Nr. 95 (C. R. – 454)
Calvin, Jean - An Melanchthon in Wittenberg (95)
Calvin hatte seine Schrift gegen Pighius über den freien Willen dem Melanchthon gewidmet.
Allerlei Nachrichten.
Sieh´ an, welch faulem Bauch du deinen Brief [an mich] anvertraut hast. Nach fast vier Monaten hat er ihn mir endlich gegeben, von langer unordentlicher Behandlung zerrissen und zerfetzt. Ich habe es mir aber als Gewinn angerechnet, dass ich ihn überhaupt noch, wenn auch spät, erhielt. Denn da er ihn hierhin und dorthin mit sich herumgetragen hat, ists ein Wunder, dass er ihn nicht irgendwo liegen ließ. So habe ich ihm leichtlich verziehen, als ich den Brief bekam, wenn schon er mich durch seine Fahrlässigkeit lange Zeit um den Genuss einer besondern Freude gebraucht hat. Könnten wir doch, wie du sagst, öfters, durch Briefe wenigstens, miteinander reden. Freilich dir würde dadurch nichts geboten, mir aber wäre nichts in der Welt erwünschter, als mich zu erholen an deinen lieben, schönen Briefen. Du glaubst kaum, welche Arbeitslast mich hier drückt und drängt. In dieser Not quälen mich am meisten zwei Dinge: erstlich, dass mir der gehörige Erfolg meiner Arbeit nicht sicher ist, und dann, dass ich von dir und ein paar andern so weit weg bin und so die Art Trost, dir mir am wohlsten täte, entbehren muss. Da es aber einmal nicht eines jeden Wünschen überlassen ist, sich den Ort nach Gutdünken auszuwählen, wo er Christo dienen will, so müssen wir eben auf dem Posten bleiben, den er einem jeden von uns angewiesen hat. Das aber soll uns keine örtliche Entfernung rauben, dass wir, zufrieden mit der Verbindung, die Christus durch sein Blut geweiht und durch seinen Geist in unsern Herzen geschlossen, so lang wir auf Erden leben, uns an der schönen Hoffnung aufrecht halten, an die auch dein Brief uns erinnert, dass wir im Himmel einmal ewig miteinander leben werden und dort unserer Liebe und Freundschaft uns freuen können. Übrigens, dass ich bei dem Werk, das ich neulich herausgegeben habe, mit deinem Namen Missbrauch trieb, das bitte ich mir aus Liebe zu verzeihen oder wenigstens aus Freundlichkeit zu erlauben. Unter vielen Gründen, die mich dazu bewogen, war nicht der letzte, dass Pighius den Sadolet auserwählt hatte, um unter seinem Namen sein Zeug loszuschlagen. Ich habe das aber verschwiegen, um mich nicht auf eine Vergleichung zwischen Euch einlassen zu müssen. Aber ich will hier keine lange Entschuldigung vorbringen, da ich doch schon dort bezeugt habe, ich hätte getan, was ich im festen Vertrauen auf das freundliche Wohlwollen, das du mir entgegenbringst, hätte tun dürfen.
Von unsern hiesigen Verhältnissen könnte ich viel schreiben, aber schon das zwingt mich zu schreiben, dass ich doch kein Ende des Erzählens fände. Ich arbeite hier und ermüde mich außerordentlich, aber ich komme nur mäßig vorwärts. Und doch wundern sich alle, dass ich soweit komme bei den vielen Hindernissen, von denen ein gut Teil an den andern Pfarrern selbst liegt. Es ist mir aber doch eine große Erleichterung bei meiner Arbeit, dass nicht nur diese Gemeinde, sondern auch die ganze Nachbarschaft die Früchte meines Hierseins spürt. Rechne zu, dass sogar nach Frankreich und Italien etwas davon strömt. Von der Lage Eures deutschen Landes höre ich nicht ohne herben Schmerz. Dazu ist, was ich von der Zukunft befürchte, nicht leichter, als was mich jetzt traurig macht. Denn wenn wahr ist, was man mir berichtet, dass der Türke mit viel stärkern Truppenmassen den Krieg wieder beginnt, wer wills ihm wehren, nach seinem Gelüsten weit und breit alles zu verwüsten. Und wie wenn es zu wenig wäre, dass durch die Zerstreuung des Heeres ungeheure Kosten umsonst gewesen sind, dass man solche Schande geerntet hat, dass außerdem die beste Blüte der Volkskraft zuerst durch die drei Jahre dauernde Pest und jetzt wieder durch neue Seuche umgekommen ist; wie wenn das nicht genug wäre, so leidet Euer Land noch viel schwerer an dem Zerwürfnis im Innern. Und trotz dieser scharfen Schläge sind die evangelischen Fürsten noch nicht dazu erwacht, dass sie Christo die Ehre zu geben lernten. Es tröstet mich wieder ein wenig, dass man sagt, der Bischof von Köln und ein paar andere hätten ernstlich im Sinn, ihre Kirchen zu reinigen. Das halte ich für keinen kleinen Gewinn, dass Bischöfe, aus deren Stand bisher keiner zu Christo sich bekannte, jetzt anfangen, mit erhobener Hand ihren Abfall vom Götzen zu Rom zu bezeugen. Nur müssen wir jetzt wachen und uns anstrengen, dass wir ihren Lauf fördern, damit nicht aus einem Halbchristentum ein schlimmeres Übel entstehe als das Frühere.
Unterdessen zeigt der Papst zu Rom schon das Trugbild eines Konzils in Trient, damit er die Welt noch ein wenig in gespannter Erwartung erhalte und hinhalte. Aber Gott wird seiner nicht länger spotten lassen. Ich müsste mich arg täuschen, wenn dieses Jahr nicht eine große Veränderung der Weltlage im Schoße trüge, die bald ans Licht kommen wird. Aber ich rede zu viel. Leb also wohl, du in allen Dingen trefflicher, von mir stets im Herrn hochverehrter Mann. Der Herr erhalte dich unverletzt zur Ehre seines Namens und zur Erbauung seiner Kirche. Ich wundere mich, weshalb du deinen [Kommentar zum] Daniel so lange bei dir zurückhältst. Denn ich lasse mich nicht gern noch lange des Genusses seiner Lektüre berauben. Bitte, grüße D. Martinus ehrerbietig in meinem Namen. Wir haben hier gegenwärtig Bernardino [Occhino] von Siena, einen großen berühmten Mann, der durch seinen Übertritt in Italien kein geringes Aufsehen gemacht hat. Der bittet mich, dass ich Euch in seinem Namen einen Gruß schreibe. Nochmals lebwohl mit deiner ganzen Familie, die Gott immer behüte.
Genf, 15. Februar 1543.