauben möchten. Er erläutert das weiter durch ein anderes passendes und schönes Bild: Ephraims Herrlichkeit wird sein wie die Frühfeige vor dem Sommer, welche einer ersieht und flugs aus der Hand verschlinget. Frühreife Früchte sind besonders begehrt, aber sie halten sich nur kurze Zeit und können nicht aufbewahrt werden; darum werden sie bald verzehrt. So wird das Glück Israels sein. Sein blühender Wohlstand wird nicht von Dauer sein, sondern in einem Augenblick verschlungen werden. Was Jesaja hier vom Reich Israel sagt, bezieht sich auch auf die ganze Welt. Denn mit ihrer Undankbarkeit verschulden es die Menschen, dass das, was Gottes Güte ihnen zugewandt hat, nicht zu seiner Reife und zu seinem Ziele kommen kann. Wir missbrauchen seine Gaben und verderben sie durch unsere Verkehrtheit. So werden sie frühreifen und nicht haltbaren Früchten gleich.

V. 5. Zu der Zeit wird der Herr Zebaoth usw. Nachdem der Prophet vom Reich Israel geredet, wendet er sich zum Stamme Juda und zeigt, wie bei dieser ernsten Heimsuchung Gottes Barmherzigkeit doch noch kein Ende hat. Wenn auch die zehn Stämme untergegangen sind, der Herr wird doch einen Rest erhalten und sich heiligen. So wird daselbst eine liebliche Krone und herrlicher Kranz sein. Niemals wird die Kirche Gottes soweit entehrt werden, dass sie vom Herrn all ihrer herrlichen Pracht beraubt würde. Diese Weissagung beziehe ich nicht auf alle Bewohner des Reiches Juda, sondern nur auf die Auserwählten, die auf wunderbare Weise dem Untergang entrissen wurden, auf die Überbliebenen des Gottesvolkes. Denn diesen letzteren Ausdruck gebraucht der Prophet in doppelter Weise. Wenn er auch hier den einen Stamm Juda im Gegensatz zu den andern zehn Stämmen als die Überbliebenen bezeichnet, so werden wir doch im Verlauf seiner Darlegungen sehen, dass er auch im Stamme Juda selbst einen Unterschied macht. Bald spricht er von dem durch Laster verderbten, gesamten Volkskörper, bald von den Auserwählten. Das braucht uns nicht zu verwundern; er betrachtet dabei den Stamm Juda eben von verschiedenen Gesichtspunkten aus. Im Blick auf das Zehnstämmereich, das von Gott und dem gemeinsamen Glauben abgefallen war, nennt der Prophet mit Recht das Reich Juda die Überbliebenen seines Volkes. Wenn er aber dieses für sich ohne Beziehung auf die zehn andern Stämme betrachtet, dann wendet er sich mit nicht weniger Recht gegen dessen Verderben. Er sieht darin einen Beweis besonderer Gnade, dass Gott nicht zu gleicher Zeit an dem ganzen Geschlecht Abrahams das Gericht vollzog, sondern nach Zerstörung des Reiches Israel gegen die Bewohner Judas Nachsicht übte, ob sie wohl endlich Buße tun würden. Anderseits will der Prophet dadurch die Undankbarkeit Judas besonders hervorheben. Sie hätten durch das Schicksal ihrer Brüder sich belehren lassen sollen; die Heimsuchung Israels sollte sie selbst aufwecken und zur Buße treiben. Sie ließen sich aber dadurch nicht aufwecken und nicht bessern. Obwohl sie darum solcher Wohltaten nicht wert waren, so wollte dennoch der Herr seine Kirche unter ihnen erhalten. Zu diesem Zweck entriss er den Stamm Juda und den halben Stamm Benjamin dem Untergang. Ja, weil der Stamm Juda nur ein kleiner, von dem Reich Israel verachteter Teil des ganzen Volkes war, darum sagt der Prophet, der Herr Zebaoth werde allein eine liebliche Krone und herrlicher Kranz der Überbliebenen seines Volkes sein; dadurch werde er alle irdischen Mängel derselben ausgleichen. – Unser Glück auf Gott stellen, das ist das rechte Heil. Sobald wir der Welt zuneigen, sammeln wir welke Blumen, die bald hinfallen und vergehen. Und doch herrscht diese Torheit unter uns mehr als genug; wir wollen ohne Gott, ohne seine Güte und sein Glück glücklich sein. Ferner zeigt Jesaja hier, dass keine noch so schwere Heimsuchung Gott hindern kann, seine Kirche herrlich zu machen. Wenn auch alles dem Untergang nahe zu sein scheint, der Herr wird nichtsdestoweniger die Krone ihres Ruhmes sein. Auch das ist bemerkenswert, dass Jesaja der Kirche erst für die Zeit neue Herrlichkeit verheißt, wenn die Zahl ihrer Glieder klein geworden ist. Durch jene unheilvolle Heimsuchung, die nahe bevorstand, sollten die Gläubigen nicht mutlos gemacht werden.

V. 6. Und ein Geist des Rechts dem, der zu Gericht sitzt usw. Der Prophet zeigt hier, wie der Herr die Überbliebenen seines Volks mit neuer Zierde schmücken wird. Er weist auf das hin, wodurch hauptsächlich Völker erhalten werden. Das sind vor allem zwei Stücke, Gerechtigkeit und Stärke. Mit Klugheit und Gerechtigkeit müssen die inneren Angelegenheiten verwaltet werden. Nach außen, den Feinden gegenüber, bedarf es der Tapferkeit und eines starken Heeres. Durch diese beiden Schutzmittel schützen sich Reiche und Staaten und erhalten ihre Stellung. Darum verheißt der Prophet seinem Volk den Geist des Rechtes und der Stärke. Er weist aber zugleich darauf hin, dass beides von Gott verliehen wird und von keinem andern. In einem Staate kann die Obrigkeit nicht regieren und kann nicht jedem einzelnen Recht schaffen, und die Heerführer können die Feinde nicht zurücktreiben, wenn sie sich nicht vom Herrn regieren lassen.

V. 7. Aber auch diese sind vom Wein toll worden. Der Prophet wendet sich wieder zu den frevelhaften Verächtern Gottes, welche nur dem Namen nach Söhne des Stammes Juda waren, und stellt deren Undankbarkeit ins helle Licht. Sie hatten ein deutliches Beispiel göttlichen Zornes vor Augen; sie sahen, wie ihre Brüder in Israel hart gezüchtigt wurden, während sie selbst Gottes milde Nachsicht erfuhren. Trotzdem konnten sie weder durch jenes Beispiel der Strenge, noch durch die Erfahrung der Güte Gottes auf den Weg des Lebens zurückgeführt werden. Sie wurden in nichts besser als jene, obschon der Herr ihrer schonte. Übrigens redet der Prophet hier nicht von wirklich Trunkenen; er redet vielmehr im Bilde. Er vergleicht die Führer des Volks mit Trunkenen, weil sie ohne Sinn und Verstand sind. Gewiss sinken die Menschen durch andauernde Trunkenheit, wie sie im Anfang des Kapitels getadelt wurde, auf die Stufe tierischer Stumpfheit herab, und ich zweifle nicht, dass Trunksucht und Üppigkeit in Speise und Trank auch die Juden stumpf und sinnlos machten. Wenn wir aber den ganzen Zusammenhang erwägen, dann ist leicht zu erkennen, dass die Trunkenheit und Sinnlosigkeit, die hier verdammt wird, bildlich gemeint ist. Man möchte etwa erläuternd übersetzen: sie taumeln „wie“ von starkem Getränk. Dass solches von Priestern und Propheten gesagt werden muss, ist besonders stark. Nicht nur das gewöhnliche Volk ist trunken, sondern sogar die Priester, welche doch andern ein leuchtendes Vorbild auf dem rechten Wege sein sollten. Sie sind, wie Christus sagt, das Salz der Erde. Wenn die sich betören lassen, wie soll es dann mit dem Volke werden? Wenn das Auge finster ist, wie soll es dann dem übrigen Körper ergehen? Das ist aber das Schwerwiegendste von allem, dass der Prophet sagt, dieselben seien toll nicht nur in groben äußern Lastern, sondern auch beim Weissagen und beim Rechtsprechen. Diese Worte zeigen, wie bejammernswert der Zustand der Kirche im Reiche Juda war.

V. 8. Denn alle Tische sind voll Speiens. Der Prophet schildert, wie es an einer Tafel zugeht, an welcher der Völlerei ergebene Menschen sitzen. Diese verlieren alle Scham, sie betragen sich wie das Vieh und wälzen sich in jeder Schande umher. Es ist sicherlich ein schändliches, abscheuliches Schauspiel, Tische voll Speiens und Unflats zu sehen. So zeigt Jesaja in diesem Bilde, wie schändlich das ganze Leben des Volkes war. Ohne Zweifel wollte er mit diesen Ausdrücken dartun, dass bei den Juden nichts rein und heilig geblieben sei. Wenn jemand ihren Tischen nahe käme, könne er nur schändliche Trunkenheit entdecken; wenn jemand ihr Leben betrachte, sei kein Stück desselben rein und frei von Lastern und Schandtaten. Selbst ihre Lehre sei so verderbt, dass sie stinke, besudelt gleichsam von Gespei und Auswurf.

V. 9. Wen will er denn lehren Erkenntnis? Staunend weist der Prophet darauf hin, dass die Krankheit des Volkes unheilbar ist und dass dem Herrn ihretwegen nichts mehr zu tun übrig bleibt, da er alle Mittel umsonst versucht hat. Das ist ja das einzige Heilmittel, dass er irrende Menschen auf den rechten Weg zurückruft und nicht aufhört, solche, die unbedacht ihre eignen Wege gehen, immer wieder zu ermahnen. Wenn das aber keinen Erfolg hat, dann ist es um das Heil solcher Leute geschehen, welche die Hilfe des Arztes durchaus nicht wollen. Das beklagt also der Prophet, dass es dem Herrn durch den Wahnwitz des Volkes unmöglich gemacht ist, um die Heilung ihrer Schäden sich zu bemühen. Er stellt damit die Juden auf gleiche Linie mit Entwöhnten von der Milch, mit unmündigen Kindern, die eben zu stammeln beginnen. Zwar ermahnt der Apostel (1. Petr. 2, 2) die Gläubigen mit Recht, begierig zu sein nach der vernünftigen lauteren Milch als die jetzt geborenen Kindlein. Denn niemand wird sich für Gottes Wort empfänglich und gelehrig zeigen, der nicht die uns allen angeborene innere Herzenshärtigkeit abgelegt hat. Die kindliche Art aber, welche der Prophet hier verurteilt, ist eine andere; es ist, wie wenn Menschen, durch die Sünde abgestumpft, so wenig auf Gottes Wort geben, als wenn sie gar keine Vernunft hätten. Der Prophet ruft klagend aus: Vergebens und zum Spott wird Gottes Wort ausgestreut unter dumme, stumpfsinnige Leute, die Kinder sind, nicht an Bosheit, sondern an Verständnis, wie Paulus (1. Kor. 14, 20) sagt. Aus dem Zusammenhang wird noch klarer, dass sie nicht fähig waren, Gottes Wort zu fassen, und dass Gott nicht einer übergroßen Strenge beschuldigt werden konnte, wenn er sie von sich stieß und sie nicht weiter der vergeblichen Mühe, ihr Ohr zu finden, würdigte.

V. 10. Gebeut hin, gebeut her usw. Hier tritt es klar zu Tage, wie der Herr darüber klagt, dass seine Mühe, dies ungelehrige Volk zu unterweisen, vergeblich sei. Es ist gerade so, wie wenn jemand Kinder lehrt. Diesen müssen die Grundelemente öfters eingeprägt werden; immer wieder müssen dieselben wiederholt werden; dennoch vergessen sie alles bald. Und wenn der Lehrer auch einen ganzen Tag darauf verwandt hat, ihnen einen einzigen Satz beizubringen, am folgenden Tag muss die Arbeit wieder von neuem anfangen. Wenn er es auch an sorgsamem Fleiß in nichts fehlen lässt, er wird trotzdem nicht vorankommen. Diejenigen Ausleger, welche an den Wiederholungen dieser Stelle sich stoßen und dafür andere Worte einsetzen, verdunkeln mit ihrer unangebrachten Sucht nach etwas Besonderem den Sinn des Propheten und zerstören damit die Feinheit der ganzen Ausführung. Der Prophet wollte ja damit, dass er dieselben Worte wiederholt, eine mannigfache, unablässige und bis zum Überdruss angewandte Wiederholung zum Ausdruck bringen. Denn, wie gesagt, das Bild ist von kleinen Kindern hergenommen, denen die Lehrer nicht viel beizubringen sich getrauen, weil deren Fähigkeiten gering sind; nur wenig geben sie ihnen tropfenweise ein. Sie wiederholen dasselbe zum zweiten, zum dritten Male und noch öfter und trichtern ihnen immer wieder dieselben Regeln ein. Sie sind eben Schüler, die mit den einfachsten Dingen beschäftigt werden müssen, bis sie Verstand und Urteilskraft bekommen haben. Fein deutet das der Prophet an, wenn er sagt: Hier ein wenig, da ein wenig.

V. 11. Wohlan, er wird einmal mit stammelnden Lippen und mit einer andern Zunge reden zu diesem Volk. Diese Worte beziehe ich auf Gott. Der ist, wie der Prophet sagt, dem Volke fremd geworden. Dieser Vorwurf musste sie schwer treffen, denn durch ihre Schuld hatten sie den Herrn, der aller Menschen Sprachen geschaffen hat, gleichsam zu einem Stammler gemacht. Er droht ihnen noch nicht, aber ihrer Stumpfheit schreibt er es zu, dass sie das Wort Gottes für sich zu einem verworrenen Schall gemacht haben. Sie haben sich ihm gegenüber blind und taub gemacht, darum verstehen sie dasselbe nicht und haben keinen Nutzen von ihm.

V. 12. Denn er predigt ihnen: „So hat man Ruhe“ usw. Der Prophet nennt hier den Grund, warum Gott den Juden ein Fremder ist; er ist es deshalb, weil sie kein Ohr für ihn haben. Zu tauben Ohren redete der Herr; vergeblich zeigt er ihnen die Ruhe. Die Taubheit aber hatte wieder ihren Grund in ihrer Stumpfheit, mit der sie schmählicher Weise sein Wort verachteten. Das war aber eine doppelt unentschuldbare Schlechtigkeit, dass sie die ihnen angebotene Ruhe, nach der von Natur alle sich sehnen, von sich wiesen. Dass sie dem Wort Gottes gegenüber sich taub verhielten, war schon an sich eine unerträgliche Gottlosigkeit; aber schlimmer noch war die Undankbarkeit, dass sie ein so begehrenswertes Gut mit allem Fleiß zurückwiesen. Der Prophet weist also auf den Segen hin, den sie im Gehorsam des Glaubens hätten erlangen können, dessen sie sich aber durch ihre eigene Bosheit beraubten. Diese Taubheit und Blindheit wirft er ihnen vor. Diese sind eine Folge ihres schmählichen Verhaltens, dass sie, während das Licht ihnen vorgehalten wird, böswillig die Augen wegwenden und die Finsternis mehr lieben als das Licht. Wo Gott also sein Wort gegeben hat, ziehen sich die Ungläubigen Unruhe und Jammer zu. Er ladet alle zu einer seligen Ruhe ein und zeigt deutlich das Ziel, auf das wir unsern Lebenslauf richten sollen, wo wahres Glück unsrer wartet. Hat jemand Gottes Wort vernommen, dann kann er nur mit vollem Wissen und Willen in die Irre gehen. Wie köstlich muss Gottes Wort uns also sein! Es bietet uns ein unschätzbares Gut, wahre Ruhe und wahres Glück. Alle Menschen schreien zwar, nichts sei besser, als die Ruhe des Herzens; wird sie aber angeboten, dann verschmähen viele diese Gabe. Ein großer Teil flieht sie förmlich, als ob sie ein Leben in trauriger Angst und unablässiger Furcht zu suchen sich bemühten. Niemand hat Ursache, sich über Unkenntnis zu beklagen. Nichts ist klarer und deutlicher als Gottes Wort. Umsonst suchen die Menschen da eine Entschuldigung. Nichts ist törichter, als auf Gott die Schuld zu schieben, als ob sein Wort dunkel und seine Lehre verworren wäre. Hier bezeugt es der Herr, dass er in seinem Wort eine sichere Ruhe darbietet. Darin liegt auch der Hinweis, dass die Ungläubigen für ihre Nichtswürdigkeit nur den verdienten Lohn empfangen, wenn fortwährende Unruhe sie plagt. Den folgenden Satz: „so erquickt man die Müden“, verstehen manche Ausleger in dem Sinne, dass Gott Pflichten der Barmherzigkeit auferlegt, wenn anders man seine Gnade schmecken will. Doch wird der Prophet einfach darauf hinweisen wollen, dass Gott uns eine Ruhe bietet, mit der wir uns in unserer Müdigkeit erquicken können. Dadurch rückt unsere Undankbarkeit in ein noch hässlicheres Licht: nicht einmal die Not, die stärkste Triebfeder, treibt uns Gottes Heil zu suchen! Dies Wort des Propheten hat einige Ähnlichkeit mit dem Worte Christi: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“

Und sie wollen doch solcher Predigt nicht. Die Juden haben die freie Wahl, ob sie lieber gestärkt und erquickt werden oder unter ihrer Last gebeugt zusammenbrechen wollen. Hier wird bestätigt, was ich schon berührte: Gott mahnt nicht umsonst, dass die, welche keine Ruhe haben, zu ihm kommen sollen. Ich habe nicht, heißt es (45, 19), zum Samen Jakobs vergeblich gesagt: Suchet mich. Sind wir also durch sein Wort belehrt, dann können wir sicher in seiner Verheißung ruhen. Denn Gott will uns nicht mit eitlem Vorwitz ermüden und quälen, wie die Menschen sich oft vielen Qualen und eitler Selbstpeinigung unterziehen. Wenn er sagt, dass diese Ruhe für die Müden, die unter ihrer Last seufzen, bestimmt ist, dann sollen die Nöte, die uns quälen, uns treiben, zum Worte Gottes unsere Zuflucht zu nehmen und in ihm Frieden zu finden. Dann werden wir erfahren, dass Gottes Wort ohne Zweifel imstande ist, alle Unruhe und Aufregung zu beschwichtigen und alle Angst und Zweifelsgedanken zu besänftigen. Die aber anderswo, außerhalb des Wortes, ihre Ruhe suchen, die müssen fortwährend in Unruhe und Qual hin und her wanken. Denn sie wollen ohne Gott weise und glücklich sein.

V. 13. Darum soll ihnen auch des Herrn Wort eben also werden: Gebeut hin, gebeut her usw. Wenn auch der Prophet hier dieselben Worte wie in Vers 10 gebraucht, so ist der Sinn dieses Verses doch ein anderer. Hier kündigt er die Strafe für jene selbst verschuldete Stumpfheit an, von der er gesprochen hat. Gott wird sie so von Sinnen bringen, dass sie des Segens der heilsamen Lehre völlig beraubt werden und nur noch einen verworrenen Schall davon empfangen. Aus dem Vorhergehenden zieht der Prophet den Schluss, dass die Juden, weil das Wort Gottes bei ihnen keinen Erfolg gehabt hat, Strafe für ihre Undankbarkeit erhalten werden; nicht dass ihnen das Wort genommen wird, sondern dass sie aller Urteilskraft und Einsicht beraubt und am hellen Tage blind sein werden. So verblendet und verstockt Gott die Gottlosen in ihrem Ungehorsam mehr und mehr. Paulus führt diese Stelle an, wenn er (1. Kor. 14, 21) die Korinther wegen ihrer törichten Einbildung straft. Die Korinther staunten besonders die an, welche mit fremden Zungen redeten, wie ja die große Menge unbekannte und ungewohnte Dinge am meisten anstaunt. Die Stelle bei Paulus ist oft falsch verstanden worden, weil man diese Worte des Propheten nicht genügend erwog. Paulus passt dieselben vortrefflich seiner Erörterung an. Er zeigt, wie die Korinther von einer falschen, törichten Bewunderung sich leiten ließen und in verkehrter Weise Dinge hoch erhoben, von denen sie gar keinen Nutzen hatten. Darum seien sie Kinder, zwar nicht an Bosheit, sondern an Verständnis. Damit zögen sie sich noch obendrein den Fluch zu, den der Prophet hier androht, und es käme mit ihnen dahin, dass sie vom Worte Gottes nicht mehr verständen, wie wenn jemand in einer fremden Sprache auf sie einredete. Das ist aber das Traurigste, wenn einer durch eitles Haschen nach etwas Besonderem geistliche Verblendung und Stumpfheit sich zuzieht, welche der Herr verkehrten und verstockten Herzen ankündigt. Paulus selbst also erklärt diese Stelle des Propheten und mach dieselbe verständlicher. Er zeigt eben, wie die, welche das Wort des Heils missbrauchen, nicht wert sind, irgendwelche Fortschritte in ihm zu machen. Eine ähnliche Stelle finden wir im 8. Kapitel des Jesaja (V. 16), wo der Prophet das Wort Gottes mit einem versiegelten Brief vergleicht. So auch im 29. Kapitel (V. 11), wo er sagt, es sei einem versiegelten Buch gleich. Das trifft aber da zu, wo der Herr den Menschen um ihrer Undankbarkeit willen ihre Urteilskraft und ihren gesunden Verstand nimmt, dass sie sehen und doch nicht sehen, dass sie hören und doch nicht hören. Diese Strafe ist durchaus gerecht. Lasst uns das recht zu Herzen nehmen! Wir meinen oft, es stünde trefflich mit uns, und sind mit uns selbst sehr zufrieden, weil wir Gottes Wort haben. Was nützt uns aber dasselbe, wenn es nicht unsere Sinne erleuchtet und unsere Herzen regiert? Wir ziehen uns dann nur ein umso schwereres Gericht zu. Wir bedürfen darum einer zwiefachen Gnade. Erstlich, dass Gott in seinem Wort sich uns offenbart, und sodann, dass er unsern Verstand aufschließt und unser Herz zum Gehorsam zubereitet. Sonst nützt der Glanz des Evangeliums uns ebenso wenig, wie dem Blinden der Glanz der Sonne. Jenes Strafgericht soll uns also mahnen, Gottes Wort nicht zu missbrauchen, sondern gerade dem Ziele zuzustreben, welches uns der Herr in demselben steckt.

Dass sie hingehen und zurückfallen usw. Am Schluss des Verses beschreibt der Prophet das Ende derer, die dem Licht des Wortes gegenüber blind sind. Da sie vom rechten Weg abgewichen sind, bleibt ihnen nichts anders übrig, als ohne Sinn und Verstand dahinzustürmen. So müssen sie fallen und stürzen. Dass dieser Fall kein leichter ist, bringt das Wort zum Ausdruck, dass er sagt: sie zerbrechen. Dass sie „verstrickt werden“ ist ein neues Bild. Dies Wort weist darauf hin, dass für alle Ungläubigen Stricke bereit liegen, mit denen sie, ohne dass sie es merken, in den Abgrund hineingezogen werden. Der Prophet zeigt also, dass allen denen, die vom Worte Gottes abirren, immer der Untergang bevorsteht. Sie stoßen entweder auf Hindernisse, an denen sie zerbrechen, oder auf Fallstricke, in die sie hineinverstrickt und gefangen werden.

V. 14. So höret nun des Herrn Wort usw. Der Prophet fährt in seinem Tadel fort, mischt aber auch etwas Trost unter, um die Frommen zu ermutigen. Denn wenn er den Gottlosen den Untergang androht, so bedeutet dies einen Trost für die Gläubigen und vergewissert sie, dass ihr Wohlergehen vor Gott teuer und wertgeachtet ist. Als „Spötter“ bezeichnet der Prophet Betrüger und Gauner, die mit ihrem leeren Gerede und ihrer Schlauheit dem Gerichte Gottes entfliehen zu können wähnen. Er redet aber nicht das gemeine Volk an, sondern seine Führer und Herrscher. Weil diese an der Spitze des Volkes standen, glaubten sie den andern an Geist und Klugheit voran zu sein; ihre Klugheit machten sie aber zur Verschmitztheit, durch die sie Gott selbst täuschen wollten. Darum nennt er sie in feiner Ironie Spötter, als wollte er sagen: Ihr meint, genug Schlauheit zu besitzen, um Gott verspotten zu können, aber euer Spott wird umsonst sein. Mit diesen Obersten des Volkes hatte der Prophet den hauptsächlichsten und schwersten Kampf zu führen. Zwar waren alle Stände voller Verderbnis, doch waren jene in ihrem Weisheitsdünkel schlimmer als die andern. So ist es zu allen Zeiten gewesen, dass die große Menge, ob sie auch wie Barbaren tobt, nicht so gottlos ist, wie die Vornehmen oder die Höflinge oder andere gebildete Leute, welche an Geist und Klugheit den andern überlegen zu sein glauben. Die Diener des Wortes müssen vor allem gegen diese gebildeten Feinde sich wappnen, denn diese sind die gefährlichsten. Sie schaden nicht nur sich, sondern verleiten noch andere zu ähnlicher Verachtung des Wortes Gottes und verblenden oft durch das Ansehen und den Glanz ihres Namens das kurzsichtige Volk. Das ist sicherlich furchtbar und ungeheuerlich, wenn die Leiter der Kirche nicht nur selbst blind sind, sondern auch andere blind machen und zur Verachtung Gottes antreiben, indem sie sein Wort verlachen und mit ihren Witzen herunterreißen. Solchen Leuten gegenüber sollen wir auf das Beispiel des Propheten unser Augenmerk richten, damit wir in solchem Kampfe nicht zusammenbrechen und nicht den Mut verlieren. Wie solche Leute behandelt werden müssen, zeigt der Prophet. Sie zu belehren, darum brauchen wir uns weiter keine Mühe zu geben – das nützt wenig -, aber ernstlich sollen wir sie warnen und sie zu erschüttern suchen durch den Hinweis auf das Gericht Gottes. Ein umso schwereres Urteil wird sie treffen, weil sie sich in Gottes Heiligtum drängen und Gottes auserwähltes Volk mit ihrem Schmutz beflecken.

V. 15. Denn ihr sprecht: Wir haben mit dem Tod einen Bund gemacht. Der Prophet gibt den Grund an, weshalb er jene Leute „Spötter“ genannt hat. Zugleich schildert er, wie ihr Spott sich äußert. Sie versprachen sich Straflosigkeit in allen Lastern und Freveltaten, wurden dadurch nur noch frecher und ließen sich zügellos von ihrer Begierde treiben. Das drückt der Prophet mit den Worten aus: Wir haben mit dem Tod einen Bund und mit der Hölle einen Vertrag gemacht. Alle Drohungen und alle Heimsuchungen Gottes verachteten sie, in ihrer Sicherheit verlachten sie dieselben und meinten, außer aller Gefahr zu sein. Nun sind aber gewiss jene verschmitzten Leute niemals in ihrer Prahlerei so weit gegangen, dass sie jene Worte wirklich gebraucht hätten. Das wäre doch allzu kindisch und lächerlich gewesen. Wenn sie auch Gottes spotteten und aller Ermahnungen in den Wind schlugen, so wollten sie doch zweifellos beim Volk sich in einer gewissen Achtung erhalten. Niemals hätten sie zugegeben, dass sie ihren Halt in so eitlen Dingen suchten. Aber der Prophet hat sein Auge auf ihres Herzens Sinnen und Trachten gerichtet, nicht auf das, was sie vor der Öffentlichkeit schienen; er sieht auf die tatsächliche Beschaffenheit ihrer Herzen, nicht auf ihre Worte. Denn wer sich in seinen Lastern gefällt und Gottes Drohungen in seiner Sicherheit verachtet, der gibt damit zu, dass er einen Bund mit der Hölle und mit dem Tode gemacht hat, vor dem er sich, mag ihn auch der Herr ankündigen, nicht im geringsten fürchtet. Damit tadelt der Prophet allgemein die fleischliche Sicherheit der Menschen, in der sie Gottes Gericht vergessen und sich mit Bewusstsein der Täuschung hingeben, als ob sie der Hand Gottes entfliehen könnten. Vor allem aber greift der Prophet die spottsüchtigen Leute an, die ihre vermeintliche Weisheit nur in einer gemeinen Verachtung Gottes zum Ausdruck bringen. Je mehr diese nun ihre Schande verdecken, umso mehr wird sie vom Propheten ans Licht gezogen. Seht, will er sagen, was ist das doch für eine Spitzfindigkeit, Schlauheit und Klugheit der Weisen dieser Welt! Nach allen Seiten hin sind sie Schlägen und Heimsuchungen ausgesetzt, und doch wähnen sie sich geborgen und in Sicherheit zu sein. Solche Bloßstellung verdienen in der Tat diejenigen, welche ihr Heil in der Lüge suchen, während sie das Heil Gottes vernachlässigen, ja den Herrn verachten und verspotten. Sie verdecken zwar ihre Künste, ihre Geriebenheit, ihren Betrug mit glänzendem Namen und glauben nicht, dass es lauter Trug ist. Der Prophet aber nennt diese Dinge mit rechtem Namen.

Wenn eine Flut daher geht, wird sie uns nicht treffen. Die Schläge und Heimsuchungen, mit denen Gott die Freveltaten der Welt bestraft, vergleicht der Prophet mit einer schnell daher fahrenden Wasserflut. So schwer und hart diese Strafen auch sind, derartige gottlose Leute meinen in ihrem eitlen Lug und Trug, dennoch ihnen gegenüber gesichert zu sein. Sie haben die feste Zuversicht, ihnen entgehen zu können, obschon dieselben weithin über den ganzen Erdkreis dahin rauschen. Die Gerichte und Heimsuchungen Gottes, denen die Menschen preisgegeben sind, sehen sie. Da sie aber Gottes Hand und Vorsehung nicht erkennen und alles Geschehen einem blinden Schicksal zuschreiben, so suchen sie allerlei Schutzmittel, um derartige Schläge von sich abzuhalten.

V. 16. Darum spricht der Herr usw. In diesem und den folgenden Versen tröstet Jesaja die Frommen; den Gottlosen aber kündet er das verdiente Ende an. Den Trost setzt er an die erste Stelle, weil die Frommen jenen verschmitzten Leuten ein Gegenstand des Spottes waren. Sehen wir doch noch heute, wie unsere Einfalt von den Gottlosen verlacht wird und wie man uns für törichte Schwärmer ansieht, weil wir auch im Unglück und in schweren Heimsuchungen daran festhalten, dass alles uns zum Besten dienen soll. Solcher Frechheit der Gottlosen gegenüber richtet der Prophet die Herzen der Frommen auf und stärkt sie, dass sie ruhig ihren Weg weitergehen, Hohn und Spott für nichts achten und dessen gewiss sind, dass ihre Hoffnung sich durchaus nicht als eitel und falsch erweisen wird.

Siehe. Dies Wörtlein soll die folgende Aussage bekräftigen. Der Herr will damit sagen: Wenn auch die Gottlosen meine Worte verachten und ihnen die Glaubwürdigkeit absprechen, ich werde doch ausführen, was ich versprochen habe.

Ich lege. Das Ich ist besonders betont, um das Vertrauen in diese Verheißung zu stärken.

Einen Grundstein, einen bewährten Stein. Darunter ist der Stein zu verstehen, nach dem das ganze Gebäude gerichtet werden muss, ohne welchen es einfällt und zusammenstürzt. Einen köstlichen Eckstein nennt ihn der Prophet, weil er die ganze Masse des Gebäudes trägt. Er weist damit auf seine Stärke und Tragfähigkeit hin.

Dass dieser Stein wohl gegründet ist, will besagen, dass er nicht ein gewöhnlicher Stein ist oder einer von den vielen, die bei einem Gebäude gebraucht werden, sondern ein besonders hervorragender, auf dem allein die ganze Last des Gebäudes ruht. Ein anderer kann nicht als Grundstein benutzt werden; so müssen die ganze Kirche und ihre einzelnen Teile auf ihn allein gegründet und gestützt werden.

Wer glaubt, fleucht nicht. Einige Ausleger übersetzen: Wer glaubt, der fliehe nicht. Ich möchte aber lieber bei der ersteren Übersetzung bleiben. Sie entspricht am besten dem Zusammenhang und ist durch die Autorität des Apostels Paulus (Röm. 9, 33) gestützt. Allerdings sind die Apostel der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, gefolgt und haben dieselbe frei benutzt. Sie führen die Stellen des Alten Testaments nicht wörtlich an, sondern sind zufrieden, dieselben sachlich, dem Sinne nach, wiederzugeben. Diesen Sinn haben sie nicht geändert, sondern haben vielmehr zum Zweck der rechten Anwendung den eigentlichen, wahren Sinn herausgestellt. So oft also die Apostel aus dem Alten Testament eine Stelle anführen, erwägen sie sorgfältig den Zweck und die Anwendung derselben. Wo nun Paulus diese Stelle anführt, übernimmt er sie aus der Septuaginta: Wer glaubt, soll nicht zuschanden werden. Und sicherlich will der Prophet das zum Ausdruck bringen: Die da glauben, werden ein ruhiges, stilles Herz haben, sodass sie nichts weiter begehren, nicht unsicher schwanken und nicht hin und her laufen, um andere Heilmittel zu suchen; sie sind vielmehr mit dem einen völlig zufrieden. Der Prophet will den Glauben erheben wegen seines unvergleichlichen Segens, dass wir in ihm eine sichere stille Ruhe haben. Ohne Glauben müssen wir fortgesetzt in Angst und Unruhe schweben. Es gibt eben nur den einen Hafen, in dem man sicher ankern kann; das ist des Herrn Wahrheit, welche allein uns still und friedevoll macht. Diese Glaubensfrucht erwähnt der Apostel Paulus Röm. 5, 1, wo er sagt: „Nun wir sind gerecht geworden durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christum.“ Dass nur Christus dieser Grund- und Eckstein ist, zeigen die Apostel und Evangelisten. Als Christus der Welt geschenkt ward, da wurde in der Tat die Kirche gegründet und gebaut. In ihm finden die Verheißungen ihre Erfüllung, und auf ihm allein beruht das Heil der Menschen. Wird Christus fortgenommen, dann sinkt die Kirche hin und stürzt zusammen. Dieser Vers muss also zweifellos der ganzen Sachlage nach auf Christus bezogen werden, ohne den es kein sicheres Heil gibt und ohne den jeden Augenblick der Zusammensturz droht. Diese Auffassung findet eine gewichtige Bestätigung durch die Apostel und Evangelisten. Ja, durch deren Mund zeigt das der heilige Geist klar. Dass diese Stelle auf Christus sich bezieht, können wir noch aus einer näheren Erwägung der Sache ersehen. Nicht umsonst führt der Prophet Gott redend ein. Der Kirche Grund zu legen, ist vor allem Gottes Werk. Dieser Gedanke tritt uns oft in den Psalmen entgegen. Wenn auch alle Sterblichen vereint sich alle Mühe gäben, sie würden auch nicht den kleinsten Stein zum Bau der Kirche herzu bringen können. Gott allein ist es, der seine Kirche gründet und baut, wenn er auch dazu den Dienst und die Arbeit der Menschen gebraucht. Von wem ist uns nun Christus gegeben worden? Doch vom Vater. Der himmlische Vater hat also dies gewirkt und geleistet und hat uns Christus zum einigen Grund unseres Heils bestellt. Aber ist der Stein, von dem hier die Rede ist, nicht schon früher gelegt worden? War die Kirche nicht schon immer auf diesen Grund gestellt? Allerdings, aber nur in Hoffnung, weil Christus noch nicht offenbart war und er sein Erlösungswerk noch nicht ausgeführt hatte. Der Prophet redet hier also von der Zukunft. Die Gläubigen sollen fest davon überzeugt sein, dass die Kirche, welche sie nicht nur wanken und schwanken, sondern schwer erschüttert, ja fast zerstört und in Trümmer aufgelöst sahen, durch eine neue starke Stütze gefestigt werden wird, auf der sie als auf dem von Gott gelegten Grundstein ruhen sollte.

In Zion. So heißt es, weil von dort Christus ausgehen sollte. Das dient besonders zur Stärkung unseres Glaubens, da Christus wirklich, wie wir wissen, von dem Ort ausgegangen ist, der lange vorher dazu bestimmt worden war. Übrigens ist heute überall der Berg Zion, da die Kirche bis an die Enden der Erde ausgebreitet ist. Christus aber ist der wahre Grund- und Eckstein, denn nach ihm muss sich das ganze Gebäude richten. Wir können kein Bau Gottes sein, wenn wir nicht mit ihm verbunden sind. Darum sagt auch Paulus (Eph. 4, 15 f.): wir sollen wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammengesetzt ist und ein Glied am andern hanget. Unser Glaube muss sich völlig auf Christus richten, er muss unsere Richtschnur sein. Er ist der Eckstein, auf dem nicht nur ein Teil des Gebäudes ruht, sondern dessen ganze Last. Denn einen andern Grund, sagt Paulus (1. Kor. 3, 11), kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus. So mahnt uns der Herr hier, indem er durch den Mund des Jesaja die Wiederaufrichtung der Kirche verheißt, auf diesen Grund uns zu stellen.

V. 17. Und ich will das Recht zur Richtschnur und die Gerechtigkeit zum Gewicht machen. Die Kirche war damals so zerrissen, dass die Gläubigen kaum mehr eine Besserung ihres Zustandes erwarten konnten. Darum zeigt der Prophet, dass Gott wohl Mittel in seiner Hand hat, die Kirche wiederherzustellen. Hat der Prophet soeben das Bild eines Gebäudes gebraucht, so zeigt er nun in einem andern Bilde, es sei nicht im Geringsten zu befürchten, dass Gott den angefangenen Bau am Ende nicht vollende. In versteckter Weise trifft er dabei den Hochmut und die Anmaßung derer, die für Säulen der Kirche gehalten werden wollten, während sie doch dieselbe von Grund aus, soweit das möglich war, zerrüttet hatten. Das Licht des Glaubens war fast erloschen, die Gottesverehrung geschändet, die Schmach des Volkes war eine erschreckende, aber dennoch rühmten sich diese Leute ihres königlichen Priestertums. Darum zeigt nun der Prophet, wie die Erneuerung der Kirche vor sich gehen wird. Unter „Gewicht“ ist hier aller Wahrscheinlichkeit nach das Richtblei zu verstehen. Die beiden Ausdrücke werden ähnlich 2. Kön. 21, 13 gebraucht: „Und will über Jerusalem die Messschnur Samarias ziehen und das Richtblei des Hauses Ahab.“ Doch will ich nicht bestreiten, dass der Prophet bei dem Wort „Gewicht“ auf eine Prüfung der Gewichte anspielt. Immerhin sind jedenfalls beide Bilder von Bauten hergenommen, bei welchen Baumeister und Zimmerleute alles nach der Richtschnur prüfen, damit in allen Teilen das rechte Verhältnis gewahrt werde. Der Herr wird also bei der Erneuerung seiner Gemeinde „Recht und Gerechtigkeit“ herstellen. Darunter versteht der Prophet die gerechte, gesetzmäßige Verwaltung der Kirche. Jener Grundstein wird also zu dem Zweck gelegt, dass mit der Kirche nicht nur ein Anfang gemacht, sondern dieselbe vollständig wiederhergestellt werde, von Grund aus. Nichts wird dem Bau fehlen, wenn Christus zum Grundstein gemacht wird. Fehlt er aber, dann wird alles in schlimmste Verwirrung geraten.

So wird der Hagel die falsche Zuflucht wegtreiben usw. Da ohne Zerstörung ihres falschen Vertrauens Recht und Gerechtigkeit nicht aufkommen konnten, so soll dieses falsche Vertrauen ausgetrieben werden. Gottes Zorn wird jede Höhe niederwerfen, und die Wasserflut wird in jeden sicheren Schlupfwinkel eindringen. Die Heuchler werden mit ihrer Prahlerei untergehen, der Herr wird seine Kirche erhalten. Der Prophet meint nicht, dass durch die Heimsuchungen, von denen er redet, die Gottlosen gebessert würden; sie werden durch dieselben nur noch härter und schlimmer. Vielmehr wird dieser Reinigungsprozess der Kirche sie aus ihren Schlupfwinkeln hervorziehen und sie ihres falschen, eitlen Vertrauens berauben. Denn die Gottlosen halten sich in ihrem Lug und Trug für so geborgen, als ob sie niemals Heimsuchungen erfahren würden. Sie gefallen sich in ihren Schandtaten und Missetaten. Aber schnell werden die Wasser gegen sie anstürmen, d. h. Gottes Zorn. Jäh, wie eine Sintflut, wird derselbe in ihre Schlupfwinkel hereinbrechen.

V. 18. Dass euer Bund mit dem Tode los werde usw. Zuerst hat der Prophet sich gegen die Heuchler gewandt, weil sie hartnäckig Gott und seine Drohungen verlachten, und hat ihre Gedanken zunichte gemacht. Nun verkündigt er ihnen, wenn sie ernstlich zu der Erkenntnis kämen, dass sie dem Herrn müssten Rechenschaft ablegen, dann würden sie, sie mögen wollen oder nicht, von Furcht und Grausen niedergeworfen werden. Dass Menschen einer solchen Sicherheit und Ruhe sich hingeben, ist die Folge einer gewissen Schläfrigkeit oder Schlaftrunkenheit, in der sie die Schwere ihrer Krankheit nicht fühlen. Der Herr wird sie aber aus ihrem Schlafe, und wäre derselbe noch so tief, aufrütteln und ihre eingebildeten Bündnisse aufheben. Sodann weist der Prophet darauf hin, dass der Friede, den die Gottlosen genießen, kein dauernder ist. Denn auch wider Willen werden sie gezwungen, Gott zu erkennen. Während sie sich der Ruhe hingeben wollen, werden wunderbare Plagen und erschütternde Ereignisse sie aus ihrer Sicherheit und Ahnungslosigkeit plötzlich empor reißen und hin- und herwerfen. Es geht ihnen gerade so, wie Verbrechern, die, wenn sie ihre Ketten abgestreift haben und entschlüpft sind, ihre Richter verlachen und mit frechen Beleidigungen schmähen; kaum aber erblicken sie hinter sich die sie verfolgenden Henker, so erbeben sie, und all ihre Lustigkeit verwandelt sich in Trauer. Ihre Lage wird nun noch viel schlimmer, denn zuvor. So genießen die Gottlosen für den Augenblick eine gewisse Freude, indem sie ihre Freveltaten sich aus dem Kopfe schlagen. Bald aber streckt der Herr seine Hand aus und erschüttert ihr Gewissen derart, dass sie nimmermehr bestehen können.

V. 19. Denn an jedem Morgen wird sie daher fahren. Hier bringt der Prophet den Gedanken noch deutlicher zum Ausdruck, dass über die Gottlosen ehestens die Flut hereinbricht, wenn sie sich auch ein ewiges Glück versprechen. Zwar das merken die Gottlosen, dass sie vielen Heimsuchungen unterworfen sind, aber sie lassen sich gehen und verstecken sich. So, meinen sie, könnten sie die Heimsuchungen vertreiben. Prahlend sprechen sie wohl: Lasset uns das Leben genießen, solange es geht; lasst uns lustig sein und uns nicht unnütz abmühen! Der Prophet aber verkündigt, dass über ihrem Haupte verborgenes Unheil schwebt. Dass die Flut an jedem Morgen, ferner des Tages wie des Nachts kommt, will einprägen, dass der Schlag, der sie trifft, ein dauernder und täglich wiederkehrender sein wird; sie sollen nicht wähnen, die Heimsuchung werde eine leichte sein, noch sollen sie sich einer Täuschung hingeben, indem sie auf irgendwelche Erleichterung hoffen. Gegen die Gläubigen ist Gottes Zorn nur ein vorübergehender, gegen die Gottlosen ist er ein ewiger; die verfolgt er unablässig bis ans Ende.

Denn allein die Anfechtung lehrt auf das Wort merken. Diese Stelle wird verschieden gedeutet. Doch möchte ich bei der gegebenen Übersetzung bleiben, ohne andere zu verwerfen1). Die Meinung des Propheten wird sein, dass allein ein schwerer Schrecken die Menschen für seine Lehre empfänglich machen kann. Er will sagen: Bisher habe ich bei euch mit meinen Ermahnungen nichts ausgerichtet. Nun wird der Herr ein neues Mittel anwenden, euch zu erziehen, nämlich Anfechtung, Plagen und Heimsuchungen. Durch dieselben wird er euch so in Schrecken setzen, dass ihr erkennt, mit wem ihr es zu tun habt. Wie ein von schmerzlicher Trauer erfüllter Vater seinen ungehorsamen, faulen Sohn ermahnt: Wenn du meine Mahnungen verachtest, dann musst du einmal mit dem Stock ermahnt werden, - so verkündigt Jesaja den Gottlosen, die alle Drohungen verlachten, einst würden sie sicher erkennen, wie ernst und wahr die Propheten gesprochen hätten; aber dann werde es ihnen nichts nützen. Gott muss man suchen, solange es Zeit ist. Pharao wurde durch die erlittenen Plagen nicht besser. Und auch dem Esau nützten seine Tränen nichts, als er sein Erstgeburtsrecht verloren sah. Es folgte bei ihm keine Buße, keine Besserung des Lebens.

V. 20. Denn das Bett ist so eng, dass nichts übrig ist. Der Prophet vergleicht die Gottlosen, die durch Gottes Hand bedrängt werden, mit Leuten, welche in einem kurzen, engen Bett liegen, in welchem sie kaum ihre Glieder ausstrecken können. Anstatt der Ruhe haben sie die schlimmsten Schmerzen. So werden die Juden in die Enge getrieben und aufs schlimmste bedrängt werden. Das Bett, das den Menschen zur Ruhe gegeben ist, wird für sie zur Folter werden.

Und die Decke so kurz, dass man sich drein schmiegen muss. Wenn sie sich bedecken möchten, dann wird die Decke zu kurz sein und nicht genügen. So wird zum ersten Übel auch dies noch hinzukommen, dass es ihnen in den kommenden schweren Prüfungen an allem Trost, dessen sie so bedürftig sind, fehlen wird. Dann werden sie erkennen, wie jammervoll ihrer aller Lage ist. Denn Gottes Rache wird auf allen Seiten sie verfolgen. Sie werden gar keine Erholung und Erleichterung haben und kein Heilmittel finden. Mit solchen Bildern will der Herr unserm schwachen Verständnis sich anpassen. Sonst können wir es nicht verstehen, wie schrecklich Gottes Gerichte sind. Hieraus können wir erkennen, von was für schlimmen Ereignissen die Gottlosen hin und her geworfen und erschüttert werden, wenn der Herr sie verfolgt. Und wenn sie sich im Schoß der Erde, in ihrer Finsternis verbergen wollten, der Herr zieht sie doch ans Licht, hält sie fest und bedrängt sie, dass sie sich nicht regen können.

V. 21. Denn der Herr wird sich aufmachen usw. Wie der Herr seinen Kindern gegenüber sich milde und gütig erweist, so zeigt er sich den Gottlosen gegenüber furchtbar. Der Prophet führt nun Beispiele dafür an, wie der Herr einst zum Schutze seines Volkes seine Hand ausgestreckt hat, z. B. als er die Philister niederwarf am Berge Perazim und David sie verfolgte (2. Sam. 5, 20). Oder als die Amoriter und andere Feinde vom Volke Israel im Tale Gideon geschlagen wurden (Jos. 10, 12). Josua war damals ihr Führer und erlangte vom Herrn, dass Sonne und Mond stehen blieben, um die Feinde besser verfolgen zu können. Dass der Herr „sich aufmacht“ oder „aufsteht“, deutet auf die Betätigung seiner Macht. Wir wähnen wohl, Gott sitze müßig da, wenn er die Gottlosen nicht straft. Aber er macht sich auf und gibt offenkundige Beweise seiner Tatkraft und zwar solche, aus denen hervorgeht, welche Sorge er um seine Kirche hat. Er geht freilich in verschiedener Weise vor. Damals hatte er sich gegen auswärtige Völker aufgemacht zum Schutz seines auserwählten Volkes; nun aber kündet er den Juden den Krieg an. Gott sorgt dadurch, dass er die inneren Feinde niederwirft, nicht minder für seine Kirche, als wenn er seine Macht und seine Waffen gegen äußere Feinde wendet. Er wird die Juden also unter die Zahl seiner Feinde rechnen, ob sie auch fälschlich damit prahlen, sie seien sein Volk.

Dass er sein Werk vollbringe auf eine fremde Weise. Einige Ausleger meinen, der Prophet sage darum „auf eine fremde Weise“, weil Gott nichts näher liege, als Erbarmen und Vergebung der Sünden; nur gegen seinen Willen und gegen seine ganze Art und Weise zürne er; im Zorn sei er gleichsam ein fremdes Wesen. Von Natur ist Gott ja auch barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Gnade und Treue (2. Mos. 34, 6). Andere Ausleger verstehen den Ausdruck „auf eine fremde Weise“ so: Weil Gott vorher gewohnt war, sein Volk zu schützen, so müsse man stutzen, dass er nun dasselbe feindlich angreifen und vernichten wolle. Nach meiner Auffassung soll der Ausdruck einfach bedeuten: auf eine ungewohnte, wunderbare Weise. Der Prophet will sagen: Der Herr wird euch strafen und zwar nicht in gewöhnlicher, gebräuchlicher, sondern in einer derart auffallenden Weise, dass alle, die es hören oder sehen, vor Schrecken erbleichen. Gewiss bezeugen alle Werke Gottes seine Macht und müssen uns mit Recht zur Bewunderung hinreißen. Dadurch aber, dass wir sie so oft sehen und erfahren, üben sie keine rechte Wirkung mehr aus. Wir achten Gottes Tun nicht und wähnen, er tue nichts, wenn er sich nicht außerordentlicher Mittel bedient. Jesaja führt also jene Beispiele aus alter Zeit an, damit wir erkennen, dass solche Strafe, ob sie auch den Menschen neu und wunderbar erscheint, für Gott gar nicht neu und sonderlich ist, da er schon damals nicht geringere Proben seiner Macht abgelegt hat. Gern lasse ich auch gelten, was man sagt, dass der Prophet die gottlosen Israeliten den Philistern und Kanaanitern gegenüberstelle, etwa in dem Sinne: der Herr tat einst wunderbare Dinge, als er sein Volk retten wollte; jetzt tut er sie, um dieses selbige Volk zu vernichten. Da die Israeliten verderbt waren, sollen sie Gottes Hand zu ihrem Verderben fühlen, dieselbe Hand, welche ihre Väter zu ihrem Heile spürten.

V. 22. So lasset nun euer Spotten, auf dass eure Bande nicht härter werden. Wiederum weist der Prophet die Gottlosen darauf hin, dass sie mit ihrer Klugheit, mit ihrer Verachtung, mit ihrem Spott und ihren Witzen nichts erreichen werden: all ihre Schlauheit wird zunichte werden. Er mahnt sie zur Buße, ob sie vielleicht doch noch sich heilen ließen. Er wiederholt darum seine Drohungen, um sie recht aufzurütteln. Durch ihr Widerstreben würden sie nur das Eine erreichen, dass sie sich noch mehr in ihre Bande verstrickten. Einige Ausleger übersetzen: dass eure „Züchtigungen“ nicht härter werden. Das passt aber nicht gut in den Zusammenhang. Das Bild von den Banden ist vielmehr hier recht an seinem Platze. Wie ein Fuchs, der sich in der Schlinge gefangen hat, dieselbe nur noch fester anzieht, wenn er versucht, sich herauszuziehen und zu entschlüpfen, so verwickeln und verstricken die Gottlosen durch ihr Widerstreben sich immer mehr in ihre Bande. Sie wollen der Hand Gottes entfliehen und locken wider den Stachel, gleich einem wilden Ross, welches mit aller Kraft seinen Reiter abzuwerfen sucht. Die Gottlosen erreichen aber nichts weiter, als dass sie nur umso schlimmer und schärfer getroffen und gezüchtigt werden. Da können wir lernen, wie man mit gottlosen Leuten umgehen muss, wenn dieselben aller Gottesfurcht gänzlich bar sind. Dann bleibt nur eins übrig, ihnen anzukündigen, dass sie mit ihrem Witz und ihrem Spott gegen Gottes Strafe, die ihnen bevorsteht, nichts ausrichten werden. Die Mahnung, dass man mit Gott nicht spielen und seiner nicht spotten soll, gilt aber auch uns. Wir sehen hier ja wie in einem Spiegel das Ende derer, welche der Propheten Ermahnungen und Drohungen von jeher verachteten.

Denn ich habe ein Verderben gehöret, so vom Herrn Zebaoth beschlossen ist über alle Welt. Der Prophet will sagen, dass es bei Gott beschlossene Sache sei, in kurzem den ganzen Erdkreis zu vernichten. Ein Doppeltes spricht er damit aus. Erstens, dass dem Erdkreis ein schweres, schreckliches Ende bevorsteht – wenn man die Worte nicht vielleicht auf Judäa allein beziehen will, was auch angeht -; zweitens, dass der Tag bestimmt und nicht mehr ferne ist. „Ich habe gehört“ - sagt der Prophet, d. h. es ist ihm offenbart worden. Der Herr bedient sich der Propheten, um seine Geheimnisse zu offenbaren; sie sind gleichsam deren Ausleger. Die ganze Welt ist voll von frevelhafter Gottlosigkeit, die Gottlosen rühmen sich ihrer Verderbtheit, als gäbe es kein göttliches Gericht. Überall aber oder doch wenigstens in Judäa wird Gott sich als strafender Richter offenbaren. Auch nicht ein Winkel des Landes wird um der Verachtung seines Wortes willen von unheilvollen Heimsuchungen verschont bleiben. Das ist zu Jesajas Zeit offenbart worden. Es gilt aber ebenso sehr für andere Zeiten. Denn Gott ist immer derselbe und pflegt seine Gerichte in derselben Weise und nach derselben Ordnung auszuführen.

V. 23. Nehmet zu Ohren usw. Jesaja gibt hier eine feierliche Einleitung, um anzudeuten, dass er über eine wichtige und sehr ernste Sache reden will. Wir pflegen von unsern Zuhörern besondere Aufmerksamkeit zu erwarten, sobald irgendetwas Wichtiges zu besprechen ist. Und doch scheint der Prophet im Folgenden über ganz bekannte, einfache Dinge zu reden, über Ackerbau, Saat, Ernte und dergl. Er will aber dabei die Herzen seiner Zuhörer höher emporrichten. Er handelt von göttlichen Gerichten und zeigt, wie weise Gott die Welt regiert, obschon die Gottlosen meinen, alles sei dem Willen eines blinden Zufalls unterworfen. Dazu benutzt er nun Bilder von Dingen, die allgemein bekannt sind, und will auf diese Weise eine schwer verständliche Sache so klar machen, dass sie auch dem schlichten Verstande begreiflich wird. Wir klagen oft, dass Gott den Freveltaten der Gottlosen gegenüber zu nachsichtig sei, weil er unserer Meinung nach dieselben nicht schnell genug straft. Der Prophet zeigt aber, dass von ihm alles nach Recht und Ordnung gehandhabt wird. Das also ist der Zweck jener feierlichen Vorrede, die Menschen zur Erkenntnis ihrer Torheit zu bringen. Denn sie bekritteln das Tun und die Gerichte Gottes und legen es verkehrt aus, während sie doch schon an dem gesetzmäßigen Lauf der Natur einen klaren Spiegel haben, in dem sie dasselbe deutlich erkennen können. Hierin liegt für die Menschen, die bei helllichtem Tage blind sind, ein versteckter Vorwurf. Der Prophet zeigt, wie töricht und stumpf sie sind, dass sie so deutliche Werke Gottes nicht verstehen. Nichtsdestoweniger gehen sie in ihrer Kühnheit so weit, dass sie verborgene Dinge ihrer willkürlichen Kritik unterstellen wollen. So nennt auch Paulus 1. Kor. 15, 36, wo er über die Auferstehung redet, diejenigen Leute Toren, welche die Kraft in dem Samenkorn, das in die Erde gelegt wird, nicht erkennen können. Du Narr, sagt er, das du säest, wird nicht lebendig, es sterbe denn. So nennt Jesaja hier diejenigen töricht, welche in so offenkundigen Dingen Gottes Weisheit nicht erkennen; er zeigt, wie die Menschen bei der Betrachtung der Werke Gottes blind und stumpf sind.

V. 24. Pflüget zur Saat oder brachet oder egget auch ein Ackermann seinen Acker immerdar? Allgemein hat man diese Stelle so ausgelegt, als ob der Herr seinem Volke Undankbarkeit vorwürfe. Er hätte es wie ein Landmann seinen Acker, gepflegt und hätte alle Mühe und Sorgfalt darauf verwandt, aber aus ihm keine gebührende Frucht gezogen. Jesaja wollte aber etwas ganz anderes sagen. Dieser Vers steht im Zusammenhang mit dem vorhergehenden, in welchem der Prophet davon sprach, dass ihm für Juda und den gesamten Erdkreis der Untergang geoffenbaret sei. Daran knüpft er an und sagt: Gott wird dennoch nicht immer seine Hand ausstrecken und wird nicht fort und fort die Missetaten der Menschen strafen. Er verbirgt oft seine rächende Hand und verschiebt seine Strafe auf gelegene Zeit. Diese Geduld und Langmut missbrauchen die Gottlosen und lassen sich nur noch mehr in ihrem Sündendienst gehen. Das hat Salomo im Sinn (Pred. 8, 11): „Weil nicht bald geschieht ein Urteil über die bösen Werke, dadurch wird das Herz der Menschen voll, Böses zu tun.“ Dabei leben schändliche, verbrecherische Menschen im Glück, während die Frommen nicht bloß den allgemein menschlichen Heimsuchungen, sondern oft noch besonderen schweren Leiden unterworfen sind. Die Gottlosen achten auf keine Gefahr oder sie denken: Es gibt keinen Gott, alles wird von einem blinden Schicksal regiert. Darauf bezieht sich nun Jesaja. Wisset ihr nicht, will er sagen, dass Gott seine Gelegenheiten hat und weiß, was er zu irgendeiner Zeit tun muss? Wenn Landleute nicht täglich die Erde aufreißen und die Schollen auflockern – dann kann man ihnen deshalb doch nicht Unerfahrenheit vorwerfen. Die Erfahrung bestimmt sie vielmehr, eine Pause zu machen. Denn wenn sie täglich die Erde umpflügten, so würden sie ja umsonst sich abmühen und jedes Fruchtbringen unmöglich machen. So quält Gott sich nicht ab in steter Unruhe, sondern er kennt seine Zeiten und Gelegenheiten, wo er handeln muss.

V. 25. Ist es nicht also: wenn er es gleich gemacht hat usw. Von einem Sämann redet der Prophet. Ein solcher wird nicht allen Samen, den er gerade bei sich hat, ausstreuen und nicht zwecklos denselben zusammenhäufen, sondern er wird nur soviel aussäen, als nach der Größe des Ackers nötig ist. Sonst würde eine Menge Samen verderben und kein Halm könnte Wurzel schlagen. Außerdem wird er nicht verschiedenerlei Samen untereinander mengen, sondern einen Teil des Landes wird er für den Weizen, einen anderen für die Wicken, einen andern für den Kümmel bestimmen, und zwar alles nach Maß. In derselben Weise redet der Prophet (V. 27) vom Dreschen. Es wird nicht alles auf gleiche Art gedroschen. Mit dem Dreschwagen wird der Weizen gedroschen, die Wicken mit einem Stabe, der Kümmel mit einem größeren Stecken. Der Prophet hat dabei die Gebräuche seiner Heimat im Auge. Wir kennen diese Art des Dreschens nicht. Diejenige Art des Dreschens wird also angewandt, die gerade für die betreffende Getreideart passt. Außerdem weist der Prophet darauf hin, dass der Landmann nicht immer und unausgesetzt am Dreschen ist, sondern nur zu bestimmten Zeiten. Von wem aber hat der Landmann das gelernt, wenn nicht von Gott? Also, heißt es (V. 26), unterwies ihn sein Gott zum Rechten und lehrte ihn. Wenn diese Leute nun in dieser Weise in geringen Dingen unterwiesen und gelehrt sind, was muss man dann erst von ihrem großen Lehrer und Meister halten? Sollte der nicht wissen, sein Tun und Handeln nach bestimmtem Maß und Ziel einzurichten? Sollte der nicht die Zeit wissen, wann er sein Gericht ausführen, wann er Völker gleichsam pflügen und eggen soll, wann die Menschenernte eingesammelt, wann sie gedroschen werden, welche Art von Schlägen und Heimsuchungen er den Menschen auferlegen muss, was endlich für die einzelnen Zeiten und Personen am meisten nötig ist? Der die ganze Naturordnung festgesetzt hat, wird der nicht das alles mit weisem Maße ordnen? Und so verwegen sind die Menschen, dass sie mit ihm zu streiten und seiner Weisheit Vorwürfe zu machen wagen? Kurz, man darf nicht unbesonnen urteilen, wenn der Herr nicht gleich die Missetaten der Menschen straft. Wenn jemand, der von der Landwirtschaft nichts versteht, einem Landmann zusieht, wie er mit dem Pflug den Acker aufreißt, wie er Furchen zieht, wie er die Schollen zerschlägt, hierhin und dorthin seine Ochsen treibt und der Spur der Furchen folgt, dann wird er ihn womöglich verlachen, als wenn derselbe ein kindisches Spiel triebe. Der Landmann aber wird das mit Recht verurteilen und wird einem solchen Menschen Unwissenheit und Dummheit vorwerfen. Wirklich bescheidene Leute werden, wenn sie nichts davon verstehen, sich doch sagen, dass das alles nicht umsonst und zum Vergnügen geschieht. Werden dagegen unwissende Menschen – Unwissenheit ist ja immer kühn und vorschnell im Urteilen – nicht von kundigen Leuten mit Recht beschuldigt und verurteilt? Was soll dann aber der Herr mit uns anfangen, wenn wir es wagen, sein uns unbegreifliches Tun zu tadeln? Da sehen wir, wie sehr wir uns vor solcher Unbesonnenheit zu hüten haben und wie bescheiden wir bei solchem Urteilen sein müssen. Wenn wir Menschen gegenüber bescheiden sein müssen und nicht grundlos verurteilen dürfen, was wir nicht verstehen, wie viel mehr müssen wir Gott gegenüber bescheiden sein! Wenn wir also an die Heimsuchungen denken, von denen die Kirche getroffen wird, dann sollen wir nicht klagen, dieselbe sei verlassen, es sei um sie geschehen, während den Gottlosen die Zügel frei gelassen seien. Vielmehr sollen wir daran festhalten, dass der Herr zu seiner Zeit die nötigen Heilmittel gebrauchen wird, und sollen seine Gerichte von ganzem Herzen als gerecht anerkennen. – Wenn jemand aus einer noch gründlicheren Erwägung dieser Verse zu dem Schluss kommt, die einen würden schneller bestraft, die andern langsamer, und bei den einzelnen sei die Strafe verschieden, so hat das nicht nur wahrscheinlich, sondern ganz gewiss dem Propheten im Sinn gelegen. Ein wunderbarer Trost ergibt sich daraus, dass der Herr seine Drescharbeit so einrichtet, dass er die Seinen dabei nicht zerbricht, noch zermalmt. Die Gottlosen macht er zunichte und stürzt sie ins Verderben. Die Seinen aber züchtigt er, damit sie zubereitet, gereinigt und gesammelt werden in die ewigen Scheuern.

V. 29. Solches geschieht auch vom Herrn Zebaoth usw. Einige legen diesen Vers so aus, als ob der Prophet sagen wollte, die Kenntnis des Ackerbaus, von dem er redete, sei von Gott ausgegangen. Meiner Meinung nach enthält dieser Vers aber nur die Anwendung des vorher Gesagten. Nachdem der Prophet nämlich Gottes Weisheit auch in den geringsten Dingen aufgezeigt hat, will er nun unsere Gedanken höher empor richten und uns lehren, ehrfurchtsvoller auf Gottes wunderbaren Rat und seine verborgenen Gerichte zu schauen. Aus den vorhergehenden Versen kann freilich, ja muss geschlossen werden, dass nicht nur der Ackerbau, sondern alle Künste, welche den Menschen nützen, Gottes Gaben und dass alle trefflichen Erfindungen dem menschlichen Geiste von Gott eingegeben sind. Es gibt nichts, dessen die Menschen sich rühmen oder dessen Entdeckung sie sich zu ihrem Ruhme zuschreiben könnten. Das haben die Alten getan, die, undankbar gegen Gott, diejenigen unter die Zahl der Götter reihten, von denen, wie sie glaubten, irgendeine Kunst entdeckt worden war. Daher die Menschenvergötterung und die zahllose Schar von Götzen, welche die Heiden sich gemacht haben. Der Prophet aber zeigt, dass derartige Künste Gott zugeschrieben werden müssen; er allein ist ihr Urheber und ihr Lehrer. Wenn das vom Ackerbau und andern handwerksmäßigen Künsten gilt, gilt das dann nicht viel mehr von den freien Künsten des Geistes, von der Heilkunst, von der Rechtskunde, von der Astronomie, von der Mathematik, von der Redekunst und andern mehr? Müssen wir bei denen nicht noch viel mehr urteilen, dass sie in Gott ihren Ursprung haben? Müssen wir nicht auch in ihnen seine Güte erkennen, damit in allem, in großen, wie in kleinen Dingen sein Lob und seine Ehre gepriesen werde?

1)
Richtig ist wohl zu übersetzen: „Dann wird es eitel Schrecken sein, die Kunde zu vernehmen“, - nämlich von jenem Unglück
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