Calvin, Jean - An Luther in Wittenberg (122)

Nr. 122 (C. R. – 605)

Calvin, Jean - An Luther in Wittenberg (122)

Calvin hatte gegen die Nikodemiten, d. h. evangelisch gesinnte Franzosen, die aber äußerlich am katholischen Kult teilnahmen, ziemlich scharf geschrieben. Nun bat ihn Antoine Fumee (Capnius), Parlamentsrat in Paris, auch von Luther, Melanchthon und Butzer Gutachten zu erwirken über die Frage, ob es einem Evangelischen erlaubt sei, äußerlich am katholischen Kult sich zu beteiligen, und Calvin sandte deshalb einen junger Genfer, Claude de Senarclens, nach Wittenberg. Melanchthon wagte jedoch nicht, Calvins Brief Luther zu überreichen.

Bitte um eine Zuschrift an die französischen Evangelischen.

Dem vortrefflichen Hirten der christlichen Kirche, D. Martin Luther, meinem hochverehrten Vater, Gruß zuvor. Als ich sah, dass unsere französischen Glaubensgenossen, soviel ihrer aus der Finsternis des Papsttums zum rechten Glauben zurückgekehrt waren, doch nichts an ihrem Bekenntnis änderten und fortfuhren, sich mit den papistischen Gräueln zu beflecken, als ob sie die wahre Lehre nie geschmeckt hätten, konnte ich mich nicht enthalten, einen solchen untätigen Sinn scharf zu tadeln, wie er es nach meinem Urteil verdient. Denn welch ein Glaube wäre das, der im Herzen begraben liegt, und nicht hervorbricht als Glaubensbekenntnis, welche Religion, die unter geheucheltem Götzendienst versenkt liegt? Aber ich will jetzt diesen Stoff nicht behandeln, den ich in zwei Schriftchen ausführlich dargelegt habe. Wenn es dir nicht lästig ist, sie rasch durchzulesen, kannst du daraus besser erfahren, was meine Meinung darüber ist, und aus welchen Gründen ich zu dieser Meinung gekommen bin. Durch das Lesen dieser Schriften sind ein paar unserer Leute aufgewacht, und während sie vorher sicher in tiefem Schlummer lagen, beginnen sie jetzt, sich zu besinnen, was sie tun sollen. Weil es aber schwer ist, ohne Rücksicht auf sich selbst sein Leben aufs Spiel zu setzen oder den Menschen Ärgernis zu geben und dadurch den Hass der Welt auf sich zu ziehen, oder Geld und Gut und Heimat zu verlassen und freiwillig in die Verbannung zu gehen, so halten alle diese Schwierigkeiten sie noch zurück, etwas Sicheres zu beschließen. Freilich schützen sie allerlei andere, schöne Gründe vor, denen mans aber ansieht, dass sie nur irgendwelchen Vorwand suchen. Weil sie nun gewissermaßen in der Schwebe bleiben und zaudern, möchten sie auch dein Urteil hören; da sie davor Achtung hätten, wie es sich ziemt, würde es sie sehr bestärken. Sie haben mich daher gebeten, ich möchte gerade für diesen Zweck einen zuverlässigen Boten an dich senden, der uns dann deinen Entscheid in dieser Frage berichten könnte. Ich wollte ihnen diese Bitte nicht abschlagen, weil ich glaubte, es liege vor allem in ihrem Interesse, gegen ihr beständiges Schwanken durch dein Ansehen Hilfe zu finden, und weil ich ja von mir aus das Gleiche wünschen musste. So bitte ich dich also nun, mein im Herrn hochgeachteter Vater, um Christi willen, du mögest es dich nicht verdrießen lassen, ihretwegen und meinetwegen die bittere Pille zu schlucken, zuerst den in ihrem Namen geschriebenen Brief und meine Schriftchen sozusagen zum Spaß in müßigen Stunden zu durchfliegen, oder einem das Lesen zu überlassen, damit er dir dann die Hauptsache berichte, und dann uns deine Meinung in ein paar Worten zu schreiben. Ungern freilich geschiehts, dass ich dir zu deinen vielen, verschiedenen Geschäften auch diese Mühe mache. Aber bei deiner Einsicht glaube ich, du wirst mir verzeihen, weil ich es ja nur der Not gehorchend tue. Könnte ich doch zu Euch fliegen, um auch nur auf einige Stunden deine Gegenwart zu genießen. Denn ich wünschte sehr, - und es wäre auch besser – nicht nur über diese Frage, sondern auch über allerlei anderes mündlich mit dir zu verhandeln. Was aber auf Erden nicht geht, wird bald, wie ich hoffe, im Reiche Gottes möglich sein. Lebwohl, du hochberühmter Mann, du trefflichster Diener Christi und mir ein stets geachteter Vater. Der Herr fahre fort, dich mit seinem Geist zu leiten bis ans Ende zum gemeinen Wohl seiner Kirche.

[Januar 1545].

Dein
Johannes Calvin.

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