Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 16.
V. 1. Schicket dem Landesherren Lämmer. Hier verhöhnt der Prophet die Moabiter, dass sie Gott nicht zur Zeit erkannt, sondern in ihrer Sicherheit seine Hand abgewartet haben, bis sie gänzlich vernichtet wurden. Darin liegt das Verdammungsurteil über eine zu späte Buße, wenn Menschen durch keine Ermahnungen zurückzubringen sind, sondern in ihrer Hartnäckigkeit gegen Gott verharren. Jüdische und christliche Ausleger haben diese Stelle ganz falsch verstanden. Der Kirchenvater Hieronymus bezieht sich auf Christum, der ja durch die Ruth von den Moabitern abstammte. Ihm folgen fast alle christlichen Ausleger. Darnach soll der Prophet sagen: Herr, wenn sie auch ein so strenges Gericht erwartet, du wirst die Moabiter doch nicht gänzlich verderben, sonst können sie uns ja nicht das Lamm Gottes schicken. Diese Auslegung bedarf keiner Widerlegung. Nach Ansicht der jüdischen Ausleger aber soll hier gesagt sein, dass die Moabiter den Tribut, welchen sie den Juden schuldeten, bei der traurigen Lage derselben zu zahlen unterließen. Nachdem nun Jesaja die Wiederherstellung des jüdischen Reiches geweissagt hat, soll er nach ihrer Meinung zugleich die Aufforderung hinzufügen, den König von Juda wieder anzuerkennen. Ja, sie wollen die Worte für ein königliches Edikt ansehen, welches die abgefallenen Moabiter wieder zur Ordnung bringen will und ihnen zuruft: Schicket den Tribut, den ihr schuldig seid.
Jedoch, wir lesen nirgends, dass die Moabiter den Juden unterworfen und tributpflichtig gewesen sind. Auch lässt sich dergleichen nicht mit Wahrscheinlichkeit mutmaßen. Darum halte ich mich lieber an die zuerst schon mitgeteilte Auslegung. Des Propheten Absicht ist, die Moabiter anzuklagen, dass sie nicht zur rechten Zeit Buße getan haben. Was sie vorher leicht und zu ihrem großen Vorteil hätten tun können, würden sie nun nicht mehr fertig bringen. Und zwar muss das „Schicket“ ironisch gefasst werden. Es ist, als wollte der Prophet sagen, an Vergebung sei doch nicht mehr zu denken, sie würden umsonst schicken. Wenn die Gottlosen gewarnt werden, schlagen sie im Gefühl ihrer Sicherheit jede Mahnung in den Wind. Wenn aber die Strafe über sie hereinbricht, schauen sie angstvoll umher und probieren Hilfe suchend alle Mittel, aber umsonst; sie treiben nichts auf. Jesaja wirft also den Moabitern ihre ruchlose Verstocktheit vor. Jetzt ist keine Zeit mehr zur Buße; das Verderben, das sie verdient haben, müssen sie tragen. – Unter dem „Landesherren“ Hiskia zu verstehen, wie jüdische Ausleger wollen, ist eine völlig unbegründete Meinung. Denn der Prophet hat hier nicht ein bestimmtes Land, sondern vielmehr den ganzen Erdkreis im Auge, von dem er ganz allgemein redet. Die Bezeichnung „Landesherr“ muss also auf Gott bezogen werden. Des weitern spricht der Prophet von Lämmern, welche geopfert werden sollen. Auch die Heiden wollten durch die Darbringung ihrer Opfer bekennen, dass sie Gott ehren.
Von Sela. Das ist, wie man glaubt, eine bedeutende Stadt der Moabiter gewesen. Möglich, dass der Prophet auch das ganze Land bezeichnen wollte, indem er dabei nur einen Teil desselben nennt, aber das Ganze meint.
Zum Berge der Tochter Zion, d. h. zu dem rechtmäßigen Tempel Gottes, in dem nach der Vorschrift des Gesetzes Opfer dargebracht wurden. Diese Stelle ist sehr wichtig gegenüber den verstockten Herzen, die jede Belehrung zurückwiesen und in ihrer Sicherheit Gott verachten, bis sie seine Gerichte erfahren.
V. 2. Aber wie ein Vogel usw. Jetzt zeigt der Prophet, dass die Aufforderung des vorigen Verses ironisch gemeint war. Die Moabiter können ja gar nicht daran denken, Opfertiere zu schicken. Denn sie werden keinen andern Rat wissen, als ihr Vaterland im Stich zu lassen. Mit dem Bilde des Vogels bringt er ihre Furcht zum Ausdruck. Schon durch das Rascheln eines Blattes werden sie erschreckt werden und die Flucht ergreifen. Er kündigt also den Moabitern, die ihre Ruhe missbraucht hatten, eine bis zur Erschöpfung hastige Flucht an.
V. 3. Sammelt Rat. Der Prophet fährt in demselben Tone fort. Wenn wir nämlich diese Stelle recht verstehen wollen, müssen wir uns den Untergang vor Augen halten, von dem die Moabiter schwer getroffen wurden. An ihre Freveltaten erinnert er, damit es allen Menschen noch klarer werden könne, wie jene mit Recht bestraft würden. Als sie nämlich noch alles in ihrer Hand hatten, gaben sie sich frech ihrer Lust hin und hörten auf keinen Tadel. Nun aber, da sie niedergeworfen sind, stöhnen sie auf und suchen Hilfe, die doch nirgends erscheint. So handelt der Herr mit den Gottlosen, dass er ihnen alle Mittel darreicht, sie gleichsam in ihre Hand legt, damit sie umso weniger Entschuldigung haben. Als die Moabiter sich noch günstiger Verhältnisse erfreuten, haben sie gar nicht so sehr um das, was recht und billig ist, Sorge getragen. Sie hätten nach Recht und Gerechtigkeit herrschen können, ihr Reich hatte einen festen Bestand; aber das haben sie missbraucht zur Tyrannei. Nun, wo sie aller Herrschaft beraubt und landesflüchtige Leute sind, mahnt Jesaja sie ironisch, sie sollen doch Rat sammeln und Gericht halten. Dieser Spott scheint dem ähnlich zu sein, mit dem der Herr von Adam sprach (1. Mos. 3, 22): „Siehe, Adam ist geworden, als unser einer.“ Da verlacht nämlich der Herr den Adam in scharfer Spottrede, weil er, mit seinen herrlichen Gaben unzufrieden, Gott gleich sein wollte. So waren auch die Moabiter mit ihren reichen Schätzen nicht zufrieden. Vielmehr bedrückten und beraubten sie die Bewohner Israels und Judas jammervoll und schmiedeten wider sie schändliche Pläne. Weil sie also Gottes herrliche Gaben missbraucht hatten, vernahmen sie mit Recht solchen Spott. Derselbe trifft auch alle Gottlosen, die im Glück frech aufjauchzen und dasselbe rücksichtslos missbrauchen, um die Frommen zu quälen. Darum werden sie auch mit Recht ihres Glückes beraubt und müssen in äußerstem Mangel leiden. Dann aber kommt die Reue zu spät.
Mache deinen Schatten usw. Die Moabiter hätten, wie ich schon berührte, damals den armen Juden Erleichterung verschaffen können, als die Assyrer dieselben bedrückten. Wenigstens hätten sie die jüdischen Flüchtlinge aufnehmen müssen, wenn sie nur etwas menschliches Mitgefühl gehabt hätten. Stattdessen aber fielen sie dieselben an und bedrängten sie noch heftiger, obwohl die Juden schon schwer genug heimgesucht waren. Es war also durchaus billig, dass die Moabiter dieselbe Grausamkeit, die sie gegen andere verübt hatten, auch an ihrem eigenen Leib erfuhren. Wenn sie nun, aus ihren Wohnplätzen vertrieben, unstet und flüchtig waren, sollte ihnen nirgends ein Zufluchtsort zuteil werden, nirgends Schatten, in dem sie sich vor der Hitze schützen könnten. Weshalb sollten sie auch eine Erquickung genießen, welche sie andern verweigert hatten? Des Mittags bedeutet soviel, wie in der drückendsten Hitze.
Verbirg die Verjagten. Der Prophet meint die Juden, die von den Moabitern so rücksichtslos behandelt wurden, als die Assyrer sie bedrängten und quälten. Es war ihre Pflicht, die Flüchtlinge, zumal wenn sie zu ihnen flohen, aufzunehmen und zu unterstützen. Weil sie dieselben aber ausstießen, so mussten auch die Moabiter notwendigerweise ausgestoßen und aller Hilfe und aller Mittel beraubt werden. Das Wort des Herrn ist gerecht (Mt. 7, 2): „Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.“ Die Moabiter sollen, - das will der Prophet sagen, - ihre Schuld erkennen und einsehen, dass sie für ihre Grausamkeit mit Recht bestraft werden. Doch hat der Prophet noch mehr die Juden dabei im Auge. Diese sollen wissen: Ihr Elend wird von Gott nicht vergessen, er wird ihr Rächer sein.
V. 4. Lass meine Verjagten bei dir herbergen. Der Prophet redet die Moabiter an, als wenn sie im Namen des gesamten Volkes inständigst angefleht würden: Ihr seid Nachbarn und Blutsverwandte, nehmt die Heimgesuchten auf und helft ihnen; wenn ihr aber nicht helfen mögt, dann fügt ihnen wenigstens keine Schaden zu. Er führt Gott redend ein, der für sein Volk Partei zu ergreifen pflegt; er lässt Gott gleichsam die Rolle eines Bittstellers übernehmen. Die Moabiter haben, das ist gewiss, den Juden derartiges gar nicht gewährt; sie haben vielmehr ihre Absichten, denselben zu schaden, mit denen der Feinde des jüdischen Volkes vereinigt. Wie ich schon oben sagte, stellt der Prophet uns vor Augen, was die Moabiter naturgemäß und billigerweise hätten tun sollen. Umso verabscheuenswerter erscheint ihre grausame Schändlichkeit. Übrigens ist diese Stelle sorgsam zu beachten. Gott zeigt hier, welch große Sorge er um die Seinen hat; von ihren Unbilden wird er so getroffen, als wären sie ihm selbst zugefügt worden. Er erhört das Seufzen und die Tränen der Elenden, die ihn anrufen. Wenn uns das auch nicht immer bemerkbar wird, zu seiner Zeit offenbart er es doch, dass er sie erhört hat. Wir sollen hier aber auch lernen, freundlich und dienstfertig zu sein gegen landesflüchtige Leute, zumal Glaubensgenossen gegenüber, welche um ihres Bekenntnisses willen ihr Vaterland verlassen. Kein Dienst kann Gott wohlgefälliger und angenehmer sein. Dagegen ist nichts schlimmer und abscheulicher, als rohe Unmenschlichkeit. Wenn wir im Unglück irgendwie eine Erleichterung erfahren wollen, dann müssen wir selbst freundlich und barmherzig sein und dürfen den Armen unsere Hilfe nicht versagen. „Wohl dem“, heißt es im 41. Psalm, „der sich des Dürftigen annimmt; den wird der Herr erretten zur bösen Zeit.“ Dagegen heißt es bei Jakobus (2, 13): „Es wird ein unbarmherzig Gericht über den gehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat.“
Meine Verjagten. Wenn Gott so von seinen Verjagten redet, so will er einerseits damit sagen, dass die Juden durch ein gerechtes Gericht aus dem Lande Kanaan vertrieben worden seien, wie er es ihnen so oft angedroht hatte. Anderseits aber hat er dabei ohne Zweifel das im Auge, dass sie unter seinem treuen Schutze bleiben, dass er sie, obwohl sie aus ihrem Vaterland vertrieben und flüchtig sind, nichtsdestoweniger als die Seinen anerkennt. Freilich konnte das Unheil, das die Juden zu tragen hatten, als ein Zeichen der Verwerfung erscheinen. Aber der Herr erkennt sie doch, ob er sie schon hart züchtigt, als seine Kinder an. Das ist für uns ein herrlicher Trost: Wir werden dennoch unter die Zahl seiner Kinder gerechnet, wenn wir auch harte, schwere Schläge fühlen müssen.
So wird der Dränger ein Ende haben. Der Prophet wendet sich hier wieder an die Juden und fährt fort, dieselben zu trösten. Wenn die Feinde beseitigt sind, werden sie durch den Ruin und durch die Vernichtung derselben in ihrem eignen Elend und Unglück Erleichterung finden. Er will sagen: Moab hat gemeint, mit meinem Volke sei es aus; aber ich werde die Feinde abwehren, und dem Dränger ein Ende machen. Moab wird untergehen, aber mein Volk wird aus so schweren Heimsuchungen doch zuletzt wieder empor tauchen.
V. 5. Es wird aber ein Stuhl bereitet werden usw. Die jüdischen Ausleger beziehen diesen ganzen Vers auf Hiskia. Dem kann man aber durchaus nicht beistimmen. Denn der Prophet redet von einer bedeutenderen Wiederherstellung der Gottesgemeinde, als sie unter Hiskia zustande kam. Unter der blühenden Regierung desselben hatten die Moabiter noch gar keine Strafen erlitten, und anderseits fing in Juda der Segen Gottes erst zu glänzen an. Alle Feinde des auserwählten Volkes sinnen auf den Untergang des Reiches, das nach Gottes Verheißung doch fest gegründet, ja ewig sein soll. Damit nun die Frommen in ihrer traurigen Zerstreuung nicht in Verzweiflung geraten, wird an den dauernden Bestand des Reiches erinnert, welcher durch ein feierliches Prophetenwort bezeugt worden war (2. Sam. 7, 13). Darum kann diese Stelle von niemand anders als von Christo verstanden werden. Das gebe ich dabei zu, dass Hiskia ein Vorbild auf Christum gewesen ist, wie David und seine übrigen Nachfolger. Aber sie sind nur Wegweiser auf Christum, der allein seines Volkes Rächer und Führer ist, der die Kinder Gottes, die zerstreuet waren, wieder zusammenbrachte (Joh. 11, 52). So ruft der Prophet die Frommen zu Christo hin, als wollte er sagen: „Ihr kennt euren Gott; derselbe hat versichert, er wolle der Schirm eures Heils sein, dass ihr unter seinem Schutz sicher und unverletzt bleibet. Und solltet ihr einst in eine noch schlimmere Lage geraten, so hat er euch den Erlöser verheißen; unter ihm wird ein ganz neues Glück aufkommen und blühen. Wenn ihr auch zurzeit traurig seid, jener Rächer seiner Gemeinde wird doch kommen, er wird euch wieder zur Blüte und zur Freiheit bringen. Darum sollt ihr von ganzem Herzen auf ihn hoffen und harren, selbst wenn ihr sein Volk in einem zerrissenen, jammervollen Zustand sehet.“ Fleißig ist das also zu beachten: Alle Trostworte zerfließen und sind nichtig, wenn wir sie nicht auf Christum beziehen können. Auf ihn müssen also unsere Augen gerichtet sein, wollen wir glücklich und selig sein. Nach seinen Verheißungen sollen wir auch mitten im Kreuz glücklich sein; durch Kreuz und Trübsal werden wir zum ewigen Leben eingehen; alle unsere Heimsuchungen werden sich in höchste Seligkeit verwandeln. Indem aber Jesaja hinzufügt„aus Gnaden“ , prägt er ein, dass dies nicht durch Menschenwerk, sondern durch Gottes Gnade geschieht; Gott ist der Schöpfer dieses Gnadenstuhles. Dass dieser sein heiliger Stuhl unter uns aufgerichtet wird, ist seiner freien Gnade zuzuschreiben und als sein Geschenk anzusehen. In beredten Worten bestätigt der Prophet, dass dafür einzig und allein in Gottes teurem Erbarmen der Grund zu suchen ist. So ist' s in der Tat, denn weder durch der Menschen Würdigkeit, noch durch ihr Verdienst – mit dem allem ist es ja nichts – konnte Gott bestimmt werden, seinen Stuhl wieder aufzurichten, der durch die Schuld und Freveltat seines Volkes zusammengebrochen war. Als er die an Kindes Statt Angenommenen in ihrem Elend liegen sah, wollte er ihnen einen Beweis seiner unendlichen Güte geben. Wenn nun Gott der Erbauer seines Stuhles ist, von wem kann derselbe dann umgestürzt werden? Sind die Gottlosen etwa mächtiger, als er?
Dass einer drauf sitze in Beständigkeit. Hier ist fast jedes einzelne Wort von Bedeutung und eines ernsten Nachdenkens wert. Das hebräische Wort, das wir durch „Beständigkeit“ wiedergeben, bedeutet anderwärts auch soviel als „Wahrheit“. Hier aber ist die Meinung, dass Christi Königreich fest und sicher stehen wird, wie dies auch Daniel (2, 44; 7, 14) bezeugt. Ebenso der Evangelist (Lk. 1, 33): „Seines Königreichs wird kein Ende sein.“ Darin unterscheidet es sich von gewöhnlichen Reichen. Diese mögen noch so fest gegründet sein, sie brechen doch einmal zusammen oder stürzen gar nieder unter ihrer eignen Last; sie sind vergängliche Gebilde. Das Reich Christi aber, ob es auch je und dann danieder sinkt, bleibt ewiglich, denn es wird von Gottes Hand getragen. So solche Zeugnisse bilden eine treffliche Waffe gegen Versuchungen, die aufkommen, so oft Christi Reich von vielen mächtigen Feinden bestürmt wird und bald zusammenzubrechen scheint. Die Welt mag alles ins Werk setzen und die Hölle selbst Feuer und Flammen speien, - bei dieser Verheißung dürfen wir stehen bleiben.
In der Hütte Davids. Dass man hier in dem Worte „Hütte“ eine Anspielung darauf finden will, dass David, bevor er auf den Thron berufen wurde, ein einfacher Mann gewesen ist, missfällt mir nicht. Denn der Prophet wollte ein Bild der Gottesgemeinde zeichnen, welche keine Ähnlichkeit hat mit Königs- und Fürstenthronen und nicht von Gold und Edelsteinen glänzt. Obwohl er aber Christi geistliches Reich in niedriger, verachteter Gestalt darstellt, so erinnert er doch zugleich mit jenem Ausdruck daran, dass es auf Erden unter den Menschen sich offenbaren wird. Denn wenn er nur gesagt hätte: Ein Stuhl, nämlich Christi Stuhl, wird errichtet werden, dann hätte man fragen können, ob im Himmel oder auf Erden. Wenn er nun sagt: „in der Hütte Davids,“ so zeigt er damit, dass Christus nicht unter den Engeln, sondern unter den Menschen regiert. Wir sollen nicht meinen, um ihn zu suchen, müsse man in den Himmel dringen. Es ist lächerlich, wenn die Gottlosen glauben, was wir von dem Reich Christi predigen, sei unser eignes Fantasiegebilde. Sie wollen mit Augen schauen, was ihren Sinnen zusagt. Wir dürfen uns aber über Christum und sein Reich keine sinnliche Vorstellung machen, sondern wir sollen mit der Kraft und Wirkung, die von ihm ausgeht, uns begnügen.
Und richte. „Richten“ fasse ich im Sinne von „Regieren“. Der Prophet will sagen: Es wird einer da sein, der regiert. Oft sehen wir doch, wie ein glänzender Thron keinen Inhaber hat. Und sehr oft kommt es vor, dass Könige Schattenbilder oder schwache Köpfe sind, die weder Urteil noch Verstand haben. Hier aber sagt der Prophet: auf dem Stuhle wird einer sitzen, der das Amt eines gerechten Regenten verwalten wird.
Und trachtet nach Recht. Christus wird uns Recht verschaffen. Er nimmt uns auf in seinen Schutz und lässt diesen nicht verletzen. Er duldet es nicht, dass uns die Gottlosen ungestraft Unrecht zufügen, so lange wir uns nur mit getrostem, sanftmütigem Herzen seiner Treue befehlen.
Und fördere Gerechtigkeit. Mit diesem Worte bezeichnet der Prophet kurz und sehr treffend, dass Christus unser Schicksal rächen will. Das müssen wir unserer Ungeduld entgegenhalten. Denn er scheint uns niemals zeitig genug Hilfe zu bringen. Wir sollen uns aber, so oft wir uns von heißen Wünschen hinreißen lassen, daran erinnern, dass das daher kommt, weil wir seiner Vorsehung nicht Raum gewähren. So oft er nämlich nach der Meinung unserer fleischlichen Natur zögert, passt er aufs beste seine Gerichte günstigen Gelegenheiten an, die er besser kennt. Daher sollen wir seinem Willen stille halten.
V. 6. Wir hören aber usw. Unglaublich schien was der Prophet über die Wiederaufrichtung des königlichen Thrones und über die Vernichtung der Moabiter verheißen hatte. Denn die Moabiter standen damals noch in hoher Blüte und waren ausgerüstet mit starker Macht. Daher waren sie auch von ihrem gegenwärtigen Glück aufgebläht und übermütig. Dazu war die Frechheit, mit der sie die armen Juden beleidigten, eine schwere Last, die wohl deren Mut brechen oder doch erschüttern konnte. Um dem zu begegnen, erzählt der Prophet, die Prahlereien der Moabiter seien ja hinlänglich bekannt. Aber ihr Hochmut werde es nicht hindern, dass sie von Gott niedergeschlagen würden. Denn keine Waffengewalt, keine Macht des Geldes, keine so große Masse kann dem Herrn widerstehen. Leute, die an Macht und Mitteln großen Einfluss haben, pflegen sich wohl über Gott und Menschen ohne Maß und Ziel zu erheben. Wie aber auch immer deren Anmaßung sein mag, der Herr wird sie mit Leichtigkeit zurückwerfen.
Stolz und Zorn. Der Prophet deutet ohne Zweifel darauf hin, dass jenes Volk infolge seines Eigensinnes, seines Stolzes und seines üppigen Wesens so grausam gewesen ist, dass es bei der allergeringsten Ursache in Zorn aufbrauste und gegen andere ingrimmig losfuhr. Solch zorniges Wesen ist immer mit Überhebung des Herzens verbunden. Denn dem Stolz folgt die Geringschätzung und Verachtung anderer. Und die mehr als billig von sich halten, brausen leicht auf oder sind bei der geringsten Kränkung entrüstet. Nichts können solche Leute vertragen. Sie sind nicht nur leicht reizbar, sondern auch schmähsüchtig. Alle sollen ihnen willfährig sein, sie aber niemandem. Wenn ihnen nicht alle auf den Wink gehorchen, so meinen sie, es geschähe ihnen Unrecht. Zu solcher Zügellosigkeit kommen hochmütige Leute, die demütigen dagegen zeigen Menschenfreundlichkeit, mit Bescheidenheit gepaart, und leicht verzeihen sie jedermann.
Sein Lügen wird nicht bestehen, buchstäblich: „wird nicht so sein.“ Dieses Satzglied wird sehr verschieden übersetzt. Jedenfalls ist von Moabs prahlerischen Lügen die Rede, und die Meinung wird sein, dass demselben der Erfolg nicht entsprechen wird. In diesem Sinne greift auch der Prophet Jeremia (48, 30) auf unsern Spruch zurück. Moabs Pläne haben keinen festen, sichern Untergrund; seine Lügen haben keine Gültigkeit. Hochmütige Leute beschließen nämlich über allerlei Dinge, als ob dieselben völlig in ihrer Macht und nicht der Vorsehung Gottes unterworfen wären. Eine solche Anmaßung, sagt der Prophet, wird zu Boden stürzen, und was sie sich immer von ihrer Macht versprechen, wird zunichte. Hier werden wir daran erinnert, wie sehr der Hochmut dem Herrn missfällt, und dass die Menschen umso näher ihrem Untergange sind, je mehr sie sich von ihrer Macht aufblasen lassen.
V. 7. Darum wird ein Moabiter über den andern heulen. Hier erklärt der Prophet noch deutlicher, was schon gesagt wurde: Dieser Hochmut und der Trotz, der aus demselben hervorgeht, wird die Ursache ihres Untergangs sein. Der Herr widersteht den Hoffärtigen; darum musste er den Stolz niederwerfen, unter den seine Gemeinde in elender, unwürdiger Weise geknechtet war. Das Ende aller Gottlosen muss nach diesem Beispiel ein elendes sein. Wenn der Prophet sagt: ein Moabiter über den andern – so deutet er damit an, wie allgemein die Trauer unter ihnen sein wird, wie sie gegenseitig über ihr Unglück sich beklagen und sich in ihren Heimsuchungen untereinander betrauern werden.
Über die Grundfesten der Stadt Kir-Hareseth usw. Dass Kir-Hareseth eine der ersten Städte des Moabiterlandes gewesen ist, darüber ist man sich so ziemlich einig. Der Prophet sagt nun nicht: über die Stadt werden sie seufzen, sondern: über die Grundfesten der Stadt. Sie soll eben von Grund aus zerstört werden. Er will sagen: Ihr werdet nicht trauern über die Plünderung der Stadt oder den Zusammensturz ihrer Gebäude, sondern über ihre gänzliche Zerstörung. Nichts wird von ihr übrig bleiben.
Ganz zerschlagen. Einige übersetzen: ganz lahm, krüppelhaft. Ich ziehe aber die erstere Übersetzung vor. Der Prophet will damit das schlimmste Verderben jener Stadt zum Ausdruck bringen. Niemand wird unversehrt bleiben. Die Überlebenden werden nicht nur das Elend der andern, sondern auch ihr eigenes bejammern. Denn auch sie selbst werden verwundet und zerschlagen sein. Wenn über die Hochmütigen so schwere Strafen verhängt werden, so sollen wir lernen, niedrig und bescheiden zu sein und gern uns zu demütigen unter die mächtige Hand Gottes.
V. 8. Der Weinstock zu Sibma. Der Prophet beschreibt die Verwüstung des ganzen Landes. Es ist schon glaublich, dass dasselbe reich an den edelsten Weinstöcken war, wie man aus dieser und jener ähnlichen Stelle beim Propheten Jeremia folgern kann. Die Propheten pflegen, wenn sie irgendeinem Land den Untergang drohen, das zu erwähnen, wodurch es sich besonders auszeichnete. Wenn unter uns z. B. von Belgien die Rede wäre, würden wir sicherlich nicht von Weinstöcken reden. Das würden wir aber tun, wenn es sich um Burgund handelte. Die Städte, welche der Prophet hier erwähnt, waren im Moabiterlande berühmt. Aus ihren Weinbergen, sagt er nun, seien gerade die vorzüglichsten Weinstöcke herausgerissen und seine edlen Reben zerschlagen worden von den Herren unter den Heiden, d. h. von den Siegern, welche nach kriegerischer Vertreibung der Völker weit und breit das Land beherrschten.
Die da reichten bis nach Jaser. Dieser Zusatz soll die Größe der Verwüstung noch mehr hervorheben. Denn diese Stadt lag im Grenzgebiete der Moabiter. Nicht nur ein Teil der Weinstöcke wird also zerstört, sondern im ganzen Land werden sie weit und breit verwüstet werden. Einige beziehen diese Worte auf die Feinde, die bis gen Jaser vordringen sollen. Doch möchte ich sie lieber auf die edlen Reben und die Weinstöcke beziehen, welche sich weithin bis gen Jaser erstreckten. Der Sinn ist also dieser: Obwohl diese Weinstöcke bis gen Jaser reichten und einen sehr großen Landstrich bedeckten, so werden die Herren unter den Heiden sie doch alle niedertreten. Denn unmittelbar darauf folgt: und sich zogen in die Wüste, und ihre Schößlinge sind zerstreuet. Damit bezeichnet der Prophet die Gegend als sehr fruchtbar und zumal als sehr weinreich. Dass die Weinreben über das tote Meer geführt sind, erinnert daran, dass man das Meer von einem fruchtbaren Landstrich an seinem Ufer abzuhalten pflegt, indem man es durch Dämme, eingerammte Pfähle und Pfosten zurückdrängt, um mehr fruchtbares Ackerland zu gewinnen. Oder man kann es auch so verstehen, dass die Weinstöcke mit ihren Schösslingen sich rings um das Meer herzumzogen und dasselbe so gleichsam überschritten. Jedenfalls soll auf die Fruchtbarkeit des Landes hingedeutet werden.
V. 9. Darum weine ich usw. Der Prophet redet hier in der ersten Person. Gleichsam in der Rolle eines Moabiters weint und vergießt er Tränen über Moabs Unglück. Auch die Gläubigen schaudern immer vor Gottes Gerichten zurück und vermögen ein Gefühl der Menschlichkeit nicht zu verleugnen, dass sie nicht Erbarmen hätten mit dem Untergang der Gottlosen. Jedoch beschreibt der Prophet nicht wirklich seine eigenen Gefühle, sondern seine Absicht ist es, durch diese Redeform seiner Weissagung noch mehr Nachdruck zu geben, damit niemand wegen der Erfüllung derselben Zweifel hege. Darum stellt er selbst in der Rolle eines Moabiters, wie auf einer Bühne, die Trauer und Wehmut dar, von der nach jener Heimsuchung alle ergriffen werden. Umso mehr bekräftigt er dadurch den Juden diese Verheißung, welche ihnen sonst unglaublich hätte erscheinen können.
Denn es ist ein Gesang in deinen Sommer und in deine Ernte gefallen. Diesen letzten Teil des Verses übersetzen die Ausleger verschieden. Die einen beziehen das Wort „Gesang“ auf die Feinde, als wollte der Prophet sagen: das Geschrei, der Gesang der Feinde ist über deine Ernte hereingebrochen, sodass dann ein stillschweigender Gegensatz bestünde zwischen diesem feindlichen Geschrei und den Worten des folgenden Verses: In den Weinbergen jauchzet noch ruft man nicht. Andere übersetzen so: Kein Gesang wird mehr sein; die fröhlichen, jauchzenden Lieder der Schnitter, durch die sie sich nach der Ernte zu erheitern pflegen, werden verstummen. Doch möchte ich diese Worte lieber von dem Geschrei der Feinde verstehen. Ich folge darin dem Propheten Jeremia (48, 32) dem bewährtesten Ausleger dieser Stelle. Dieser sagt: Der Verstörer ist in deine Ernte und Weinlese gefallen. Das ist gleichsam die Erläuterung zu diesen Worten des Jesaja: Es ist ein Gesang (nämlich der Feinde) in deine Ernte gefallen. Der Prophet will sagen: Wenn du dich rüstest, die Ernte und die Weinlese zu halten, dann werden die Feinde hervorbrechen. Anstatt des Jauchzens und des fröhlichen Gesanges wird man ihr schreckliches Geschrei vernehmen. Das wird dich weithin verjagen.
V. 10. Dass Freude und Wonne im Felde aufhöret. Der Prophet bestätigt weiter, dass das ganze Land wüst und öde sein und in ihm keine Ernte, noch Weinlese mehr stattfinden wird. Die Schlussworte: Ich habe des Gesanges ein Ende gemacht – weisen auf eine alte Sitte hin. Denn bei der Weinlese pflegte man zu tanzen und in Liedern seine Freude zu bezeugen, wie auch die Schiffer, wenn sie dem Hafen nahen, ihr Ruderlied singen, weil sie, den Mühen enthoben und den Gefahren entrissen, Ruhe oder sonst eine Erholung vor sich haben. Der Prophet will also nichts anders sagen, als dies: nachdem der Fruchtertrag weggenommen, wird nichts übrig bleiben, höchstens das eine, dass sie ihre Armut bejammern.
V. 11. Darum rauschet mein Herz über Moab. Wiederum schildert der Prophet in der Rolle eines Moabiters jene ungeheure Trauer, eine Trauer, die so voll bitteren Schmerzes ist, dass auch sein Herz und sein Inwendiges rauschet wie eine Harfe. Wir haben schon gesagt, welchen Zweck solche lebendigen Schilderungen haben. Wir sollen mitten in die Sache hineingestellt werden, dieselbe gleichsam gegenwärtig sehen und so gewisser werden in der Hoffnung auf das, was doch allen Glauben auszuschließen scheint. Wenn der Prophet dann wiederum nur eine hervorragende Stadt des Moabiterlandes nennt, so hat er dabei doch den Untergang des ganzen Landes im Auge.
V. 12. Alsdann wird's offenbar werden usw. Damit wiederholt der Prophet, was er schon früher erwähnte (15, 2): die Götzendiener nehmen im Unglück ihre Zuflucht zu den Götzen, um bei ihnen etwas von Erleichterung zu finden. Hier aber scheint nicht bloß an die gewöhnlichen Tempel und Heiligtümer erinnert, sondern darauf hingewiesen zu werden, dass man in besonderer Bedrängnis andere, besonders heilige Tempel aufsuchte, wo man die Gottheit näher glaubte, ganz wie es heutzutage die Papisten machen. Wird doch ein hervorragendes Heiligtum Moabs genannt, welches nach allem, was wir aus der heiligen Geschichte wissen, dem Kamos geweiht gewesen sein wird. Doch zerstört der Prophet jegliche Hoffnung, indem er sagt, dass Moab nichts ausgerichtet habe. Seine Götter gewähren keinen Schutz. Sehr nachdrücklich heißt es, dass dies „offenbar werden“ soll. Es weist dies darauf hin, dass die Götzenanbeter sich nicht von ihrer Vernunft leiten lassen, sondern vielmehr von ihrem augenblicklichen Gefühl, von dem, was sie gegenwärtig gerade erleben, wie unvernünftige Tiere. Wie diese nach Gefühl, Geruch und Gesicht urteilen, so haben die Götzendiener keinen andern Lehrer als ihr sinnliches Empfinden. Wenn ihnen also jemand der Vernunft gemäß darlegt, dass sie unrecht handeln, so wird das nichts helfen. Wenn sie auch mehr als einmal erfahren haben, dass sie mit all der Mühe, die sie sich um ihre Götzen geben, nichts erreichen, so werden sie doch nicht davon ablassen. Sie werden vielmehr neue Weisen, ihre Götzen zu verehren, ersinnen und einführen, mit denen sie sogar Gott gefallen wollen. Wenn es dann nach ihrer Meinung Erfolg hat, dann opfern sie alles ihrem Aberglauben und werden so noch mehr verhärtet. Wenn sie aber merken, dass sie gar keine Hilfe finden, dann werfen sie ihre Fantasiegebilde beiseite, verdammen ihren abergläubischen Götzendienst und fluchen ihren Götzen. Sie hängen so völlig von den Erfolgen ihres Götzendienstes ab; nach der Vernunft oder nach dem Worte Gottes beurteilen sie nichts. Wie also die Erfahrung sie führt, darnach wechseln sie fortgesetzt ihre Ansicht.
V. 13. Das ist's usw. Dieser Vers bildet eine feierliche Bestätigung dieser Weissagung. Der Prophet spricht damit aus, dass Gottes eigner Befehl von ihm verkündigt worden sei. Nichts habe er vorgebracht, was nicht vom Herrn ausging. Darum führt er in dem folgenden Schlussvers Gott redend ein.
V. 14. In dreien Jahren usw. Die Zeitbestimmung wird vorangestellt nicht nur zur Bekräftigung der Weissagung, sondern auch zu dem Zweck, damit die Gläubigen durch allzu lange Verzögerung des Gerichtes nicht ermatten sollten.
Wie eines Tagelöhners Jahre sind. Dies Bild führt die Schrift öfters an. Mit großer Sehnsucht erwarten Tagelöhner den bestimmten Tag, an welchem sie ihren Lohn empfangen sollen. Sie seufzen unter irgendeiner Last und tragen vielleicht schwer an ihrer täglichen Arbeit. In dieser Weise, sagt der Herr, bestimme er den Moabitern einen Tag, dem sie nimmermehr entgehen, an dem sie ihren Lohn empfangen werden, an dem ihre ganze Macht und Herrlichkeit vernichtet wird. Ausdrücklich wird ihre große Menge herausgehoben, deren sie sich rühmten und durch welche sie sich für unbesiegbar hielten. Diese Herrlichkeit soll geringe werden. So hat der künftige Zustand keine Ähnlichkeit mehr mit dem vorigen: die winzigen und kraftlosen Reste werden ein trauriges und hässliches Schauspiel bieten.