Calvin, Jean - An die Pfarrer in Neuchatel.

Nr. 119 (C. R. – 582)

Calvin, Jean - An die Pfarrer in Neuchatel.

Der Neuchateller Pfarrkonvent hatte einen Entwurf der Sittenzensur, die er an seinen einzelnen Gliedern übte, den Schweizerkirchen zur Begutachtung zugestellt, zugleich auch sechs Gegenthesen des Pfarrers Chaponneau, der ein solches Standesgericht unter Berufung auf Matth. 18, 15 – 17 verwarf. Er wollte alle Aufsicht über das sittliche Leben der Pfarrer der privaten Ermahnung überlassen und verlangte in der 6. These, dass ein Widerspenstiger nur bei seiner eigenen Kirche verklagt werden dürfe.

Über Sittenzensur im Pfarrstand.

Die Liebe Gottes und die Gnade Christi und die Gemeinschaft des heiligen Geistes mehre sich stets unter Euch, im Herrn geliebteste Brüder. Als unser Bruder Enard Euer Schriftstück über die Vollziehungsordnung der brüderlichen Sittenzensur brachte und zugleich den Gegenantrag eines gewissen Bruders, da war jedermann der Ansicht, man könne Euch sofort auf Beides antworten. Weil aber nicht alle anwesend waren, haben wir es auf unsere heutige Zusammenkunft verschoben. Die Sache wurde nochmals vorgelegt, und einstimmig wurde folgende Antwort beschlossen: Erstens, da die Diener am Wort einer gewissen bestimmten Rechtsordnung unter sich bedürfen, so braucht man nicht zu fragen, ob wir nicht auch ohne Gesetze leben könnten, sondern es ist besser, gleich auf die Art der Einrichtung und Anordnung der Sache einzutreten, die sich dazu am besten eignet, uns bei unserer Pflicht zu halten, und so der Erbauung dient. Denn die Verhältnisse werden unter uns Menschen nie so sein, dass man etwas Vollkommenes findet. Aber doch müssen wir stets nach dem Ziel trachten, dass wir in vereintem Eifer und, soweit es möglich ist, nach gemeinsamem Plan der Kirche dienen. Nun kann es aber unserer Schwäche nicht anders gehen, als dass allerlei bei uns zu wünschen übrig bleibt, weswegen es ziemlich und nützlich ist, dass wir daran erinnert werden, wenn man sie in Gefahr sieht, aus Unvorsichtigkeit zu fallen; wieder andere müssen zu größerm Eifer angespornt, wieder andere getadelt werden; und wieder bei manchen muss untersucht werden, wenn irgendein ungünstiges, aber noch unsicheres Gerücht über sie auftaucht. Nun ist die Frage, ob es immer genügend ist, dass die einzelnen sich untereinander privatim ermahnen; oder ob es zuweilen gut ist, dass nach einer gemeinsamen Beratung der Brüder die Ermahnung durch das ganze Kollegium erfolgt. Es treten oft Fälle ein, wo wir von vielen Kollegen ermahnt werden müssen einer Sache wegen, in der kein einzelner uns ermahnen kann. Z. B. es erhebt sich, wie eben gesagt, ein Geschwätz oder eine Anklage gegen irgendeinen Bruder; seine Nachbarn wissen, was daran ist. Da gibt’s kein besseres Mittel, als dass die Brüder, nachdem die Sache unter ihnen gemeinsam besprochen worden ist, dem Betreffenden eine Mahnung erteilen. Ist die Anschuldigung falsch, so wird durch dieses Vorgehen gesorgt, dass sie nicht weiter herumkommt. Ist sie aber wahr, so verdient der Schuldige nicht nur die Mahnung eines einzelnen, sondern die Zurechtweisung durch das ganze Kollegium. Ein anderes Beispiel. Es ist an einem Bruder allerlei, was einigen aus der Gemeinde, oder von seinen Kollegen missfällt. Da taucht nun die Frage auf, ob das, was man an ihm anders wünscht, wirklich als ein Fehler und als der Zurechtweisung bedürftig anzusehen ist. Man muss also gemeinsam darüber nachdenken. Derartige Dinge kommen täglich vor. Diesen Zweck hatten zum Teil auch die Provinzial-Synoden, die vor Zeiten zweimal im Jahr gehalten wurden. Denn nach den dogmatischen Verhandlungen wurden Klagen über die Fehler eines jeden angehört und Zensur geübt an den einzelnen.

So ist also Eure Einrichtung, wie Ihr sie beschrieben habt, nach unserm Urteil durchaus fromm und gesetzmäßig. Es wäre ja auch zu unverschämt, an Euch zu tadeln, was wir als gut und heilsam selbst im Gebrauch haben. Nur muss dabei erstens Billigkeit und Lauterkeit herrschen und zweitens Vorsicht und Mäßigung. Wenn wir Lauterkeit und Billigkeit fordern, so verstehen wir darunter, dass keiner böswillig danach trachtet, seinen Bruder zu verletzen. Vorsicht und Mäßigung aber fassen wir so auf, dass keiner einen verborgenen Fehler angebe, durch den einem Bruder ein Makel aufgebrannt würde, und dass keiner in übermäßiger Strenge aufbausche, was sonst als ganz geringfügig gilt. Wenn es also einmal vorkommt, dass von eigensinnigen, rücksichtslosen Brüdern Dinge hervorgezerrt werden, über die man besser schwiege, oder verborgene Fehler in angeberischer Absicht vorgebracht werden, so sind solche Ankläger und Angeber nicht nur nicht anzuhören, sondern sogar streng zu bestrafen. Auch ist es, um diesen Gefahren zu begegnen, nützlich, bei Beginn der Zensurverhandlungen angelegentlich zu betonen, man müsse sich vor allem hüten, was die heilsame Medizin der Zensur in Gift verwandle. Wir wenigstens schicken gleich von Anfang die Mahnung voraus, wenn heimliche Eifersüchteleien beständen, so solle man sie aufdecken; fühle sich ein Bruder von einem andern beleidigt, so solle er sich beschweren, bevor die Zensurverhandlungen beginnen, damit diese nicht mit solchen Dingen verwechselt werden. Diesen Fehlern ist also, so weit als möglich, der Zutritt zu versperren, dass sie nicht aufkommen können, und sind sie etwa doch aufgekommen, so muss man sie unterdrücken. Die ganze Zensur-Einrichtung aber, die wir nicht nur als fromm, sondern auch als notwendig aus Erfahrung kennen, darf [um dieser Gefahren willen] nicht vernachlässigt oder verworfen werden. Den Bruder aber, der bisher darüber andrer Meinung war als Ihr, beschwören wir beim Herrn, nicht in seinem hartnäckigen Widerstand fortzufahren. Er soll sich doch darauf besinnen, dass Paulus von einem Pfarrer nicht als Letztes verlangt, dass nicht eigenmächtig sei [Tit. 1, 7], d. h. nur auf sein eigenes Urteil eingeschworen. Und sicher ist es eine der Haupttugenden eines guten Pfarrers, den Zank so von ganzem Herzen zu scheuen, dass er nie, wenn er nicht wirklich dringende Gründe hat, sich von seinen Brüdern trennt. Er nehme sich auch in Acht, dass nicht alle, die von seiner Opposition hören, den Verdacht aufkommen lassen, aus Streitsucht oder aus Hass gegen jede Ordnung suche er es zu hindern, dass auch über unser sittliches Leben Zensur geübt wird. Nicht als wollten wir ihn mit einer so gehässigen Auslegung belasten oder irgendeinen Makel auf ihn bringen; wir urteilen vielmehr bloß deshalb so, weil wir wünschen, es möge seine Ehre wohl gewahrt bleiben. Zu seiner schriftlichen These, mit der er Euren Brauch zu bekämpfen sucht, ist mit seiner Erlaubnis zu sagen, dass, wenn er die brüderliche Zurechtweisung einen Liebesdienst nennt, von dem keiner entzogen werden dürfe, er dabei nach unserer Meinung das Allerwichtigste nicht bemerkt hat, nämlich, dass es doch verschiedene Arten brüderlicher Zurechtweisung gibt. Von anderm ganz abgesehen, hat die brüderliche Zurechtweisung, um die es sich hier handelt, ihre besondere und eigene Beschaffenheit. Denn sie ist ein Bestandteil der Kirchenverfassung. So darf sie nicht mit der allgemeinen Zurechtweisung verwechselt werden, die [im Evangelium] allen [Christen] ohne Unterschied geboten wird. Weiter können wir ihm nicht zugeben, dass sie einfach nur ein [dem einzelnen erwiesener] Liebesdienst sei; vielmehr ist sie ein Urteil, um der Zucht und Ordnung willen eingerichtet, und hat zum Zweck die Erbauung aller [nicht bloß des einzelnen]. Wir können auch den Satz nicht zugeben: Keiner dürfe diesem Liebesdienst entzogen werden. Freilich ist der Ausdruck unklar, weil von dem, der die Zurechtweisung erfährt, wie von dem, der sie erteilt, verstanden werden kann. Aber auf beide Arten behaupten wir, ist nicht jeder verpflichtet durch dieses Gesetz, das speziell für die Diener am Wort bestimmt ist. Denn wie Gesetze über den Geschäftsgang des Rates nur diesen, nicht das ganze Volk verpflichten, so ziemt es sich auch, dass wir in unserm Stand eine Ordnung wahren, der nur die Pfarrer unterstellt sind. Wenn in derselben These steht, die brüderliche Zurechtweisung falle unter die Vorschrift Gottes, so können wir das keineswegs zugeben, wenn er es so versteht, die Form jedes Zurechtweisungsverfahrens sei ausdrücklich im Worte Gottes enthalten. Das Wesen der Kirchenzucht betont die Schrift freilich in bestimmten Worten; die Form ihrer Ausübung muss, da sie vom Herrn nicht vorgeschrieben ist, von den Dienern am Wort zum Ausbau der Kirche aufgestellt werden. Deshalb behaupten wir auch, dass nicht bloß die Besserung des Fehlbaren der Zweck [der brüderlichen Zensur] ist, sondern es wird dabei auch Rücksicht genommen auf die öffentliche Ordnung und die Erbauung aller. Wir können dafür ein Beispiel aus der Schrift nehmen. Als Paulus nach Jerusalem kam [Ap. Gesch. 21], wurde er von Jakobus und den Ältesten daran erinnert, welch bösen Ruf er unter den Juden habe und zugleich, wie er sich vor ihnen davon reinigen müsse. Zweifellos ging eine Beratung unter den Brüdern voraus, und zwar wurde sie in Abwesenheit des Paulus gehalten. Warum das? Natürlich, weil die Frage die Erbauung aller anging. Ebenso lesen wir, als die Brüder den Petrus tadelten, dass er sich zu den Heiden gewandt habe [Ap. Gesch. 11], nichts davon, dass ihm vorher einer etwas heimlich ins Ohr gesagt habe; natürlich, weil das Ärgernis viele stieß, wars billig, dass er gemeinsam von den Brüdern gemahnt wurde. Und wenn er auch damals zu Unrecht beschuldigt wurde, so steht doch nicht da, die Brüder hätten in der Art ihres Vorgehens gefehlt, sondern nur in der Sache selbst; denn sie hielten den üblichen, gewöhnlichen Brauch ein. Die Vorschrift Christi im 18. Kapitel des Matthäus verstehen wir von verborgenen Fehlern, worauf auch die Worte hinweisen. Also, wenn ein Bruder etwas begangen hat, und du weißt es, aber andere Augenzeugen hat die Sache nicht, dann, befiehlt Christus, sollst du privatim ihn ermahnen. Freilich verbietet er das auch nicht, wenn auch noch andere außer dir um die Sache wissen. Denn es kann ja geschehen, dass du gar nicht weißt, ob auch andere Mitwisser sind, oder dass es dir besser scheint, ihn nicht in Gegenwart andrer zu mahnen. Wenn Jesus dann weiter sagt: Erreichst du damit nichts, so nimm zwei oder drei Zeugen zu dir, so ist das unseres Erachtens zu verstehen nicht von Zeugen des Vergehens, sondern der Ermahnung, um ihr dadurch mehr Gewicht zu geben; daher ist auch dieses Wort kein Hindernis für die Art der Zensur, um die sich jetzt der Streit dreht. Denn nicht darum handelt es sich, verborgene Fehler ans Licht zu ziehen, um den Brüdern Schmach anzutun, sondern nur um Fehler der Art, die irgendwelches Ärgernis erregt haben oder nahe daran sind, solches zu erregen. Ein Beispiel der Art haben wir in dem Tadel, den Petrus empfing [Gal. 2, 14]; denn Paulus entfernte die Zeugen nicht, um ihn allein ohne sie alle zu vermahnen, sondern er tat es vor der ganzen Gemeinde. Und doch war die Sache noch nicht allen bekannt; aber Paulus wollte der drohenden Gefahr [des Ärgernisses] zuvorkommen. Die fünfte These [Eures Gegners] können wir auch nicht ausnahmslos annehmen; denn er sagt darin, wir handelten weise, wenn wir auch einen Bruder, der ein notorischer Sünder sei, nur privatim ermahnten. Denn Paulus will, wo er sagt [1. Tim. 5, 19.20]: „Wider einen Ältesten nimm keine Klage auf außer zweien oder dreien Zeugen“, andrerseits auch haben, dass die Ältesten, die sündigen, vor allen gestraft werden, auf dass sich auch die andern fürchten. Wenn es also zuweilen gut ist, die Sündigen, auch Älteste, denen doch größere Ehrfurcht zukommt, öffentlich zu bestrafen, und das als Beispiel gelten soll, so würde doch nicht weise und klug handeln, wer sich einer solchen öffentlichen Zurechtweisung enthalten wollte. Was also? Sicher muss man nach unserm Urteil, jeweilen nach dem einzelnen Fall und seinen Verhältnissen Beschluss fassen. Immer aber sind zwei Dinge im Auge zu behalten; einerseits, dass der, der gesündigt hat, nicht in allzu große Traurigkeit versinke [2. Kor. 2, 7], andrerseits, dass es nicht scheint, wir seien zu nachsichtig mit der Sünde. Wir wundern uns, warum der Bruder die sechste These beigefügt hat; denn darüber ist man doch genügend einig, dass mit dem Wort Gemeinde in dem Spruch Christi [Matth. 18, 17] die Gemeinde bezeichnet wird, deren Glied der wegen Widerspenstigkeit Angezeigte ist. Übrigens müssen zwei Punkte dabei beobachtet werden. Erstens: die Widerspenstigkeit eines verhärteten Sünders muss von einer Gemeinde so öffentlich kundgetan werden, dass, wenn er diese Gemeinde verachtet und verlässt und anderswo hinzieht, er auch dort angezeigt wird. Das ist auch der Sinn der alten Rechtsvorschriften, die verbieten, einen Auswärtigen in die Abendmahlsgemeinschaft aufzunehmen, wenn er nicht ein Zeugnis beibringt. Denn wo bliebe die Gemeinschaft der Kirche, wenn ein von einer Gemeinde Verurteilter von einer andern einfach aufgenommen würde? wo die kirchliche Zucht, wenn ein Verächter einer Gemeinde seinen Hochmut durch Auswanderung in eine andere ungestraft zur Schau tragen dürfte? Zweitens ist auch darauf zu achten, dass wir alle uns ansehen als Diener einer Kirche, die wie zu einem Kollegium vereint, eine Körperschaft bilden. Denn wozu sonst ein Dekan und alles andere? Nur dazu, dass wir wie Glieder eines Leibes unter uns zusammenwachsen. Wir vertrauen darauf, dass das vom Verfasser der Gegenthesen gut aufgenommen werde, wie wir es in lauterm Sinn schreiben. Denn es ist sicher unser aller Pflicht, der Wahrheit nicht bloß Raum zu geben, sondern sogar sie, wie man sagt, mit offenen, ausgestreckten Armen aufzunehmen. Lebtwohl, im Herrn geliebteste Brüder. Der Herr mehre in Euch von Tag zu Tag den Geist der Weisheit und Klugheit zur Erbauung seiner Kirche, und lasse Euren Dienst die reichsten Früchte bringen.

Genf, aus dem Pfarrkonvent, am 8. November 1544.

Im Namen aller Brüder

Johannes Calvin.

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