Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 2.
V. 1. Dies ist's, das Jesaja sah usw. Die Weissagung dieses zweiten Kapitels bekräftigt, was kurz vorher schon angedeutet worden ist: sie bestärkt die Zusage, dass Gott sich seiner Gemeinde annehmen und sie erretten wird. Wenn das Feuer des göttlichen Zornes wütet, wenn seine Drohungen uns erschüttern, dass wir meinen vergehen zu müssen, dann wird es uns nicht leicht, überhaupt noch Rettung für uns zu hoffen, dann genügen bloße Zusagen nicht, uns aufzurichten und unsere Furcht zu vertreiben. Darum hat Gott uns zum Troste seinem Propheten dieses sonderliche Gesicht geoffenbart. Damit will er das, was bereits verheißen wurde, noch fester bekräftigen; er will aufs Gewisseste es uns bezeugen, dass er seine Gemeinde in keinem Sturm werde gar versinken lassen. So schließt sich der Inhalt dieses unseres Gesichts eng an V. 26 f. des vorigen Kapitels an. Die Verkündigung des göttlichen Wortes hat mitunter bei uns nicht die rechte vollkommene Wirkung: darum lässt Gott je und je auch Gesichte hinzukommen, welche die Wahrheit seines Wortes uns versiegeln sollen. Wir lernen hieraus, dass wir bei der Betrachtung der Propheten überhaupt die wunderbaren Gesichte stets aufs engste mit ihren Verheißungen zu verbinden haben. Sie drücken ihnen gleichsam das Siegel göttlicher Bestätigung auf. Wahrlich wir haben Grund, Gottes Güte zu preisen, dass er sich nicht am schlichten Wort genügen lässt, sondern uns seine Wahrheit auch noch durch Bilder deutlich vor Augen stellt. In diesem Falle tut er dies, weil die Rettung und Wiederherstellung der Gemeinde in der Tat eine äußerst wichtige und notwendige Sache ist. Wo bliebe Gottes Wahrhaftigkeit, wo seine Treue, wenn seine Gemeinde nicht Bestand hätte? Dann wäre Gott der Lüge überführt; alles, was in seinem Worte steht, wäre Trug. Wie oft hat Gott in denkwürdigen Taten gezeigt, dass er in unerforschlicher Weisheit und ohne menschliche Hilfe seine Gemeinde zu retten weiß. Hier bezeugt er dasselbe als seinen festen Vorsatz durch eine wunderbare Weissagung. Er hatte dabei aber eine doppelte Absicht. Bedenken wir, wie Jesaja und andere Propheten nach ihm bei der hartnäckigen Bosheit des Volks immerfort drohen und strafen mussten, bis endlich Stadt und Tempel zerstört und die Juden weggeführt waren: demgegenüber mussten die Frommen wenigstens einigen Trost, einige Hoffnung zur Linderung ihres Schmerzes erhalten. Und weiter: in der Gefangenschaft wurden alle entmutigt; nach der Rückkehr trafen das Volk neue Heimsuchungen, der Eindruck der Verwüstung und Verödung im Lande brachte gar manchen der Verzweiflung nahe. Da war die Gefahr des allgemeinen Abfalls groß, und nur kräftiger Trost, nur die gewisse Hoffnung der dennoch verheißenen Wiederherstellung Jerusalems konnte die Gemüter aufrichten und stärken. Nur so war es möglich, dass man wenigstens die Anrufung Gottes, das Gebet zu ihm, nicht aufgab, und sich damit das Mittel erhielt, welches für alles Unglück das einzige und beste ist. – Jesaja hebt also hervor, dass, was nun folgt, ihm in einem besonderen Gesicht geoffenbart worden sei.
V. 2. Es wird zur letzten Zeit usw. Damit spricht der Prophet vom Reiche Christi. Bis dahin war gleichsam noch alles in der Schwebe, bis dahin sollte das Volk lernen, seinen Blick von der Gegenwart hinweg auf die Zukunft zu richten. Denn diese erst brachte mit dem Erlöser die volle Wahrheit nach dem Schatten und Vorbild der vorhergegangenen Zeiten. Nachdem nun aber Christus gekommen ist, ist für uns in Wahrheit die „letzte Zeit“ gekommen. Dagegen mussten die Väter ihre ganze Sehnsucht auf den verheißenen Erlöser richten. Von ihm allein konnte die rechte Errettung seiner Gemeinde kommen. Auf ihn sollten sie ihre ganze Hoffnung setzen; und darum sorgte Gott selbst dafür, dass sie immer wieder auf dieses Ziel hingewiesen wurden. Konnten doch die Frommen in der langen Zwischenzeit, die noch vergehen sollte, ehe Jesus erschien, unendlich oft an ihrem Glauben irre werden, wenn sie nicht sich die Fülle der Zeiten vergegenwärtigten, in welcher die Gemeinde des Herrn vollendet werden sollte! In jenen mannigfaltigen Stürmen, die noch bevorstanden, wer die Gemeinde des Herrn nicht selten dem Untergang nahe. Da konnte dann jeder Fromme an solche Verheißungen sich klammern und mit ihrer Hilfe sich in den Hafen retten. Es ist auch zu beachten, dass mit der Ankunft Christi im Fleische die Zeit der Vollendung begonnen hat und nun ununterbrochen ihren Fortgang nimmt, bis der Herr zu unserer Erlösung wieder erscheinen wird.
Der Berg, da des Herrn Haus ist, wird fest stehen. Diese Weissagung sieht auf den ersten Blick sehr befremdlich aus. Der Zion war ein ziemlich niedriger Hügel, ein kleiner Sandhaufen im Vergleich mit gewaltigen Bergen. Obendrein war doch eben erst von seiner Verwüstung und Zerstörung die Rede. Und nun sollte der Zion, der aller seiner Herrlichkeit entkleidet werden sollte, späterhin wieder mit solchem Glanze umgeben werden, dass aller Völker Augen sich auf ihn richten! Ja er sollte höher werden denn alle Berge, höher als ein Olymp und wie alle die berühmten Berge der heidnischen Völker des Altertums heißen mögen. Das war, natürlich angesehen, nicht wahrscheinlich. Sollte er etwa zu den Wolken empor gehoben werden? Ohne Zweifel haben die Spötter der damaligen Zeit über solch ein Wort sich ebenso lustig gemacht, wie sie es zu allen Zeiten getan haben und noch tun. Dennoch hat Jesaja Recht behalten. Denn dieser Hügel ist in der Tat über alle Berge erhoben worden. Von ihm aus erging die Stimme des Herrn, und breitete sich aus über die ganze Erde. Hier erglänzte die Herrlichkeit Gottes: denn weil das Heiligtum Gottes dort stand, überragte er in seinem Range die ganze Welt. Wir müssen hier wohl beachten, auf welche Weise Jesaja seinen Trost spendet, durch den er den Mut des weggeführten Volkes heben wollte. Das eine sollte es fest im Herzen halten: gibt es auch keine Tempel mehr und kein Opfer, und ist auch alles vernichtet und zerstört, die Hoffnung bleibt: der Herr wird einst wieder Wohnung nehmen auf seinem heiligen Berge auf Erden. Nicht auf die Zerstörung, die vorlag, auf diese Weissagung, die Jesaja verkündigt hatte, sollten die Frommen ihren Blick richten. Die folgenden Worte zeigen, warum der Prophet mit solchem Nachdruck und solcher Gewalt von der Erhöhung des Berges Zion sprach: das Evangelium ging von ihm aus in die Welt. Andere Berge mögen höher sein, der Berg, wo Gottes Herrlichkeit sich offenbart, steht doch hoch über ihnen allen. Nicht von Zion als solchem spricht der Prophet, sondern von dem Zion, insofern er die Stätte ist, von der aus das Licht in alle Welt erging.
V. 3. Und werden viele Völker hingehen. Im vorhergehenden Verse war nur noch ganz kurz angedeutet worden, wie der Berg Zion zu solchem Ruhme kommen werde: es werden alle Heiden dazu laufen. Jetzt wird auch der Zweck angegeben, um dessentwillen sie das tun werden. Sie werden kommen, um dem Herrn zu dienen. Und zwar haufenweise, von allen Seiten, aus fernen Ländern werden sie kommen, nicht nur ein Volk, sondern viele, solche, die sich bisher ganz fremd gewesen waren, werden in diesem einen Ziel unter sich eins werden. Aus der ganzen Welt, will Jesaja sagen, wird sich die Gemeinde sammeln, während sie bisher nur an einem verborgenen Orte vorhanden war. „Viele“ steht hier im Sinn von: viele „verschiedene“. Es soll keineswegs einschränken oder abschwächen, was vorherging: es werden alle Heiden dazu laufen. Äußerlich hat sich dies Wort Jesajas freilich niemals erfüllt: niemals sind alle Völker der Erde, ein jedes aus seinem Lande, nach Judäa hingeströmt. Aber durch die vom Zion ausgehende Predigt des Evangeliums hat Gott sich aus allen Völkern eine Kirche gesammelt, und darum kann Jesaja mit Recht sagen: sie werden zu dem Berge hingehen. Denn in einem Glauben haben sie die Verheißung des ewigen Lebens ergriffen und sind zu einer Kirche zusammengewachsen.
Und werden sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des Herrn gehen usw. Mit diesen Worten deutet der Prophet an, dass die Frommen in jener Zeit voll brennenden Eifers sein werden, die Lehre von der rechten Verehrung Gottes auszubreiten. Keiner wird zufrieden sein mit seiner Berufung, mit dem Besitz an religiöser Erkenntnis, der ihm gerade zuteil geworden ist, sondern sie werden alle auch andere bei zu ziehen suchen. In der Tat ist nichts dem rechten lebendigen Glauben so fremd, als die Trägheit, die um die Brüder sich nichts kümmert und das Licht der rechten Erkenntnis bei sich verkümmern lässt. Wer berufen ist, hat die Pflicht, vor anderen sein Licht leuchten zu lassen. Denn das ist gewöhnlich das Mittel, durch das die Kirche ausgebreitet wird: durch Menschen ergeht der Ruf an andere. Gott könnte freilich auch durch geheimen inneren Antrieb die Menschen zu sich ziehen, aber er benützt Menschen als Diener zu diesem Werk, damit sie sich üben, gegenseitig um das Heil des Nächsten sich zu kümmern. Auf diese Weise verbindet er sie auch untereinander und zeigt zugleich, wie einer vom andern sich weiterführen und leiten lassen muss. Jesaja lehrt uns sodann an dieser Stelle auch noch dies, dass, wer ein Lehrer sein will, nicht still sitzen und bloß Vorschriften erlassen darf. Vielmehr soll er sich bemühen, andere zu gewinnen, sie auf den Weg zu führen, auf dem sie gemeinsam wandeln wollen. So gibt es heutzutage manche Lehrer, die nicht streng genug sein können in ihrem Ermahnen und Befehlen, aber dabei für sich selbst keinen Fuß rühren mögen. Hier aber befehlen nicht etwa die Gläubigen ihren Brüdern: geht hinauf, - sondern gehen ihnen selbst mit dem guten Beispiel voran. Das ist die rechte, einzig erfolgreiche Weise, zu lehren: wir müssen selbst tun, was wir andern zumuten, und dadurch zeigen, dass es uns wirklich Ernst ist.
Dass er uns lehre seine Wege. Die rechte Verehrung Gottes ist unmöglich, wo nicht die rechte Lehre dazu anleitet. Diese wiederum ist einzig und allein bei Gott. Nichts ist Gott missfälliger, als törichter und eitler Dienst; und so gewiss er Menschen als seine Werkzeuge benützt, so gewiss will er, dass diese nichts als sein Wort den Menschen darbieten. Hätte man das in der christlichen Kirche immer beachtet, so wäre der schreckliche Aberglaube und die völlige Verkehrung der Wahrheit, die bei ihr einriss, verhütet worden. Das Lehramt ist den Hirten der Gemeinde des Herrn nur zu dem einen Zweck übertragen, dass Gottes Wort den Menschen verkündet werde; dieser Ordnung muss sich fügen, wer solches Amt begehrt. Zu der Lehre muss der Gehorsam hinzutreten. Darum wird fortgefahren: und dass wir wandeln auf seinen Steigen. Damit ist Ziel und Frucht der rechten Lehre bezeichnet. Denn nicht spekulatives Wissen ist es, was Gott uns in seinem Wort geoffenbart hat, sondern eine Lehre, die unser Leben bestimmen und uns zum Gehorsam gegen ihn erziehen soll. Nicht ohne Grund nennt der Prophet jedoch dieselbe „Wege und Steige“. Denn darin liegt zugleich, dass derjenige schlimm in die Irre geht, der auch nur im Geringsten von ihnen abweicht. So ist mit solchen Worten jegliche Willkür abgeschnitten und deutlich gesagt, dass jeder, der Größte wie der Geringste, unter Gottes Wort sich zu beugen hat, von ihm in allen Stücken sich leiten lassen soll.
Denn von Zion wird das Gesetz ausgehen. Dieser Satz begründet, was soeben über den Vorrang des Berges Zion in der letzten Zeit gesagt war: von ihm geht die heilsame Lehre aus in alle Welt. Der Prophet spricht hier vom Ausgehen des „Gesetzes“; allein das betreffende Wort bedeutet genau genommen „Weisung“, wie sie eben im Gesetz am vollkommensten erhalten ist. Jesaja redet hier in freierer Anwendung des Worts, wie auch sonst die Propheten zu tun pflegen: das „Gesetz“ ist die ganze Lehre von Gott. Wir wissen ja bereits, wie diese Weissagung Jesajas in Erfüllung ging, als sich von Jerusalem die Predigt des Evangeliums über die ganze Welt ausbreitete. Auch im Blick hierauf passt das Wort „Gesetz“ im eigentlichen Sinne des Worts nicht für diese Stelle. Denn mit dem Evangelium wurde ja das Gesetz beseitigt, soweit es nur Vorbild des Zukünftigen und knechtischen Jochs war. Wenn die Propheten von den Wassern sprechen, welche vom Tempel aus die ganze Welt bewässern, so beschreiben sie in bildlicher Form dasselbe, was Jesaja hier ohne Bild sagen will: Jerusalem wird der Ort sein, von welchem die Predigt vom Heil ausgehen soll.
Warum hebt der Prophet dies alles so angelegentlich hervor? Er tut es, um die Frommen zu stärken in den Anfechtungen, die späterhin nur zu oft sie bedrängen sollten. Mag es sonst in Jerusalem gehen, wie nur immer, - dessen dürft ihr mit Gewissheit hoffen: das Gesetz wird ausgehen vom Zion und das Wort des Herrn von Jerusalem. Denn so ist es in Gottes Rat beschlossen, und niemals soll dieser Rat Gottes zunichte werden. Dieser Trost war den Frommen in der Folgezeit sehr nötig. Als das Land Juda verödet, der Tempel zerstört war, als die Gemeinde versprengt und der Dienst des Herrn aufgehoben war, konnte mancher den Mut verlieren und die Hoffnung aufgeben. Und weiterhin: als die Juden aus Babylon zurückgekehrt waren und im Laufe der Zeit wieder der abscheulichste Götzendienst eindrang, während die Priester ihre Macht in einer gottlosen Gewaltherrschaft missbrauchten, da konnte den Frommen wohl leicht der Gedanke kommen, dass es mit der rechten Verehrung Gottes für immer vorüber sei. Diese Entartung der Gemeinde im Innern war für sie eine weit schwerere Anfechtung als das babylonische Exil. Damals gab es noch Propheten, deren Worte Trost spenden konnten. Später aber schien es, als sei alles, was Gott hatte verkündigen lassen, umsonst gewesen. Das Gesetz war verachtet und entweiht an dem Orte, den Gott zu allererst ihm als ewige Stätte zugedacht. Und nun sollte es auch noch in alle Welt ausgehen! Ja, gerade das verkündigt der Prophet. Es wird nicht bloß bestehen bleiben, sondern sich ausbreiten, es wird die Schranken sprengen, in denen es bisher gehalten war, es wird allen Völkern ohne Unterschied verkündigt werden. Auf diese Verheißungen stützen sich die Apostel, hier sahen sie ihre Aufgabe beschrieben; auf diese Worte hin wagten sie es, ein Land nach dem andern in Angriff zu nehmen, und vermochten die Last zu tragen, die ihnen mit ihrem Predigtamt zufiel. Hatten sie doch mit der Feindschaft der ganzen Welt zu kämpfen! Aber sie wussten, dass der Gott, der solche Verheißung gegeben und ihnen solches Amt übertragen hatte, auch aller Schwierigkeiten und Hindernisse Herr war.
Nebenbei ist zu beachten, dass unser Vers auch eine kräftige Bestätigung unseres christlichen Glaubens darbietet. Es heißt hier, dass die Botschaft des Evangeliums vom Zion ausgehen solle; damit ist gesagt, dass sie eine neue und andere ist gegenüber dem Gesetz, das vom Berge Sinai ausgegangen war. Die äußeren Satzungen dieses Gesetzes sollen abgetan werden, eine neue Form an Stelle der alten treten. Anderseits aber ist doch diese neue Botschaft dieselbe ewige Wahrheit, die nicht erst von gestern her ist, sondern die Gott Jahrhunderte vorher durch seine Propheten bezeugen ließ. So ist ja der Wille Gottes in der Tat stets derselbe, aber vom Zion ist er in einer neuen Form ausgegangen. Denn mit der Erscheinung Christi sind die äußeren Satzungen abgetan und die Wahrheit an Stelle des schattenhaften Vorbildes getreten.
V. 4. Und er wird richten unter den Heiden. Das Wort „richten“ wird im alten Testament sehr oft im Sinne von „herrschen“, „regieren“ gebraucht. Bis jetzt hatte Gott nur ein Volk als sein besonderes Herrschaftsgebiet angenommen. Jetzt, verkündigt der Prophet, werden dieses Reiches Grenzen ausgebreitet: es wird über alle Völker sich erstrecken. Damit wird auch stillschweigend der große Unterschied angedeutet, welcher zwischen dem vorbildlichen Reiche Davids und jenem viel herrlicheren Reiche besteht. Damals herrschte Gott in seinem Volk durch David: mit der Erscheinung Christi übernimmt er die Herrschaft selbst in seinem eingeborenen Sohn Jesus Christus, der ja der wahre Gott ist, geoffenbart im Fleische. Allerdings meinen ja die Propheten mitunter Christi Reich, wenn sie von Davids Reich sprechen, was, menschlich betrachtet, ganz natürlich ist, - sollte ja doch Christus aus dem Geschlechte Davids hervorgehen. Hier aber soll die göttliche Herrlichkeit dieses Königs gepriesen werden. Daraus ersieht man, wie viel herrlicher der Stand jener neuen Gemeinde ist: hier ist Gott selbst in seinem Sohne gegenwärtig. Zugleich bestätigt hier der Prophet, dass auch die Heiden zum Reiche Gottes berufen sind. Nicht nur unter den Juden, sondern in der ganzen Welt soll Christus herrschen.
Und strafen viele Völker. „Strafen“ steht hier in der Bedeutung von „zurechtweisen“. Ohne solche Zurechtweisung lernen wir niemals Gott wirklich gehorchen. Und ganz besonders gilt dies, wenn es sich, wie hier, um die Wiederherstellung und Reinigung der Gemeinde Gottes handelt. Darum begann Jesus die Predigt des Evangeliums damit, dass er die Welt strafte um ihre Sünde. Ohne solches Strafen wird der Widerstand unseres natürlichen Menschen niemals gebrochen, und darum wird hier geradezu von Gott gesagt, dass er strafe, d. h. uns durch sein Urteil zum Besseren bekehre. Wir sehen es ja vor Augen, wie unfruchtbar die Predigt des Evangeliums ist, wo nicht jenes Strafen des heiligen Geistes (vgl. Joh. 16, 8) vorhanden ist, das die Menschen zur Buße führt.
Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen. Damit ist die Frucht bezeichnet, welche die Herrschaft Christi über die Völker wirken wird. Was gibt es Köstlicheres als den Frieden! Und doch: wenn auch jedermann vorgibt, ihn zu lieben, stört ihn doch ein jeder mit seinen Begierden. Hochmut, Habgier, Ehrgeiz bewirken es, dass jeder gegen seinen Nächsten in wilder Feindschaft sich erhebt. Von Natur fühlt jeder Mensch sich zum Streit und Zwietracht getrieben. Jesaja aber weissagt hier, dass diesem Unheil ein Ende gemacht werden solle. Denn wie das Evangelium Versöhnung predigt zwischen Gott und Mensch, so versöhnt es auch die Menschen untereinander. Es ist unrichtig, die Weissagung etwa bloß darauf zu beziehen, dass zurzeit, da der Messias geboren werden sollte, Friede herrschen werde auf Erden. Das war ja in der Tat unter dem Kaiser Augustus im römischen Reiche der Fall. Und man kann, wenn man will, in diesem Frieden ein Vorbild des ewigen Friedens, den Christus bringt, erblicken. Aber die Meinung des Propheten ist eine andere. Er will sagen, dass Jesus die Menschen also mit Gott versöhnt, dass sie auch unter sich den Streit fahren lassen und Frieden schließen zu ihrem eigenen Heil. Es gibt kein besseres Mittel, Friede zu stiften, als die Verkündigung und Ausbreitung des Evangeliums. Aber noch mehr. Nicht bloß Friede, sondern auch Willigkeit zu gegenseitiger Hilfeleistung wirkt das Evangelium. Es heißt nicht: sie werden ihre Schwerter zerschlagen, sondern: sie werden sie zu Pflugscharen machen. An Stelle des Streits wird das Bemühen treten, sich gegenseitig und dem Ganzen zu nützen. Pflugscharen und Sicheln sind Geräte, die man für die Bebauung des Ackers braucht, der Ackerbau ist die notwendige Grundlage menschlicher Kultur und jeder segensreichen Entwicklung. Wo Christus herrscht, tritt an Stelle feindseliger Zwietracht ein edler Wetteifer im gegenseitigen Wohltun.
Und werden hinfort nicht mehr kriegen lernen. Der Prophet will sagen: man wird sich nicht mehr üben in kriegerischen Künsten, um dem Nächsten schaden zu können. Wir sehen, dass diejenigen, welche die Friedfertigkeit noch nicht gelernt haben, im christlichen Glauben noch nicht sehr fortgeschritten sind, ebenso wenig auch diejenigen, welche noch nicht so viel Kraft der Liebe besitzen, dass sie sich gegenseitig beistehen und helfen. Beides aber ist unmöglich, wo nicht zuvor der Friede mit Gott im Gewissen hergestellt ist; denn nur aus ihm entsteht auch Friede unter den Menschen. Eine große Verdrehung dieses Schriftwortes ist es, wenn man daraus entnehmen will, dass die christlichen Völker überhaupt kein Recht haben, das Schwert zu gebrauchen. Das müsste aber zur Anarchie führen. Manche gehen soweit, dass sie überhaupt jeden Krieg verwerfen, auch wenn z. B. ein Fürst nichts weiter tut, als dass er sein Volk verteidigt und gegen Unrecht schützt. Das Schwert zu nehmen, heißt es, sei für den Christen unter allen Umständen ein Unrecht. Allein es liegt auf der Hand, dass es in einem höheren Sinn gemeint ist, wenn der Prophet sagt, dass das Reich Christi ein Friedensreich ist. Lehrreich für unsere Stelle ist es, wenn Christus sagt (Lk. 22, 36), dass wer kein Schwert habe, sich ein solches kaufen möge. Damit wollte er doch sicher nicht die Seinigen zu den Waffen rufen, sondern nur andeuten, dass eine Zeit des Kampfes vor der Tür stehe. Umgekehrt heißt es hier, es werde keine Schwerter mehr geben, oder sie werden in Pflugscharen verwandelt werden, und es ist damit gemeint, dass die Feindschaft unter den Menschen aufhören werde, dass die, welche früher einander bekämpft, nun Freunde werden sollen. Aber, möchte man einwenden, muss nicht eben damit auch der Krieg ein Ende nehmen? Gewiss, der Friede wird in eben dem Maße unter den Menschen vorhanden sein, als das Reich Christi unter ihnen Raum gewinnt. Ja, würde Christus wirklich in uns herrschen, dann wäre der Friede gewiss vorhanden. Aber davon sind wir leider nur zu weit entfernt. Wir dürfen nie vergessen, dass das Reich Christi hier auf Erden nur seinen Anfang nimmt, nicht aber vollendet wird. Auch sammelt Gott seine Gemeinde nicht in der Weise, dass er sie von allen andern Menschen trennt, vielmehr sind stets Böse und Gute untereinander, und auch die Guten sind doch nicht vollkommen, sondern weit entfernt von dem Ziele, das sie erreichen sollen. Aus allen diesen Gründen ist die vollkommene Erfüllung dieser Weissagung nicht auf dieser Erde zu erwarten. Wir müssen uns damit begnügen, den Anfang ihrer Erfüllung zu erleben: wir dürfen zufrieden sein, wenn wir als Menschen, die durch Christum mit Gott versöhnt werden, Friede untereinander halten lernen, wenn wir lernen, dem Nächsten kein Übles anzutun.
V. 5. Kommet nun, ihr vom Hause Jakob! Aufs ernsteste tadelt der Prophet die Juden unter Hinweis auf das Beispiel der Heiden. Wenn der Herr vom Zion aus aller Welt sein Gesetz verkünden lässet, damit alle Völker dem auserwählten Volke eingepflanzt würden, so ist es doch unbegreiflich, dass die vom Hause Jakob von Gott abfallen sollten! So enthält diese Ermahnung zugleich die schwerste Anklage. Wie undankbar war es, dass die, welche Erstgeburtsrecht hatten im Hause Gottes, denen der Ehrenname „Haus Jakob“ zukam, sich freiwillig ihres Erstgeburtsrechts nicht nur, nein, jedes Rechtes auf das Erbe entäußerten! Die Völker kommen, eines treibt das andere an, willig lassen sie sich strafen und nehmen das Gesetz Gottes an – und ihr, Israeliten, bleibt zurück? „Lasst uns wandeln“, heißt es: den Israeliten ist das Licht so nahe, als es nur sein kann, und mit blinden Augen gehen sie daran vorüber, ja sie ersticken es, so viel sie nur können, während es weithin die Heiden durch seinen hellen Glanz herbeiführt.
V. 6. Aber du hast dein Volk lassen fahren. Damit geht der Prophet zur offenen Anklage gegen das verderbte Volk über. Er wendet sich, selbst im Innersten ergriffen, an Gott und ruft aus: Was soll ich reden zu einem Volk, das doch verloren ist? das du, o Herr, mit Fug und Recht verstoßen hast? Hat es sich doch selbst an die falschen Götter gehängt und dein Wort von sich gewiesen! Dabei enthält dieses Prophetenwort zugleich eine Ankündigung der kommenden Strafe, die Jesaja im Geiste voraussah. Es war nicht verwunderlich, wenn um solcher Sünden willen Zion verwüstet und zerstört wurde. Es brauchte auch niemand um dessentwillen zu verzweifeln, vielmehr konnten diejenigen, die überhaupt der Buße noch zugänglich waren, vor dem Eintritt dieses Unglücks sich Gott wieder zuwenden. So suchen ja die Propheten jeder Zeit, wenn sie das göttliche Gericht ankündigen und den Gottlosen mit der Strafe des Herrn drohen, zugleich, soweit es nur möglich ist, Buße in den Herzen zu erwecken. Dieses Streben, auch den Verlorenen noch zu helfen, wie es nur geschehen kann, darf niemals fehlen bei einem Diener des Herrn. Unser Schriftwort kann dabei auch einen starken Trost zusprechen. Gar leicht werden wir müde, wenn es aussieht, als predigen wir tauben Ohren. Alles, was ich sage, so denken wir, ist in die leere Luft geredet. Aber der Prophet hört gleichwohl nicht auf, auch diejenigen zu ermahnen, bei denen er gar keine Hoffnung mehr haben konnte. Er spricht auch denen noch zu, die er schon dem Verderben entgegeneilen sieht. Zugleich ist aber auch zu beachten, dass man den Gottlosen, und mögen sie noch so widerspenstig sein, dennoch die göttliche Strafe vorhalten soll. Mögen sie sich noch so sehr zu entziehen suchen und wider den Stachel löcken, sie sollen wenigstens keine Entschuldigung haben. Auch in diesem Vers spricht der Prophet vom „Hause Jakob“ und verschärft damit den Eindruck seiner Worte: dieses heilige, von Gott auserwählte Volk ist nun verworfen.
Denn sie treiben's mehr denn die gegen den Aufgang. Diese Worte werden in sehr verschiedener Weise erklärt. Das Wort für „Aufgang“ kann nämlich auch bedeuten „Vorzeit“, „Vergangenheit“, und der Sinn wäre dann: sie treiben's ganz wie in der Vorzeit, wie am Anfang. Danach würde der Prophet den Juden den Vorwurf machen, dass sie den kanaanitischen Aberglauben, der ehedem im Lande geherrscht hatte, wieder hätten aufkommen lassen. So werfen ja die Propheten dem Volk in der Tat nicht selten vor, dass es den Kanaanitern ähnlicher sei, als Abraham und den übrigen Erzvätern. Allein die Erklärung, welche statt „Vorzeit“ vielmehr „Aufgang“, „Osten“ annimmt, ist doch wohl vorzuziehen; sie erfreut sich auch allgemeiner Billigung als jene zuerst erwähnte. Nun kann man freilich in diesem Falle den Vers wiederum in doppelter Weise verstehen. Die einen übersetzen: mehr denn die im Osten, schlimmer als sie. Die andern, und das ist vielleicht das nächstliegende, übersetzen: sie treiben es so, wie sie es von Osten her gelernt haben, sie sind ganz und gar erfüllt von den Lastern, die von dorther eingedrungen sind. Denn in der Tat ahmt der Mensch nichts so leicht nach, als schlimme Gewohnheiten, und nichts verbreitet sich so rasch als Laster und Sünden. Wenn es nun weiter heißt: sie sind Tagewähler wie die Philister, so wird damit nur beispielsweise eine jener satanischen Verführungen genannt, welche die heidnischen Völker knechteten. Die Juden, sagt der Prophet, sind den Philistern gleich geworden, das auserwählte Volk befleckt sich mit den Lastern und Unsitten der Heiden. Es ist aber keine Entschuldigung für die Sünde, wenn man sie nach dem Beispiel anderer begeht.
Und hängen sich an die Kinder der Fremden. In diesem Verse wollen manche unter den „Kindern der Fremde“ fremde Gesetze und Einrichtungen verstehen; andere denken an die Ehen mit Angehörigen fremder Völker, durch welche Juda teilweise zu einem Volk unechter Kinder geworden sei. Keines von beiden hat Grund im Texte. Der Vorwurf, den Jesaja hier gegen sein Volk erhebt, ist, dass es sich mit fremden Völkern eingelassen habe und ihre Sünden nachahme. Sie ziehen nicht nur Menschen überhaupt, sondern Gottlose dem Herrn vor. Und das tun sie mit solchem Eifer – sie hängen sich an sie -, dass sie alle Liebe zu Gott und seinem wahrhaftigen Worte verloren haben.
V. 7. Ihr Land ist voll Silber und Gold usw. die Reihenfolge, welche der Prophet innehält, ist hier beachtenswert. Er will die Gründe aufzählen, um derer willen der Herr sein Volk verwerfen muss. So hat er zuerst im vorigen Vers Tagewählerei und fremdländische Unsitten genannt, jetzt spricht er von Silber und Gold, gleich darauf von Rossen und Wagen. Götzendienst, Geiz und Habsucht, falsche Sicherheit und Hoffart werden der Reihe nach dem Volke vorgehalten. An sich war es kein Unrecht, wenn Israel viel Silber und Gold besaß. Allein weil unersättliche Habgier die Herzen erfüllte, weil man statt auf Gott vielmehr auf Rosse und Wagen vertraute, muss der Prophet dem Volke das Verdammungsurteil sprechen. Und trotz alles Segens, welchen Gott ihm beschert hatte, flüchtet es sich zu den Götzen, als ob alles verloren wäre.
Ihrer Schätze ist kein Ende – damit deutet der Prophet ihre unersättliche Habgier an; kein Ende der Rosse und Wagen – sie wollen auf nichts als auf ihre eigene Macht vertrauen. Um diesem Unheil zu steuern, hatte Gott in seinem Gesetz den Königen Israels ausdrücklich verboten, viele Rosse und Wagen zu halten; damit sie nicht etwa im Vertrauen auf solche das Volk nach Ägypten zurückführten (5. Mos. 17, 16). Derartige Machtmittel bewirkten nur zu leicht Hochmut und Trotz im Herzen der Menschen: darum wollte Gott, dass sein Volk sie überhaupt nicht besitze oder doch nur in geringem Umfang.
V. 8. Auch ist ihr Land voll Götzen. Wiederum kommt der Prophet auf den Götzendienst zu sprechen, und zwar redet er zuerst von dem Vorhandensein der Götzenbilder, dann von der Verehrung derselben, die regelmäßig zu folgen pflegt. Nicht leicht kann man Götzenbilder aufrichten, ohne ihnen Verehrung zu erweisen. Wenn man trockenes Holz aufschichtet, so bedarf es nur eines kleinen Funkens, um alles zu verzehren; ja, das Holz wartet gleichsam darauf, - und ebenso sind wir nur zu geneigt, bei der geringsten Veranlassung abgöttisches Treiben mitzumachen. Das hebräische Wort für Götzen bedeutet genau genommen „Nichtse“, nichtige, eitle Dinge. Damit wird die Torheit der Menschen gegeißelt, die glauben, mit solchen Bildern Gott sich nahe bringen zu können. Es ist klar, was die Folge solcher Bilder sein muss: der Mensch kann nicht anders als sich, von ihnen irre geleitet, Gott nach irdischer und fleischlicher Weise vorzustellen. Darum sind solche Bilder nicht bloß nichtig, sondern auch, wie Jeremia (10, 14) sagt, Trügerei, d. h. sie führen den Menschen in die Irre, bringen ihn zu trügerischen falschen Vorstellungen. Auch ist es sehr beachtenswert, wenn der Prophet gleich fortfährt: sie beten an ihrer Hände Werk. Was ist es doch für eine Torheit, wenn Menschen Holz und Stein an Gottes Statt anbeten! ihren eigenen Machwerken göttlichen Charakter zuschreiben! Der Holzblock, der eben noch unbeachtet dalag, wird von einem sterblichen Menschen etwas bearbeitet, und nun ist er ein Gott, den man anbetet! Um die Torheit und Verwerflichkeit dieses Verfahrens noch besonders zu kennzeichnen, fügt Jesaja noch hinzu: welches ihre Finger gemacht haben. Zu bemerken ist auch noch dies, dass der Prophet das „anbeten“, d. h. das sich niederwerfen vor dem Bilde besonders hervorhebt. Unter Menschen ist es kein Unrecht, das Knie zu beugen, um einem Höherstehenden Ehre zu erweisen; wer aber vor einem Bilde sich niederwirft, erweist ihm göttliche Ehre, und darum verwirft der Prophet alle diese Dinge ohne Ausnahme als frevelhaften Götzendienst. Unter dieses Urteil fällt auch, was bei den Papisten mit den Bildern getrieben wird; und es ist ganz unmöglich, sich auf einen Unterschied zwischen Verehrung von Bildern, die erlaubt sei, und Anbetung, die verboten sei, herauszureden.
V. 9. Da bückt sich der Pöbel usw. Diese Worte können in doppelter Weise verstanden werden. Manche Ausleger sehen in ihnen eine Fortsetzung der bisherigen Anklagen: der Prophet würde dann noch besonders hervorheben, dass alle ohne Ausnahme, Hoch und Nieder, sich mit dem Götzendienst befleckt haben. Nach dem Grundtext lässt sich aber auch ein anderer, gleichfalls wohl passender Sinn den Worten abgewinnen. Sie können auch eine Wiederholung der Strafankündigung sein, in welchem Falle sie beschreiben würden, welches Geschick dem Volk, das von seinem Gott verlassen ist, bevorstehe. Alle Teile des Volkes sind dem Untergang verfallen, jede Hoffnung auf Erlass der Strafe ist für sie ausgeschlossen: weil sie sich bücken vor Götzenbildern, wird Gott es dahin bringen, dass sie sich bücken müssen unter der Last seiner Strafgerichte! Diese Drohung ist dann in sich natürlich auch eine Anklage gegen den Hochmut und Trotz des Volkes: es erschien ja unglaublich, dass das Volk, eben noch mit solcher Macht ausgerüstet, nach kurzer Frist sollte untergehen können. Die Worte: das wirst du ihnen nicht vergeben, können auch in dem Sinne gefasst werden: „vergib es ihnen nicht!“ Aber auch eine solche Bitte, wie sie den Propheten in ihrem brennenden Eifer für die Sache Gottes mitunter in den Mund kommt, ist inhaltlich nichts anderes, als eine strenge Ankündigung der Strafe. Es ist kein Wunder, dass der Prophet in flammenden Eifer gerät im Hinblick auf die Sünde seines Volks, dass er in diesem heiligen Zorn seine Volksgenossen dem Verderben übergibt: denn ihm geht die Ehre seines Gottes über alles. Doch versteht sich von selbst, dass der Prophet, wenn er hier von dem Volk im Ganzen spricht, doch den Rest, der sich bekehrt, stillschweigend ausnimmt. Er könnte ja doch nicht da, wo nur unheilbare Verstocktheit herrscht, zur Buße ermahnen und Hoffnung auf Verzeihung erwecken. Somit sind also einzelne Volksglieder auszunehmen und die Worte des Propheten nur auf das Volk im Ganzen zu beziehen. Alles in allem will der Prophet sagen: nicht eher ist auf eine Wiederherstellung der neuen Gemeinde zu hoffen, als bis Gott sein Gericht in der Zerstörung des Tempels durchgeführt hat.
V. 10. Gehe in den Felsen und verbirg dich usw. Da das Volk gegen Gottes Drohungen allzu gleichgültig ist, so fügen die Propheten nicht selten ihren Worten noch Schilderungen bei, welche das Gericht als ein unmittelbar gegenwärtiges vor Augen malen sollen. Deswegen heißt Jesaja hier die Verächter Gottes in Höhlen und Erdspalten sich verkriechen, um sich vor Gott zu verbergen. Gottes Gericht, will er damit sagen, ist schlimmer als tausendfaches Sterben; glücklich würde sich preisen können, wer vor ihm ins Grab sich flüchten dürfte! Mit der „Furcht des Herrn“ meint der Prophet hier die Strafen Gottes, er fügt „seine herrliche Majestät“ hinzu, um anzudeuten, dass die Gottlosen eine Strafe zu erwarten haben, deren Größe der Allgewalt Gottes entsprechend ist. Mögen sie auch durch keine Strafe gebeugt und gebessert werden, so sollen sie doch erschrecken, wenn sie Gottes Zorn an sich fühlen müssen. Die Auserwählten dagegen lassen sich durch Gottes Gerichte zur Gottesfurcht erziehen und gewöhnen sich an das Joch, in welchem Gott sie leiten will. Jesaja sagt also, dass man Gottes Herrlichkeit sichtbar erkennen werde, wenn er als gerechter Richter erscheine; so lange er an sich hält, scheint es, als sei er verborgen oder überhaupt nicht vorhanden. So muss man auch heute noch mit den schlafenden Gewissen ähnlich verfahren, wie hier der Prophet es tut. Durch den Hinweis auf Gottes Gericht muss man wahre Furcht Gottes zu wecken suchen. Predigt man damit tauben Ohren, so soll wenigstens jede Entschuldigung genommen sein, vielleicht aber lässt sich doch der eine oder andere auf die rechte Bahn bringen. Zugleich aber werden die Frommen davon Gewinn haben, wenn sie hören, was den Gottlosen bevorsteht.
V. 11. Denn alle hohen Augen werden geniedrigt werden. Es kommt die Zeit, sagt der Prophet, da Gott euren Hochmut niederschmettern wird. Wenn die Gottlosen – und sei es auch bei einigem Schein von Frömmigkeit – sich gegen Gott erheben, so wird er seinerseits mit seiner Allgewalt ihren Hochmut niederschlagen, damit er allein erhaben sei. Der Schein, als bliebe das Unrecht ungestraft, wirkt wie ein Nebel auf die Menschen und verdeckt ihren Gottes wahre Majestät; wenn er aber die Freveltaten der Menschen straft, wird seine Herrlichkeit sichtbar erkannt. Darum sagt Salomo (Pred. 8, 11): „Weil nicht bald geschieht ein Urteil über die bösen Werke, dadurch wird das Herz der Menschen voll, Böses zu tun.“ Hier aber heißt es, dass Gott die Stolzen demütigen und durch seine Strafe zeigen werde, wer er in Wahrheit ist. Das Volk Israel hätte freilich auch ohnedies Gottes Allmacht scheuen können und sollen. Ließ er ihm doch seinen wunderbaren Schutz zuteil werden: tat der Herr doch dem Samen Abrahams so viel Gutes, dass Israel in sich ein Beweis der Herrlichkeit Gottes vor der Welt war. Nun aber, da sie sich gegen Gott erheben, wird er auf eine andere Weise seine Herrlichkeit wahren, nämlich durch das Gericht über sein Volk. Die „hohen“ Augen sind die äußere Begleiterscheinung des innerlichen Hochmuts; schon am Blick erkennt man, wie sie sich über Gott und Menschen erheben. So spricht auch David im 101. Psalm (V. 5): „Ich mag des nicht, der stolze Gebärde und hohen Mut hat.“ Wir sehen aus dem Nachdruck, den der Prophet an den Tag legt, welch anmaßender Trotz damals geherrscht haben muss.
Übrigens wollen wir uns nicht wundern, dass der Prophet einen so gewaltigen Ernst daran setzt, die menschliche Anmaßung zu beugen. Wir brauchen uns nur zu vergegenwärtigen, wie schwer es ist, die Hartnäckigkeit von Leuten zu brechen, die im Vertrauen auf ihre Werke ohne Furcht dahingehen; und die es für den Zweck einer hervorragenden Stellung halten, dass man ungestraft alles und jedes tun darf. Erfahren wir doch auch heutzutage, wie empfindlich und reizbar solche ungebührlich anmaßenden Leute sind wie frech sie alle Ermahnungen von sich weisen. Darum droht der Prophet hier weniger dem Volk im Allgemeinen Rache an, sondern richtet seine Rede an diese besondere Gruppe. Immerhin gilt sein zorniges Wort nicht den „Herren“ allein, die in besonders angesehener Stellung waren: denn nicht bloß sie, sondern oft ganz geringe Leute platzen zuweilen vor Stolz. Wie man zu sagen pflegt: jeder trägt eine Tyrannenseele in der Brust. Nur zu oft kann man erfahren, wie das verächtlichste Gesindel bei dem geringsten Tadel uns hochmütigen Geifer entgegen speit. Da also dies Laster allgemein verbreitet war, greift Jesaja die Herren und den Pöbel zusammen und hält ihnen vor, dass das drohende Gericht umso schrecklicher ausfallen werde, weil Gott bisher so freundlich mit ihnen gehandelt hatte: seine reichen Gaben hatten ihr Herz übermütig gemacht. Der Tag des Herrn Zebaoth wird als ein Gerichtstag angesagt: da muss alles Hoffärtige vor dem Richter erscheinen, das Verdammungsurteil zu empfangen. So zeigen uns diese Worte Gott den Herrn als den erklärten Feind aller stolzen Leute. Diese Gerichtsansage macht offenbar, dass er sündhafte Überhebung nicht tragen kann: es ist Gottes Art, Menschen zu zermalmen, die über Gebühr sich erheben. Hätten wir uns diese Wahrheit tief in die Seele geprägt, wie sollte uns da nicht ein Abscheu vor dem Stolz packen, durch den wir Gottes Zorn wider uns reizen?
V. 13. Über alle hohen Zedern usw. Was hier über die Bäume des Libanon und (V. 14) die hohen Berge gesagt wird, ist ein Gleichnis, welches zur Verdeutlichung dienen soll: mag der sterbliche Mensch noch so hoch streben, so wird er doch nie Bergen und hoch gewachsenen Bäumen gleichkommen; diese aber umzustürzen, ist dem Herrn ebenso leicht, als mit seinem Windhauch Spreu durcheinander zu wirbeln. Dies Bild zeigt also den stolzen Leuten, ein wie hohler und törichter Aberglaube es ist, wenn sie sich durch ihre hohe Stellung geschützt glauben. Bildlich ist die Rede noch nach einer andern Richtung, - und eben dadurch wirkt sie schreckhaft. Dass Gottes Zorn wirklich über Berge und Bäume ergeht, ist nicht wahrscheinlich: denn er müsste dann seinen Plan ändern und niederreißen, was er selbst erbaut hat. Aber an diesen unschuldigen Werken Gottes stellt uns Jesaja des Herrn Gericht vor Augen. So darf niemand zweifeln, dass gottlosen und übermütigen Leuten ihre Frechheit nicht ungestraft hingehen wird. Der folgende Hinweis (V. 15) auf hohe Türmeund feste Mauern ist nicht mehr bildlich. Wissen wir doch, wie die Menschen sich mit solchen Schutzmitteln schmeicheln, als bedürften sie der Hilfe Gottes nicht mehr. Jesaja erinnert also mit diesen Stichworten an alles das, worauf Menschen ein sündhaftes Vertrauen zu setzen pflegen. Haben sie einen scheinbar uneinnehmbaren Platz, so machen diese unheiligen Leute sich dort ein Nest, von welchem aus sie auf Himmel und Erde verächtlich herabschauen; denn sie glauben jetzt über jeden Wechsel des Schicksals erhaben zu sein. Jesaja verkündigt also, dass wenn Gott die Menschen demütigen will, er alle Schutzmittel niederreißen wird, auf welche sich ein verkehrtes Vertrauen gründet. Diese Dinge brauchen an sich nicht böse zu sein: aber die Rede des Propheten kehrt sich so gewaltig gegen sie, weil sie unsern Sinn gar zu sehr gefangen nehmen. Es verhält sich mit diesen Dingen ebenso, wie mit den Pferden und Wagen, von denen der Prophet zuvor (V. 7) sprach (vgl. auch Mich. 5, 9 f.). Hilfsmittel, auf welche Menschen ein falsches Vertrauen setzen, müssen ihnen genommen werden, damit allein Gottes Hand sie rette. Raum für Gottes Gnade wird nicht eher werden, als bis die Israeliten vollständig entwaffnet sind und nichts Irdisches mehr haben, auf das sie trauen können.
V. 16. Über alle Schiffe im Meer. Buchstäblich wäre zu übersetzen: Schiffe von Tharsis, d. h. von Cilicien, solche also, die mit diesen kleinasiatischen Gegenden Handel trieben. Gewiss ist die Schifffahrt an sich unverwerflich: denn sie bringt durch Einfuhr und Ausfuhr von Waren den Menschen nicht geringen Nutzen. Und man kann diesen ganzen Handel keineswegs tadeln, da ja nach Gottes Willen die Menschheit arbeitend zusammenwirken soll. Weil aber der Überfluss meistenteils ein hochfahrendes und trotziges Wesen gebiert, wendet sich Jesaja gegen diese Art von Handel, der für das Land die erste Quelle des Reichtums war. Kommt doch hinzu, dass namentlich ein Handel mit weit entfernten Völkern räuberisch und betrügerisch zu sein pflegt und unverhältnismäßigen Gewinn bringt. Darum, das ist die Meinung des Propheten, sollen den Juden diese Reichtümer entrissen werden, damit sie lernen, sich unter Gott zu beugen. Auch dass ihnen alle köstliche Arbeit genommen werden soll, zeigt, worauf der Prophet hinaus will. Nur zu oft hängt sich an den Reichtum Verweichlichung, Üppigkeit und Vergnügungssucht. Das kann man in reichen Gegenden und Städten, namentlich an den großen Kaufleuten sehen: vorher unbekannte Üppigkeit wird aus fernen Ländern mitgebracht und übertrumpft die bescheideneren heimischen Bequemlichkeiten. Unter der köstlichen Arbeit ist ein übermäßig prächtiger Hausrat zu verstehen, kostbare Teppiche, Mamorarbeiten, kunstvoll gefertigte Vasen usw. Wenn solcher Schmuck die Begierden und Gedanken der Menschen ganz und gar erfüllt, so ist dies immer das Zeichen eines Niedergangs der Sitten. So haben wir gesehen, wie solch reiche Lebensweise das römische Reich dem Untergang entgegenführte. Ehe die Römer nach Griechenland kamen, herrschte bei ihnen äußerste Einfachheit; als sie vollends Asien unterworfen hatten, wurden sie weichlich und weibisch: Kunstwerke, Vasen, Edelsteine und Tapeten nahmen ihre Augen gefangen, Salben und Wohlgerüche ihre Nasen, bis alle ihre Sinne verblendet wurden und sie durch Nachäffung des orientalischen Luxus, den sie als das Zeichen verfeinerter Bildung betrachteten, sich mehr und mehr durch allerlei lüsternes Treiben entnerven ließen.
V. 17. Dass sich bücken muss alle Höhe der Menschen. Dieser Ausdruck zeigt deutlich, dass der Prophet auch vorher, wo er von anderen hohen Dingen sprach, auf die Menschen zielte. Nicht an hohen Bergen und gewaltigen Zedern, die er selbst geschaffen hat, hegt Gott Missfallen, sondern er gibt zu verstehen, dass alles Übel an den Menschen haftet, die auf hohe und erhabene Dinge ein falsches Vertrauen setzen. Man wird nun unserem Satz entgegen halten, dass die Gottlosen durch Züchtigung oft nicht sich demütigen lassen, wie hier erwartet zu werden scheint, - dass sie vielmehr noch widerspenstiger und aufsässiger werden. Dies sieht man an Pharao, dessen Härte durch keine Plagen sich in Zucht nehmen ließ. Aber der Prophet redet gar nicht von dem, was die Züchtigung wirkt; er glaubt nicht, dass Gott die Aufrührer dadurch immer zur Willfährigkeit leitet. Wenn sie aber auch ihren Sinn nicht ändern, wird der Herr immer neue Strafen auf sie häufen, bis ihr Stolz und ihre Frechheit zerbrochen ist. Im Vertrauen auf Reichtum und allerlei Schutzmittel wiegen sie sich in Sicherheit und verlieren alle Scheu vor Gott. Aber, wie stark sie sich auch wappnen, - der Herr wird sie mit leichter Mühe beugen und niederschlagen, indem er Bedrängnis auf Bedrängnis schickt, bis sie endlich unter diesem Druck gebändigt werden und sich nicht weiter zu erheben wagen, sondern erkennen müssen, dass sie mit Frechheit und hochfahrendem Wesen nichts ausrichten.
V. 18. Und mit den Götzen usw. Wie der Prophet zuvor neben dem Luxus, der Habsucht und anderen Lastern auch den Götzendienst getadelt hatte (V. 7 f.), so verbindet er auch jetzt beides in der Ankündigung der Strafe.
V. 19. Da wird man in der Felsen Höhlen gehen. Zuvor (V. 10) wurden ähnliche Worte als Anrede in zweiter Person gebraucht, um die Frevler desto heftiger zu erschrecken: „Gehe in den Felsen.“ Jetzt aber verkündigt der Prophet, was sie tun werden: es wird für sei eine Notwendigkeit sein, sich in die Felsen zu verkriechen. Daraus sehen wir, dass schon der erste Satz nicht eine Ermahnung, sondern eine gewichtige Ankündigung des göttlichen Zornes war, welche die gottlosen und verhärteten Sünder, die alle Mahnungen und Drohungen verachten, schrecken sollte.
Dass man sich vor der Furcht des Herrn verkriechen wird, deutet auf die Furcht, welche Chaldäer und Assyrer einjagten, deren Heer schon zuvor wie auch jetzt als Gottes Majestät bezeichnet wird: denn Gott hatte sich ihrer bedient, um sein Volk zu züchtigen. Waren sie auch ungläubig und treulos, so dienten sie darum doch der Ehre Gottes. Muss doch in irgendeiner Weise, wenn auch wider seinen Willen, selbst der Teufel der Ehre Gottes dienen. Es wird also der Ausdruck von den Assyrern und Chaldäern gebraucht, weil man in den Strafen, die der Herr durch ihre Hand über die Juden verhängte, seine Majestät schauen sollte. Daher heißt es auch, dass er sich aufmachen, d. h. aufstehen und als ein Richter, der Verbrechern ihre Strafe zudiktiert, seinen Richterstuhl besteigen wird. So muss es den Menschen deutlich werden, dass den Augen dessen, der kein Verbrechen ungestraft lässt, nichts entgehen kann.
V. 20. In der Zeit wird jedermann wegwerfen usw. Die Götzendiener haben an ihrem Aberglauben und gottlosen Kultus ein unglaubliches Wohlgefallen. Mögen sie in lauter Verbrechen und Schandtaten leben, so nehmen sie doch zu dem Aberglauben ihre Zuflucht, dass sie mit ihrem Götzendienst die Gottheit versöhnen. So glauben auch heute die Papisten ihr lasterhaftes und lüsternes Leben durch ihren glänzenden Gottesdienst gedeckt. Diese Hülle will der Prophet den Götzendienern wegreißen, indem er verkündigt, dass sie in Zukunft nichts mehr haben sollen, ihr schändliches Treiben zu decken. Der Herr wird sie zwingen, ihre Götzen wegzuwerfen, damit sie innewerden, wie vergeblich die auf sie gesetzte Hoffnung und Zuversicht war. Endlich werden sie sich selbst dieses eitlen Wesens schämen. In glücklichen Tagen glauben sie, dass Gott ihnen gnädig sei, - als wäre das Glück ein Beweis, dass ihm der Götzendienst gefällt; und sie werden von diesem Glauben sich nicht eher abbringen lassen, als bis Gott mit der Tat beweist, wie sehr er solchen Kultus verabscheut. Sie werden also erst im Unglück die Hässlichkeit desselben erkennen, wie dies Hosea (2, 7) sehr anschaulich ausdrückt. Er vergleicht nämlich die Götzendiener einer Buhlerin, die die Schande ihres Treibens nicht anerkennen will, so lange sie Gewinn davon hat und herrlich und in Freuden leben kann. Erst wenn sie dessen beraubt und von Liebhabern verlassen ist, fängt sie an, über ihr Elend und ihre Schande nachzudenken, und betritt vielleicht den Weg der Buße, an den sie in ihrem Wohlleben niemals gedacht hätte.
Die er sich hatte machen lassen. Dieser Zusatz ist nicht überflüssig. Er gibt zu verstehen, dass es vergeblich ist, gemachte Götter anzubeten. Denn was können das für Götter sein, die von Menschen gemacht wurden, da doch Gott seinen Grund in sich selbst und überhaupt keinen Anfang hat! Es ist also das denkbar Unvernünftigste und Verkehrteste, wenn Menschen ein von ihnen selbst geschaffnes Werk anbeten. So lässt dieser Zusatz das Verbrechen in noch grellerem Lichte erscheinen: Götzen von Gold, Silber und anderem vergänglichen Stoff, die von Menschenhänden gemacht wurden, betet man an Gottes Statt an! Der Prophet fügt auch hinzu, warum der Herr an ihnen Missfallen hat: man hat sie gemacht, anzubeten. Mit welchem Vorwand werden nun die Papisten ihr gottloses Treiben entschuldigen? Sie können ja nicht leugnen, dass sie die Götzenbilder anbeten. Wo man einen derartigen Kultus übt, herrscht offenbare und erwiesene Gottlosigkeit. Als Löcher der Maulwürfe werden irgendwelche schmutzige Orte bezeichnet, in welchen man sich schmachvoller Weise verbergen muss.
V. 21. Auf dass er möge in die Steinritzen kriechen usw. Diese wörtliche Wiederholung eines kurz zuvor stehenden Satzes (V. 19) ist keineswegs überflüssig. Denn was ist schwieriger, als Menschen die Furcht vor Gott tief in die Seele zu prägen? Das können wir nicht bloß an ausgesprochenen Heuchlern, sondern bei genauer Aufmerksamkeit an uns selbst beobachten. Wie viel begegnet uns doch, was unsern Sinn ganz gefangen nehmen sollte, was uns aber kaum irgendeinen Eindruck macht! Besonders musste dies Gericht Gottes den Heuchlern, die selbstgefällig in ihrem Verbrechen dahinlebten, mit Nachdruck gepredigt werden. Wie schwer Gottes Rache ist, wird dadurch gekennzeichnet, dass die Gottlosen lieber in den tiefsten Abgründen verschwinden, als dem Herrn unter die Augen kommen wollen. Übrigens scheint Christus sich auf dieses Wort zurück zu beziehen, wenn er den Juden drohend ankündigt, dass sie zu den Bergen sagen werden (Lk. 23, 30): Fallet über uns! und zu den Hügeln: Deckt uns.
V. 22. So lasset nun ab von dem Menschen. Diese Worte hängen mit den vorangehenden zusammen, und es ist unrichtig, wenn manche Ausleger hier einen tieferen Einschnitt machen. Jesaja schließt an die ernste Drohung mit dem Gericht Gottes eine mahnende Anrede an die Gottlosen, sie möchten sich nicht weiter mit hohler Zuversicht täuschen. Er will etwa sagen: Ich sehe euch derartig durch falsche Hoffnung verblendet und entnüchtert, dass bei euch vernünftige Überlegung überhaupt nichts mehr gilt. Das kommt daher, dass ihr in eurem Hochmut euch zuviel zutraut. Und doch ist der Mensch so gar nichts, ihr aber habt es mit Gott zu tun, der die ganze Welt mit einem bloßen Wink ins Nichts verwandeln kann! Dass dies der Zusammenhang ist, zeigt auch der Anfang des folgenden Kapitels, der als eine weitere Erklärung und Bekräftigung verstanden werden will. Man hätte also an dieser Stelle keinen Kapitelabschnitt machen sollen. Die Gedankenfolge ist nämlich die: Der Herr wird euch nehmen, was eure Herzen so hochmütig und stolz macht; euer Vertrauen ist töricht und gegenstandslos. Darein fügt sich denn auch unser Satz: So lasset nun ab von dem Menschen. Doch was heißt, dass der Mensch Odem in der Nase hat? Der Ausdruck deutet auf die Gebrechlichkeit des Menschenlebens: es ist wie ein Hauch, der sogleich verschwindet. So sagt auch David (Ps. 104, 29): „Du nimmst weg ihren Odem, so werden sie wieder zu Staub.“ Ferner (Ps. 146, 4): „Des Menschen Geist muss davon, und er muss wieder zu Erde werden.“ Endlich (Ps. 78, 39): „Sie sind Fleisch, ein Wind, der dahinfähret und nicht wiederkommt.“ Ist also nichts vergänglicher und gebrechlicher als unser Leben, was will dann jene Zuversicht, als reichten die Wurzeln unserer Kraft in die tiefsten Tiefen? Werden wir demgemäß geheißen, unsere Zuversicht vom Menschen abzuziehen, so wollen wir den Anfang bei uns selbst machen und in keiner Weise auf unsere Klugheit und Tüchtigkeit vertrauen; ferner wollen wir uns nicht an Menschenhilfe und irgendwelche Kreaturen hängen, sondern unsere ganze Zuversicht auf den Herrn setzen. Jeremia sagt (17, 5): „Verflucht ist der Mann, der sich auf Menschen verlässt und hält Fleisch für seinen Arm“, d. h. der seine Kraft und seine Hilfe bei fleischlichen Mitteln sucht.
Denn für was ist er zu achten? Dies ist ein Grund wider den Stolz, dass dem Menschen nichts bleibt, worin er sich selbst bespiegeln kann. Denn die Meinung des Propheten ist, dass aller Ruhm des Fleisches völlig wertlos ist. Wir wollen uns dabei merken, dass die Rede auf einen Vergleich gestimmt ist: wir sollen lernen, dass wir nichts Eigenes besitzen, sondern alles, was in uns Gutes ist, nur als Lehen empfangen haben. Wir wissen, dass Gott das Menschengeschlecht mit nicht zu verachtenden Gaben ausgestattet hat. Wir wissen auch, dass der eine noch Vorzüglicheres empfangen hat, als der andere. Weil aber die meisten Menschen Gottes vergessen und in maßloser Selbstgefälligkeit dahinleben, weil sie in ihrem unheiligen Sinn sich selbst oft vorkommen, als wären sie mehr als Götter, so betrachtet Jesaja (wie der heilige Geist dies öfter in der Bibel tut) die Menschen losgelöst von Gott: denn wenn man sie anschaut, wie sie an sich sind, wird noch deutlicher, welch ein gebrechliches, hinfälliges und vergängliches Wesen sie haben. Sobald also Menschen anfangen, auch nur das Geringste sich selbst anzumaßen, muss ihnen ihre Hohlheit aufgedeckt werden, damit sie erkennen, wie sie ein Nichts sind. Dies eine Wort schlägt all den pomphaften Lobpreis des freien Willens und unserer Verdienste nieder, mit welchem die Papisten sich wider Gottes Gnade erheben. Auch treibt es ungeistlichen Menschen die trunkene Selbstliebe aus. Endlich ruft es uns zu Gott als dem Geber aller guten Gaben, damit wir uns nicht einbilden, losgelöst von ihm irgendeinen Vorzug zu besitzen. Denn dem Herrn bleibt sein Lob nur dann ungeschmälert, wenn man der Welt alles Lob der Weisheit, Kraft und Gerechtigkeit abspricht.