Brockhaus, Rudolf - Nach Wahl der Gnade
„Gott ist Licht, und gar keine Finsternis ist in ihm.„
„Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe.“
So schreibt der Apostel Johannes in dem 4. und 4. Kapitel seines ersten Briefes. Wenn aber Gottes Wesen Licht und seine Natur Liebe ist, so müssen notwendig alle seine Gedanken, Ratschlüsse und Wege diesem Wesen und dieser Natur entsprechen. Zugleich ist er der ewige Gott, der „Ich bin„, d. i. der stets Seiende, immer Sichgleichbleibende; darum müssen sein Wort und sein Tun den Charakter des Ewigen, Unveränderlichen tragen. Der Psalmist sagt deshalb: „In Ewigkeit, Jehova, steht dein Wort fest in den Himmeln“. (Psalm 119,89). Petrus redet von dem „lebendigen und bleibenden Wort„ (1 Petrus 1,23-25; vergleiche Matthäus 5,18; Matthäus 24,35 u. a. St.), und in 4 Mose 23,19 hören wir, daß „Gott nicht ein Mensch ist, daß er lüge, noch ein Menschensohn, daß er bereue“.
Beachten wir auch, daß, weil Gott sich nie verleugnen kann, alle seine Eigenschaften in ungetrübtem Einklang miteinander stehen müssen; jede einzelne muß zu ihrem vollen Austrag kommen, ohne die anderen zu beeinträchtigen. Gott kann z. B. unmöglich gnädig sein auf Kosten seiner Gerechtigkeit, oder seiner Gerechtigkeit freien Lauf lassen, ohne der Gnade Rechnung getragen zu haben. In all seinem Tun müssen Gnade und Wahrheit zu ihrem Recht kommen, Güte und Treue sich gleichsam die Hand reichen.
Der Mensch ist geneigt, Gott nach seinem eigenen menschlichen Wesen zu betrachten, oder sein Tun nach seinen kurzsichtigen Begriffen und Gefühlen (die obendrein noch durch die Sünde verdorben sind) zu beurteilen. Ist es ein Wunder, wenn er auf diesem Wege zu den törichtesten und selbst bösesten Schlüssen und Behauptungen kommt? „Bedenke, was ich sage„, schreibt Paulus an Timotheus, „denn der Herr wird dir Verständnis geben in allen Dingen“. (2 Timotheus 2,7). O wenn die Gläubigen nur mehr bedenken möchten, daß der Herr allein ihr Verständnis erleuchten kann, und dann unter Gebet darüber sinnen wollten, was Gott ihnen in seinem Worte sagt! Wieviel Irregehen und Schmerz würde ihnen erspart bleiben, und welch ein Segen könnten sie für ihre Umgebung sein! Aber wir leben in den Zeiten, wo man „das Bild gesunder Worte„ verläßt und „die Ohren von der Wahrheit abkehrt“. (2 Timotheus 1,13; 2 Timotheus 3,4). Immer ernster und eindringlicher klingt deshalb die Mahnung an unser Ohr: „Du aber, sei nüchtern in allem!„ oder: „Du aber, o Mensch Gottes, fliehe diese Dinge“, und: „Du nun, sei stark in der Gnade, die in Christo Jesu ist„. Je näher wir dem Ende kommen, desto größer wird die Verantwortlichkeit des einzelnen, treu zu der Wahrheit zu stehen und in dem zu bleiben, was wir gelernt haben, da auch wir wissen, von wem wir gelernt haben.
Die Unumschränktheit Gottes
Der erste wichtige Punkt, auf den ich die Aufmerksamkeit des Lesers richten möchte, ist Gottes Unumschränktheit. Wenn Gott Gott ist, so ist er niemand, vor allen Dingen nicht seinen Geschöpfen, Rechenschaft schuldig. Wer darf zu ihm sagen: Was tust du? Welche „Rechte“ hat überhaupt das gefallene Geschöpf seinem Schöpfer gegenüber? „Die Unumschränktheit Gottes ist„, wie ein anderer Schreiber gesagt hat, „das erste aller Rechte, die Grundlage aller Rechte und jeder Sittenlehre.“ Darum: „Wer bist du, o Mensch, der du das Wort nimmst wider Gott? Wird etwa das Geformte zu seinem Former sagen: Warum hast du mich also gemacht?„ (Römer 9,20) Oder: „Darf die Art sich rühmen wider dem, der damit haut, oder die Säge sich brüsten wider den, der sie zieht?“ (Jesaja 10,15).
Wenn nun Gott in seinem Wort Alten und Neuen Testaments immer wieder betont, daß nur „ein Überrest nach Wahl der Gnade„ (Römer 11,5) errettet werden wird, und den Gleichgültigen und Gesetzlosen ermahnt, heute dem kommenden Zorn zu entfliehn und sich mit Gott versöhnen zu lassen, „Jehova zu suchen, während er sich finden läßt, und ihn anzurufen, während er nahe ist“ (Jesaja 55,6); wenn Jesus mahnt, das Liebste: Hand, Fuß oder Auge, zu opfern, wenn es uns hindern will, unser ewiges Heil zu suchen, und dann hinzufügt: „Es ist dir besser, als Krüppel oder einäugig in das Leben einzugehen, als mit zwei Händen usw. in die Hölle des Feuers geworfen zu werden, wo ihr (der Gerichteten) Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt„ (Markus 9) — wie darf dann der Mensch fragen: Wäre es nicht schön, sollten wir es nicht mit Freuden begrüßen, wenn schließlich doch noch alle Menschen errettet würden?
Diese Frage lautet so unverfänglich und harmlos und empfiehlt sich so sehr unseren menschlichen Gefühlen, daß viele gar nicht merken, wie die List der alten Schlange sich genau so in ihr verbirgt, wie einst im Garten Eden in den Worten: ,„Hat Gott wirklich gesagt?“ Die Frage wendet sich unmittelbar gegen Gottes klar ausgesprochenes Wort. Sie sagt nicht mehr und nicht weniger als: Sollte es Gott wirklich ernst sein, wenn er sagt, daß Menschen für ewig verloren gehen? Sollte es wirklich wahr sein, daß es solche gibt, die „keine Hoffnung haben„ — gar keine, und das nicht im Blick auf dieses Leben, sondern auf den Zustand nach dem Tode (denn davon redet der Apostel allein in der bekannten Stelle: 1 Thessalonicher 4,13)? — Läßt sich so etwas mit der Güte und Liebe des Heiland-Gottes vereinigen? Gibt es nicht irgend eine Möglichkeit, dem Worte seine unerbittliche Schärfe zu nehmen? es anders zu deuten?
Man sieht, zu welch bösen Folgerungen und schlimmen Weiterungen jene eine, so harmlos klingende Frage führt. Das Ende der Überlegungen ist: „Nein, so kann Gott es nicht gemeint haben“, und man beginnt seine eigenen Meinungen an die Stelle des Wortes Gottes zu setzen und „verfälscht die Wahrheit„, indem man den Stellen, die von Gottes Gnade und Gnadenwillen reden, eine weit über ihr Maß hinausgehende Deutung gibt und andere, die die Hoffnungslosigkeit und das ewige Verderben der im Unglauben Gestorbenen bezeugen, im Sinne der eigenen Meinung abzuschwächen sucht. Was wird Gott zu dein allen sagen? Gewiß, er wird ernste Rechenschaft fordern von allen, die so nicht nur selbst „von der Wahrheit abirren“, sondern auch andere abirren machen.
„Befleißige dich„, ermahnt Paulus sein Kind Timotheus, „dich selbst Gott bewährt darzustellen als einen Arbeiter, der sich nicht zu schämen hat, der das Wort der Wahrheit recht teilt“, und dann redet er mit ernsten Worten von solchen, die damals schon von der Wahrheit abgeirrt waren und „den Glauben etlicher zerstörten„. Und den jungen Gläubigen in Thessalonich, die auch in Gefahr standen, falschen Lehren ihr Ohr zu leihen, ruft er in liebender Sorge zu: „Also nun, Brüder, stehet fest und haltet die Überlieferungen, die ihr gelehrt worden seid, sei es durch Wort oder durch unseren Brief“. (2 Thessalonicher 2,75).
Die Allversöhnungslehre
Die Lehre von der endlichen Errettung aller Menschen (manche gehen noch einen Schritt weiter und schließen auch Satan und die gefallenen Engel mit ein) nennt man vielfach „Wiederbringungslehre„. Eigentlich mit Unrecht. Man bezeichnet sie richtiger als „Allversöhnungslehre“; denn die Schrift redet von einer „Wiederbringung„ oder besser „Wiederherstellung“, allerdings nicht aller Menschen, sondern aller Dinge. Petrus weist in seiner Rede in der Salomonshalle des Tempels auf „die Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge„ hin, „von welchen Gott durch den Mund seiner heiligen Propheten von jeher geredet hat“. (Apostelgeschichte 3,21). Es sind dies die Tage des Tausendjährigen Reiches, in welchen Gott einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen will (Jesaja 65,17) — freilich nur in bedingtem Sinne, denn der wirkliche neue Himmel und die neue Erde werden erst im ewigen Zustand gesehen werden, wenn Gott alles neu macht. (Offenbarung 21,2)(ff). Im Blick auf die Schöpfung also, die nicht gesündigt hat, sondern um ihres Hauptes, des Menschen, willen in die Folgen der Sünde hineingezogen wurde und unter ihnen „seufzt„, kann mit Recht von einer Wiederbringung geredet werden. Sie wird einmal auf Grund des Sühnungswerkes Christi (Kolosser 1,20) — anders wäre es unmöglich — „freigemacht werden von der Knechtschaft des Verderbnisses zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes“. (Römer 8,19-22).
So klar und bestimmt die Schrift aber von einer Versöhnung oder Wiederherstellung aller Dinge, von einer schließlichen Befreiung der ganzen Schöpfung von den furchtbaren Folgen der Sünde redet, so klar und bestimmt lehrt sie auch im Blick auf die Menschen, daß nicht alle errettet werden, sondern nur die, die in der Gnadenzeit von ihren bösen Wegen umkehren und an Jesum glauben. Niemals sagt sie, daß die Sünden aller getragen und gesühnt worden seien, was doch geschehen sein müßte, wenn alle Menschen errettet werden sollten. Überall begegnen wir dem Grundsatz der „auserwählenden„ Gnade Gottes. Alle haben gesündigt und reichen nicht hinan an die Herrlichkeit Gottes; ja, alle würden in dem bösen Willen ihres Herzens bis ans Ende auf dem breiten Wege, der zur Verdammnis führt, beharren, wenn nicht Gott in seinem Erbarmen und nach seinem Gnadenvorsatz eingriffe und die, „so viele zum ewigen Leben verordnet sind“ (Apostelgeschichte 13,48), herausrisse und zu Jesu führte. Gleichwie der Heiland selbst sagt: „Alles, was der Vater mir gibt, wird zu mir kommen„.
Gottes Gnadenwille umfaßt freilich alle Menschen. Er „hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, auf daß er die Welt richte, sondern auf daß die Welt durch ihn errettet werde“. (Johannes 3,17). Aber die Welt wollte Jesum nicht. Sie hat sowohl den Vater als auch den Sohn gehaßt. Was blieb nun der Liebe Gottes übrig? Nur die Wahl seiner Gnade. Darum hören wir schon im Verse vorher: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß jeder (jeder einzelne), der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe„. (Vergl. auch 2 Korinther 5,18-21). Hat die Welt als solche Gottes Gnade und Liebe von sich gestoßen, so bleibt nur noch eine „Auswahl“, „eine Wahl nach Gnade„ übrig. „Jeder“ — „wen da dürstet„ — „wer da will“, wird eingeladen, zu kommen und von dem Wasser des Lebens umsonst zu trinken.
Das alles ist so einfach und von solch durchsichtiger Klarheit, daß man kaum versteht, wie darüber überhaupt noch Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten bestehen können. Und doch ist es so. Man leugnet allerdings nicht unmittelbar die ernste Wahrheit, man läßt die angeführten Worte und viele andere Stellen ähnlichen Inhalts stehen, aber man sucht an ihnen zu deuteln und den Worten ihre zweischneidige Schärfe zu nehmen. Man sagt: Ja — aber! Die alte Weise Satans! er leugnete auch im Anfang nicht, daß Gott gesprochen habe, aber er suchte Mißtrauen betreffs der Güte Gottes in das Herz des Weibes zu säen, und als Eva seiner listigen Stimme Gehör gab, verdrehte er die Worte Gottes.
Überaus seltsam, um nicht mehr zu sagen, sind allerdings einige der Gründe, die von Seiten der Anhänger der Allversöhnungslehre vorgebracht werden. So legt einer von ihnen den bekannten Worten in Jesaja 53,12: „er (Christus) hat die Sünde vieler getragen und für die Übertreter Fürbitte getan„, folgenden Sinn bei: Die „Vielen“, deren Sünde der Herr getragen hat, sind die Gläubigen aller Zeiten, die „Übertreter„ sind die übrigen Menschen, die infolge der Fürbitte Christi noch auf eine spätere Erlösung rechnen dürfen.
Man fragt sich unwillkürlich: Wie ist so etwas nur möglich? Die einzige Antwort liegt wohl in dem Ausspruch des Herrn: „Siehe zu, daß das Licht, das in dir ist, nicht Finsternis ist“, oder: „Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß die Finsternis!„ (Lukas 11,35; Matthäus 6,23). Anstatt in den wenigen Worten den einfachen, aber so kostbaren Bericht des auf dem Kreuze Geschehenen zu erblicken, wo unser geliebter Herr die Sünden vieler trug und für seine Mörder betete, schiebt man ihnen einen Sinn unter, der die Grundlage des Erlösungswerkes, Gottes Gerechtigkeit, antastet und das Opfer Christi verfälscht. Daß das nicht die Absicht des Redenden ist, sei gern zugegeben, aber die Tatsache besteht, wie wir sogleich sehen werden, und verhängnisvoll ist, daß einfache, in der Wahrheit wenig befestigte Seelen das gar nicht merken, sondern im Gegenteil eine neue, kostbare Wahrheit zu hören glauben. Solchen Seelen zunächst sind wir eine Begründung unserer ernsten Anklage schuldig.
Wir haben gesagt, daß jene Erklärung die Grundlage des Erlösungswerkes, Gottes Gerechtigkeit, antaste. Ist das wirklich wahr? Sehen wir zu! Nachdem der Apostel Paulus in dem ersten Kapitel des Römerbriefes die Schuldbarkeit aller Menschen, Heiden und Juden, bewiesen hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, daß „die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen sei“, sagt er, daß Gottes Gerechtigkeit (und diese muß der Mensch besitzen, um vor Gott bestehen zu können) „geoffenbart worden ist durch Glauben an Jesum Christum gegen alle und auf alle, die da glauben„; und weiter, daß Gott „Christum Jesum dargestellt hat zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben an sein Blut, zur Erweisung seiner Gerechtigkeit wegen des Hingehenlassens der vorher (d. h. vor dem Tode Christi) geschehenen Sünden unter der Nachsicht Gottes, zur Erweisung seiner Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit, daß er gerecht sei und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesum ist“. (Römer 3,21-26),
Wenn Gott Gnade üben und vergeben will, so kann er das nur auf dem Boden seiner Gerechtigkeit tun. Die Gnade kann nur herrschen durch Gerechtigkeit. (Römer 5,21). Gottes Gerechtigkeit nun ist in dem Opfertode Christi voll und ganz befriedigt, ja, verherrlicht worden im Blick auf alle, die an Jesum glauben. Alle ihre Sünden, die Sünden vieler, hat Jesus getragen; für sie war er zur Sünde gemacht, und infolgedessen handelte Gott nur gerecht, indem er die vorhergeschehenen Sünden der Seinigen in Nachsicht trug, und ist heute nur gerecht, wenn er die an Jesum Glaubenden rechtfertigt und ihnen in dem Auferstandenen einen ganz neuen Platz gibt. Für alle, die „in Christo„ sind, gibt es keine Verdammnis mehr, sie sind „im Geiste“, nicht mehr „im Fleische„. (Römer 8).
Auf welchem Boden könnte nun Gott den Übertretern, für die Jesus im Sinne jener Behauptung Fürbitte getan haben soll, vergeben? Wie sie rechtfertigen? Jesus hat nur die Sünden vieler getragen (vergl. auch Matthäus 26,28; Hebräer 9,28), und jene Übertreter, die im Unglauben gestorben sind, haben das große Heil in Christo verachtet oder vernachlässigt, und haben ihr Gericht dafür empfangen. Soll nun der heilige Gott „sich selbst verleugnen“, seine Gerechtigkeit aufgeben und jenen Schuldigen gegenüber eine Gnade walten lassen, die die Sünden vergäbe, ohne daß sie getragen und gesühnt wären, die also wiederum das Wesen der göttlichen Gnade ins Gegenteil verkehren würde?
Das Gesagte beantwortet auch die Frage, wie das Opfer Christi durch jene Erklärung gefälscht wird. Wäre es möglich, daß auf irgend einem Wege, neben dem Opfer Christi oder im Verein mit ihm, Vergebung der Sünden erlangt und Gottes Gerechtigkeit befriedigt werden könnte, so wäre dieses Opfer nicht die allein gültige Sühnung, das Blut des Sohnes Gottes wäre nicht das einzige Mittel zur Reinigung unserer Sünden, Christus nicht der alleinige Heiland usw. Und was will man neben ihn und sein Werk stellen? Die römische Kirche hat die Fabel von dem „Fegefeuer„ ersonnen. Will man ihr folgen und das leichtere oder schwerere Gericht, die schärfere oder gelindere Strafe der Verlorenen, ihr „Weinen und Zähneknirschen“, ihre Reue (wenn es solche dort gibt) oder was man sonst ersinnen mag, neben das Werk Christi stellen und dieses dadurch zunichte machen? O über die Verkehrtheit des menschlichen Geistes und Willens, die sich erheben wider die unzweideutigen Zeugnisse des Wortes Gottes und ihre eigenen bösen Eingebungen an deren Stelle setzen!
Noch eine zweite Stelle sei hier erwähnt, die neben anderen, längst bekannten zuweilen angeführt wird, um die Allversöhnungslehre zu stützen. Es heißt in Römer 11,32: „Gott hat alle in den Unglauben eingeschlossen, auf daß er alle begnadige„. — Seht ihr's? ruft man, hier steht's deutlich geschrieben: Gott wird alle Menschen begnadigen!
Müssen wir die Erklärung von Jesaja 53,12 unmittelbar böse nennen, so können wir dieser Behauptung den Vorwurf grober Leichtfertigkeit nicht ersparen. Der Apostel redet in Römer 11 bekanntlich von den Wegen Gottes mit Israel und den Nationen oder Heiden. Israel, das von Gott erwählte und abgesonderte Volk, bildete die natürlichen Zweige des Ölbaumes, des Bildes der Fettigkeit. Abraham, die Wurzel des Baumes, der Empfänger der göttlichen Verheißungen und Segnungen, wird heilig, d. i. für Gott abgesondert genannt; so waren denn auch die Zweige heilig. Nun aber waren diese natürlichen, geheiligten Zweige ihres Unglaubens wegen „ausgebrochen“ worden, und Gott hatte an ihrer Stelle die ungläubigen Heiden, einen „wilden„ Ölbaum, „eingepfropft“ Diese standen jetzt „durch den Glauben„. Sie, die einst Gott nicht geglaubt hatten, waren durch den Unglauben der Juden unter die Begnadigung gekommen, und für die Juden, die in ihrem Hochmut nicht an die Begnadigung der Heiden glauben wollten, blieb jetzt auch kein anderer Weg übrig, als der der Begnadigung. Auf dem früheren, gesetzlichen Boden war alles für sie verloren. Sollten die ihren Vätern gegebenen Verheißungen an ihnen in Erfüllung gehen, so konnte das nur auf dem Boden bedingungsloser Gnade geschehen, genau so wie bei den Heiden. Und nun kommt die einfache Begründung: „Denn Gott hat alle (Juden und Heiden) zusammen in den Unglauben eingeschlossen, auf daß er alle (Juden und Heiden) begnadige“.
Der Gedanke an eine Allversöhnung, eine Begnadigung aller Menschen, sodaß alle schließlich errettet werden, liegt der Stelle so fern, daß es wirklich einer großen Leichtfertigkeit oder eines Verdrehungswillens bedarf, um ihn darin einzuführen.
Man redet weiter gern davon, daß es Gottes Wille sei, daß alle errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (vergl. 4 Timotheus 2,4; 2 Petrus 3,9), und daran tut man an und für sich gewiß recht. Wenn man nur nicht so falsche und böse Schlüsse daraus ziehen wollte! Sicher will Gott, der Gott der Liebe und des Erbarmens, nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe. Sicher will er, daß allen die Botschaft der freien Errettung angeboten werde. Er schließt keinen aus. Er hat keinen Menschen dazu bestimmt, verloren zu gehen. Die Lehre, daß Gott die einen zur Verdammnis, die anderen zum ewigen Leben zuvorbestimmt habe, ist ebenso verkehrt und kann ebenso verderblich wirken wie die von der Allversöhnung. Nein, wenn ein Mensch verloren geht, so ist das nicht das Ergebnis der Vorherbestimmung oder des Willens Gottes, sondern einzig und allein die Folge seiner Sünden, seines Unglaubens und seines gottfeindlichen Willens. Und anderseits: wenn ein Mensch errettet wird, so ist es nicht die Folge seines Tuns, seines Wollens oder Laufens, sondern das Werk des auserwählenden, begnadigenden Gottes.
Vergessen wir aber nicht, daß gerade so, wie es Gottes Wille ist — denn er ist Liebe —, daß alle zur Buße kommen und in Jesu Heil und Rettung finden, es auch sein Wille ist und sein muß— denn er ist Licht —, „seinen Zorn zu erzeigen und seine Macht kundzutun„ an allen denen, die dem Evangelium unseres Herrn Jesus Christus nicht gehorchen, sondern Wohlgefallen finden an der Ungerechtigkeit.
Gottes Zorn wird geoffenbart
Im Anschluß an den am Ende des vorigen Abschnitts ausgesprochenen Gedanken, daß „Gott willens ist, seinen Zorn zu erzeigen und seine Macht kundzutun“ (vergl. Römer 9,22), sei an eine Stelle erinnert, die allgemein bekannt ist, aber anscheinend wenig beachtet wird. Der Apostel Paulus schreibt in Römer 1,18, nachdem er von dem Evangelium Gottes geredet und im Verse vorher gesagt hat, daß „Gottes Gerechtigkeit darin geoffenbart wird aus Glauben zu Glauben„: „Denn es wird geoffenbart Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen“.
Beachten wir die ganz gleichen Ausdrücke in den beiden Versen: in dem Evangelium „wird geoffenbart Gottes Gerechtigkeit„, und — es „wird geoffenbart Gottes Zorn vom Himmel her“. Dieser Zorn wird also geoffenbart (noch nicht ausgeübt) gleichzeitig mit dem Evangelium, gleichsam neben dem Worte vom Kreuz herlaufend. Das mag für den Augenblick befremdend klingen, wird uns aber verständlich werden, sobald wir an die durch das Evangelium Gottes veränderte Sachlage denken. Schon in früheren Zeiten hatte Gott zeitweilig ernste Gerichte über die Menschen kommen lassen. Wir brauchen uns nur an die große Flut, an Sodom und Gomorra, an das Rote Meer, an die Rotte Korah usw. zu erinnern. Aber alle diese Gerichte waren irdische Wege der Vorsehung Gottes gewesen, deutliche Zeichen seiner Regierung, nicht aber eine Offenbarung seines Zornes vom Himmel her. In diesen Heimsuchungen hatte Gott wohl Zeugnisse seines Wesens aufgerichtet, aber erst als der Sohn Gottes sein Sühnungswerk vollbrachte und darin die Grundlage zu unserer Errettung legte, offenbarte sich Gott, wie er ist; ja, nirgendwo hat Gott so deutlich gezeigt, wie er zu der Sünde und zu allem Bösen steht, wie gerade am Kreuze, wo Jesus, der Sünde nicht kannte, für uns den Kelch des Zornes Gottes wider die Sünde trank. Der höchste Beweis der Liebe Gottes wurde so zur erschütterndsten Offenbarung Seiner Gerechtigkeit.
Nachdem die Welt auch diese letzte und höchste Offenbarung Gottes, Sein „Reden zu uns im Sohne„ (Hebräer 1,1), verworfen und den Sohn Gottes ans Kreuz geschlagen hat, bleibt nichts anderes als Zorn und Gericht für sie übrig. Wird darum einerseits Gottes Gerechtigkeit im Evangelium geoffenbart und jedem Glaubenden umsonst geschenkt, so zeigt Gott anderseits deutlicher und eindringlicher als je, daß sein Zorn „alle Gottlosigkeit“ (welcher Art sie sein mag) treffen muß; und nicht nur sie, sondern auch alle „Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen„. Es ist nicht länger ein einzelnes Volk, an welchem Gott die Missetaten heimsucht, wie einst an Israel (vergl. Amos 3,1.2), sondern er richtet jetzt alles Böse, alles was mit ihm, der Licht ist, im Widerspruch steht. Darum fährt der Apostel unmittelbar fort (und zwar bis zum 21. Verse des 3. Kapitels), die Schuldbarkeit aller Menschen, deren beide Hauptklassen damals in Heiden und Juden bestanden, zu beweisen. Und was ist das Ende seiner Beweisführung? Wie lautet das Fazit, das er zieht? „Alle haben gesündigt“, sei es „ohne Gesetz„, wie die Heiden, oder „unter Gesetz“, wie die Juden. Alle sind schuldig, der Jude allerdings unvergleichlich mehr als der Heide — und darum wird sein Gericht „schwerer„ sein, er wird „mehr Streiche“ empfangen als jener — aber alle sind schuldig, und „die ganze Welt„ ist rettungslos, auf gerechter Grundlage, „dem Gericht Gottes verfallen“. Gegen dieses vernichtende, keine Ausnahme zulassende Urteil bäumt sich zwar der Stolz des Menschen auf, man nennt es ungerecht, nicht mit der Liebe Gottes im Einklang stehend usw., aber „vor dem Richterstuhl Gottes„ wird bald „jeder Mund verstopft werden“. Gott wird gerechtfertigt werden in seinem Reden und rein erfunden in seinem Richten. (Psalm 51,4).
Glücklich der Mensch, der, wie einst Hiob, beizeiten zur Besinnung kommt und auf die Frage Gottes: „Will der Tadler rechten mit dem Allmächtigen? Der da Gott zurechtweist, antworte darauf„, erwidert: „Siehe, zu gering bin ich, was soll ich dir erwidern? Ich lege meine Hand auf meinen Mund. Einmal habe ich geredet, und ich will nicht mehr antworten, und zweimal, und ich will es nicht mehr tun“! (Hiob 39,32-35).
Warum wird der Mensch gerichtet?
Eine Hauptursache der Verirrungen und falschen Behauptungen auf dem uns beschäftigenden Gebiet ist wohl darin zu suchen, daß man meint, der Mensch gehe nur deshalb verloren, weil er nicht an Christum glaubt. Indem man diese Meinung zum Ausgangspunkt seiner Schlüsse und Beweisführungen macht, kommt man dahin, Gott der Ungerechtigkeit zu beschuldigen, wenn er Menschen richtet, die nie von Jesu gehört haben, also auch nie Gelegenheit hatten, sich für oder gegen ihn zu entscheiden; deren ganze Schuld, wie man sagt, „ja doch zu einem großen Teil nur darin besteht, daß sie vor Christo gelebt (oder nie die Kunde von ihm vernommen) haben, und das ist doch nicht ihre Schuld„. Wir würden ja, so folgert man weiter, Gott „zu einem lieblosen, ungerechten Gott stempeln“, wenn wir glauben wollten, „daß etwa zwei Drittel der Menschen, die bis heute gelebt haben, unrettbar verloren sind. Denn diese Menschen sind eigentlich schuldlos, weil sie nichts von Christo gewußt haben.„
So reden und schreiben selbst gläubige Männer - „nach Menschenweise“, wie der Apostel Paulus es nennt. Denn schon damals hat der Geist Gottes, voraussehend, zu welch törichten, ja, vermessenen Fragen und Behauptungen der Menschengeist kommen würde, durch Paulus gerade die Frage niederschreiben lassen, die uns heute beschäftigt: „Ist Gott etwa ungerecht, der Zorn auferlegt?„ Und die Antwort lautet: „Das sei ferne! Wie könnte sonst Gott die Welt richten?“ (Römer 3,5.6). Nein, wenn es sich ausschließlich um die Offenbarung der Gerechtigkeit handelte, dann wäre Gott nur gerecht, wenn er alle Menschen ohne Ausnahme richten würde. Sein Zorn ruht gerechterweise auf allen Menschenkindern ihrer Sünden wegen, und wenn er trotzdem viele von ihnen rettet, so ist das seine unumschränkte Barmherzigkeit, die „sich wider das Gericht rühmt„, seine unverdiente Gnade, die durch Jesum Christum herrscht zu ewigem Leben. Darum rühmt der Gläubige: „Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat, … hat uns mit dem Christus lebendig gemacht — durch Gnade seid ihr errettet“. (Epheser 2,4-10).
„Aber„, höre ich meine Leser fragen, „ist es denn nicht wahr, daß der Mensch deshalb verloren geht, weil er nicht glaubt? Steht nicht immer wieder in der einen oder anderen Form geschrieben, daß nur der Glaubende errettet wird, während alle, die nicht glauben, unter dem Zorn Gottes bleiben?“ Ja, so steht geschrieben. Aber indem man so fragt, vergißt man, daß der Mensch, ob Jude, Heide oder Namenchrist, von Natur verloren ist und seiner bösen Werke wegen unter dem Verdammungsurteil Gottes steht. Man vergißt, daß alle Menschen „von Natur Kinder des Zorns„ sind, indem sie ausnahmslos nicht nach Gott fragen, sondern „den Willen des Fleisches und der Gedanken tun“. (Epheser 2,3). Daß ein großer Unterschied besteht zwischen Jude, Heide und Namenchrist und in jedem Falle wieder zwischen den einzelnen je nach den persönlichen Umständen, daß ferner die Größe der Verantwortlichkeit und infolgedessen die Schwere des Gerichts sehr verschieden ist, liegt auf der Hand. „Sollte der Richter der ganzen Erde nicht Recht üben?„ fragte Abraham einst im Blick auf das über die Bewohner von Sodom und Gomorra angekündigte Gericht, das ihn erschreckte und sein Herz mit Gefühlen des Erbarmens erfüllte. Ja, Gott hat damals Recht geübt und wird auch Recht üben an jenem Tage, wenn es „dem Sodomer Lande erträglicher ergehen wird“, als den Bewohnern von Kapernaum und so vielen Millionen von Menschen, die, gleich ihnen, himmelhohe Segnungen empfangen hatten und sich doch nicht dadurch zur Buße leiten ließen.
Ich wiederhole also: Ein Mensch, dem die in Christo geoffenbarte Gnade vergeblich angeboten wird, der die ihm gepredigte „große Errettung„ verachtet oder doch vernachlässigt, geht dadurch nicht erst verloren, nein, er war schon verloren und bleibt verloren — „der Zorn Gottes bleibt auf ihm“. (Johannes 3,36). Er verwirft als ein schuldiger Sünder die Gnade Gottes, vermehrt dadurch wohl seine Schuld und erschwert sein Gericht unendlich, aber sein Unglaube führt nicht erst sein Verlorengehen herbei. Von Hause aus verloren, könnte er errettet werden, wenn er im Glauben seine Zuflucht zu dem Heilmittel Gottes nähme; weil er das aber nicht tut, ist sein Schicksal besiegelt: „wer nicht glaubt, wird verdammt werden„. So ist der Glaube das Mittel, durch welches der Mensch der Verdammnis entrinnen kann. Weist er dieses einzige Mittel von sich, so bleibt er unter dem Verdammungsurteil Gottes, ja, empfängt gerechterweise „ärgere Strafe“. Wer an den Sohn glaubt, „wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht geglaubt hat an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes„. (Johannes 3,18).
Die wahre Ursache des Verlorengehens ist also nicht der Unglaube, sondern die Sünde des Menschen. Daß das so ist, daß also das Gericht Gottes den Menschen trifft seiner Sünden wegen, bezeugen zahlreiche Stellen der Schrift aufs unzweideutigste. Schon der Prediger sagt am Schlusse seines Buches: „Gott wird jedes Werk, es sei gut oder böse, in das Gericht über alles Verborgene bringen“. (Vergl. Römer 2,16; 1 Korinther 4,5). Sogar „von jedem unnützen Worte, das irgend die Menschen reden werden„, müssen sie einmal Rechenschaft geben am Tage des Gerichts. (Matthäus 12,36). Meer, Tod und Hades geben an jenem Tage die Toten, die in ihnen sind (d. i. alle, die nicht der ersten Auferstehung angehören), wieder, und sie werden gerichtet, ein jeder nach seinen Werken. (Offenbarung 20,12-13). Das Meer, dessen Tiefen kein Mensch je zu erforschen vermochte, das die Leiber der in ihm Umgekommenen oder in seinen Schoß Versenkten anscheinend spurlos verschlungen hat, der Tod und der Hades, mit anderen Worten das Grab, in welchem die Leiber, und der Zwischenzustand, in welchem die Seelen der Verstorbenen sich jetzt befinden — sie alle werden gezwungen werden, ihre Toten wiederzugeben. Nicht einer wird fehlen, vornehm oder gering. Und alle diese Toten, anstatt dann, wie man in unglaublicher Schriftverdrehung zu behaupten wagt, Gelegenheit zu finden, das Evangelium zu hören, werden gerichtet werden, ein jeder nach seinen Werken.
So redet die Schrift, das untrügliche, ewig bleibende Wort, mit erschreckender Klarheit und überwältigender, jedermann verständlicher Eindeutigkeit. „Du sollst nichts hinzufügen und nichts davon tun“, sagt Mose. (5 Mose 12,32). Wehe dem, der zu den Worten dieses Buches „hinzufügt„ oder von ihnen „wegnimmt“ (Offenbarung 22,18-19), indem er die einfachen, klaren Aussprüche verfälscht oder gar ins Gegenteil verkehrt, sich und andern zum Verderben! Er wird sich vor dem Gott zu verantworten haben, vor dessen Wort er nicht „gezittert„ hat.
Doch erinnern wir uns noch an einige andere Stellen. David sagt, in auffallender Gegenüberstellung der Güte und Strenge Gottes, in Psalm 62,12: „Dein, o Herr, ist die Güte; denn du, du vergiltst einem jeden nach seinem Werke“. Bei Jeremia verbindet der Geist Gottes mit der Beschreibung der Arglist und Verderbtheit des Menschenherzens die Worte: „Ich, Jehova, erforsche das Herz und prüfe die Nieren, und zwar um einem jeden zu geben nach seinen Wegen, nach der Frucht seiner Handlungen„. (Jeremia 17,10; Jeremia 32,19). In Römer 2,5-6 lesen wir von „dem Tage des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichts Gottes, welcher einem jeden vergelten wird nach seinen Werken“. Den Ephesern schreibt Paulus: „Niemand verführe euch mit eitlen Worten, denn dieser Dinge wegen kommt der Zorn Gottes über die Söhne des Ungehorsams„. (Epheser 5,6; vergl. Kolosser 3,6). Und am Schluß des ganzen Buches Gottes ruft der Herr selbst mit heiligem Ernst: „Siehe, ich komme bald, und mein Lohn mit mir, um einem jeden zu vergelten, wie sein Werk sein wird“. (Offenbarung 22, 12).
Noch einmal denn: wenn auch die Gleichgültigkeit und der Unglaube des Menschen dem Evangelium Gottes gegenüber seine Schuld und Strafe gleichsam ins Ungemessene steigern, kommt doch Gottes Zorn (und wird heute schon vom Himmel her geoffenbart) nicht so sehr über den Unglauben, so böse er ist, als vielmehr über „alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit„ der Menschen. Alle haben sich verschuldet und haben deshalb Tod und Gericht verdient. Wenn Gott dennoch Menschen errettet, so kann es, wie schon gesagt, nur auf Grund einer bedingungslosen Gnade sein und nur „nach Wahl der Gnade“. Und so wie Jesaja über Israel ausruft: „Wäre die Zahl der Söhne Israels wie der Sand des Meeres, nur der Überrest wird errettet werden„, so dürfen wir auch sagen im Blick auf alle übrigen Menschen: „Wäre ihre Zahl auch Milliarden und aber Milliarden, nur ein Überrest, eine Auswahl der göttlichen Gnade, wird errettet werden“.
Aber da kommt „der Tadler des Allmächtigen„, der hochmütige, „Gott zurechtweisende“ Mensch, und erkühnt sich zu fragen: Ist es aber gerecht, wenn Gott einen solchen Unterschied macht? Ist Gott nicht verpflichtet, allen Menschen sein Heil in Christo anzubieten, und wenn das während ihres Erdenwallens nicht geschieht, wäre es nicht ungerecht, wenn er ihnen nicht nach ihrem Tode noch die Gelegenheit dazu böte?
O eitler Tor, der du so redest! Zunächst: Willst du, „dessen Odem in seiner Nase ist„, „Gott Verstand geben und ihn belehren über den Pfad des Rechts und ihn Erkenntnis lehren und ihm den Weg der Einsicht kundmachen“? (Jesaja 40,14). Willst du, der „wie eine Blume hervorkommt und verwelkt„ (Hiob 44,2), mit deinem Bildner rechten und zu ihm sagen: „Was machst du?“ du, „ein Tongefäß unter irdenen Tongefäßen„? (Jesaja 45,9).
Aber weiter: Handelt es sich in dem vorliegenden Falle überhaupt um Gerechtigkeit? Wenn ein ganzes Regiment gemeutert und auf Grund der Gesetze den Tod verdient hätte, wäre es dann eine Frage der Gerechtigkeit oder der Gnade, wenn Kaiser, König oder Präsident die Strafe milderte oder doch nur an einer Anzahl der Schuldigen ausführen ließe, während die anderen frei ausgingen? Und hätten etwa die Schuldigen zu bestimmen, wer von ihnen begnadigt werden solle und wer nicht? Man wird einwenden: Das Gleichnis hinkt! Ich weiß, daß es hinkt, wie jedes andere Gleichnis. Aber es kommt hier nur auf eine grundsätzliche Anwendung des Bildes an. Wenn alle Menschen gesündigt haben und dem gerechten Gericht Gottes, dem Tod und der Verdammnis, verfallen sind, ist es dann Gerechtigkeit oder Gnade, wenn Gott nicht alle dem Gericht anheimfallen, sondern es an einer Auswahl vorübergehen läßt? Vor allem, wenn er das tut auf Grund eines stellvertretenden Sühnopfers, das er selbst vorgesehen und bereitet hat? Und weiter: Steht nicht Gott die unumschränkte Entscheidung darüber zu, wen er begnadigen will und wen nicht? Hat irgend einer der dem Gericht Verfallenen ein Anrecht, irgend einen berechtigten Anspruch an diese Begnadigung?
Und wenn nun noch hinzukommt, daß alle ausnahmslos den Gnadendarbietungen gegenüber sich ablehnend verhalten, die einen feindlich und böse, die anderen gleichgültig und sorglos? Wenn die „große Errettung“, wie wir schon sagten, entweder verachtet oder vernachlässigt wird? Wenn die suchende Liebe klagend ausrufen muß: „Herr, wer hat unserer Verkündigung geglaubt?„ Oder: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt zu einem ungehorsamen und widerspenstigen Volke“? (Römer 10,16-21). Oder: „Ihr wollt nicht zu mir kommen, auf daß ihr Leben habet„? (Johannes 5,40). Wenn „keiner da ist, der Gott suche“, wenn „alle den Willen des Fleisches und der Gedanken tun„? (Epheser 2,3).
Aber die Heiden!
Aber die Heiden, höre ich einwenden, und so viele, viele andere Menschen, die, gleich ihnen, nie von Jesu gehört haben! Was können sie dafür, wenn kein Prediger zu ihnen gekommen ist? Sagt doch das Wort Gottes selbst: „Wie werden sie an den glauben, von welchem sie nicht gehört haben? Wie aber werden sie hören ohne einen Prediger?“ (Römer 10,14).
Ja, so redet die Schrift, und der Herr Jesus selbst bezeugt, daß „die Schrift nicht aufgelöst werden kann„. (Johannes 10,35). Wir müssen also diese Stelle, wie alle anderen, genau so nehmen, wie sie geschrieben steht. Es ist so, die Heiden können nicht an Jesum glauben oder ihn anrufen, wenn ihnen nicht die gute Botschaft gebracht wird. Darum sollten wir allezeit „überströmend sein im Werke des Herrn“ und, von der Liebe Christi gedrängt, nicht müde werden, von ihm zu zeugen und für die weitestgehende Verbreitung des Evangeliums in Wort und Schrift einzutreten. Aber wenn die Heiden auch nicht glauben können, weil ihnen kein Prediger die gute Botschaft bringt, sind sie deshalb schuldlos? Hören wir, was der Heilige Geist uns durch den Apostel Paulus über diese Frage zu sagen hat. Wir kommen damit auf Römer 1,18 zurück: „Denn es wird geoffenbart Gottes Zorn vom Himmel her„. Auch über die Heiden? Ja, lautet die Antwort Gottes, über „alle Gottlosigkeit (d. i. der Zustand der Heiden) und Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen“ (das sind die Juden oder heute die Namenchristen); und der Apostel zögert nicht, den Beweis für seine Behauptung anzutreten. Im ersten Kapitel redet er von den Heiden, im zweiten bis zum 21. Verse des dritten Kapitels von den Juden; heute müßte man, wie gesagt, die ganze Namenchristenheit miteinschließen.
Drei Gründe zählt der Apostel auf für die Schuldbarkeit der Heiden vor Gott.
- Sie besitzen das Zeugnis der Schöpfung. Das von Gott Erkennbare, seine ewige Kraft und Göttlichkeit, wird von Erschaffung der Welt an in den von ihm gemachten Dingen wahrgenommen. (Römer 1,20).
- Sie haben im Anfang die Kenntnis Gottes gehabt. (Römer 1,21).
- Sie haben ein (wenn auch irregeleitetes) Gewissen, das in ihrem Innern zeugt, sodaß „ihre Gedanken sich untereinander anklagen oder auch entschuldigen„. (Römer 2,14-15).
Was haben sie mit diesen drei großen Gütern gemacht? Obwohl sie Gott kannten und in seiner Schöpfung immer wieder von seiner Größe, Macht und Weisheit überführt wurden, haben sie „weder Ihn verherrlicht noch ihm Dank dargebracht“, sondern sind hochmütig geworden, weise in ihren eigenen Augen, sind in Torheit und Herzensverfinsterung verfallen und haben sich vermessen, die Herrlichkeit des unverweslichen Gottes in Bildern von verweslichen Menschen oder Tieren darzustellen. Ja, mehr noch! Indem „sie es nicht für gut fanden, Gott in Erkenntnis zu haben„, und dem schlimmsten Götzendienst frönten, haben sie sich den schändlichsten Leidenschaften hingegeben und Dinge getrieben, die zu abscheulich sind, um sie nur zu nennen. Dabei sind sie sich des Bösen ihrer Handlungen wohl bewußt gewesen. Ihr Gewissen hat es ihnen bezeugt, sie haben „Gottes gerechtes Urteil erkannt, daß, die solches tun, des Todes würdig sind“, aber anstatt sich mit Abscheu von jenen Scheußlichkeiten abzuwenden, haben sie sie nicht nur selbst ausgeübt, sondern auch Wohlgefallen an denen gehabt, die sie trieben. (Römer 1,32).
So sind denn die Heiden ausnahmslos „ohne Entschuldigung„ (Römer 1,20) und sind, wenn auch ihre Schuld nur fünfzig Denare (Lukas 7,41) betragen mag, den fünfhundert oder fünftausend der Juden und Namenchristen gegenüber, doch auf gerechter Grundlage dem Gericht Gottes verfallen. „Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes.“ (Römer 3,19; Römer 3,22-23). Nicht einer von ihnen wird dereinst ein Wort zu sagen haben gegen das Urteil Gottes; sie alle werden es als gerecht und in jeder Beziehung verdient anerkennen müssen. Ja, mehr als das, jeder wird gezwungen sein, zu bezeugen, daß Gott sich in den Jahren seines Erdenlebens vielfach an ihm bezeugt und ihn „mit vieler Langmut ertragen hat„.
Wenn man nun fragt: „Kann der gerechte Gott solche Menschen, die nie sein Evangelium gehört haben, nichts von demselben wußten, verdammen, weil sie es nicht angenommen haben!?“ — und dann hinzufügt: „Wir sind nicht so fanatisch, dies glauben zu können„, so lautet die einfache Antwort: Wir auch nicht. Gott verlangt auch gar nicht von uns, daß wir etwas so Sinnloses glauben sollen. Nein, Gott richtet die Heiden nicht deshalb, weil sie nicht geglaubt haben — er selbst läßt uns ja sagen, daß sie das nicht können — sondern weil sie „die Wahrheit Gottes in die Lüge verkehrt“ und Sünde auf Sünde gehäuft haben.
„Aber„, wendet man hier wieder ein, „wo steht denn geschrieben, daß für alle Menschen mit dem leiblichen Tode die Gnadenzeit aufhöre?“ Ja, man behauptet sogar, daß Gottes Gerechtigkeit verlange, daß alle Menschen entweder in diesem Leben oder nach dem Tode vor die Frage gestellt werden müssen, ob sie sich für oder gegen Christum entscheiden wollen.
Wieder dieselbe vermessene Sprache, der wir schon einmal begegneten, derselbe Hochmut, der dem großen Gott seine Wege vorschreiben und ihn die Pfade des Rechts lehren will. Ist Gott denn dem Menschen überhaupt etwas schuldig? Ist es nicht unumschränkte, bedingungslose Gnade, wenn er dem kraftlosen und feindlichen Menschen entgegenkommt, um ihn zu erretten? Bedingt nicht der Begriff „Gnade„ an und für sich schon Handlungen oder Zuwendungen, auf die der empfangende Teil keinerlei Ansprüche hat? Und wenn man nun eine Schriftstelle dafür fordert, daß wirklich für alle Menschen mit dem leiblichen Tode die Gnadenzeit aufhöre, so braucht man nur an die eine Stelle zu erinnern, in welcher mit Ausschluß jeder Zweideutigkeit gesagt ist, daß „den Menschen (ganz allgemein, ohne Ausnahme) gesetzt ist, einmal zu sterben (daß hier von dem leiblichen Tode geredet wird, dürfte wohl niemand bestreiten), danach aber das Gericht“. (Hebräer 9,27). Schon diese eine Stelle genügt für ein dem Worte Gottes unterwürfiges Herz zur Entscheidung der Frage, ganz abgesehen von den zahlreichen Stellen, die das Heute der Gnade, die dem Menschen in seinem Leibesleben gegebene Gnadenzeit, als die einzige Gelegenheit bezeichnen, in welcher er Heil und Frieden finden kann. Nach diesem Leben gibt es für alle, die in ihren Sünden gestorben sind, nur Gericht. Sicher wird es, um dies nochmals zu betonen, den Bewohnern von Sodom und Gomorra, Tyrus und Sidon „erträglicher ergehen„ als denen, die die Heilsbotschaft gehört und bewußt ausgeschlagen haben; aber was alle ausnahmslos erwartet, ist „der Tag des Gerichts“. (Matthäus 11,20-24). „Gott hat einen Tag gesetzt, an welchem er den Erdkreis (nicht nur Israel und die christlichen Völker, sondern die ganze bewohnte Erde) richten wird in Gerechtigkeit„. Darum „gebietet er setzt den Menschen, daß sie alle allenthalben Buße tun sollen“. (Apostelgeschichte 17,30; Apostelgeschichte 17,31).
Ich gehe hier nicht noch einmal auf die immer wieder angeführte Stelle 4 Petrus 3,19-20 ein. Es ist schon so oft und unwiderleglich gezeigt worden, daß die Erklärung, unser Herr und Heiland habe den abgeschiedenen Geistern während der Zeit seines Weilens im Hades gepredigt, völlig unhaltbar ist, daß es sich wohl erübrigt, noch einmal darauf zurückzukommen. „Warum sollte auch gerade jenen „Ungehorsamen„ die frohe Botschaft noch einmal verkündigt worden sein? Warum nur ihnen? (Denn um andere abgeschiedene Seelen handelt es sich an dieser Stelle nicht.) Hätten die übrigen Toten, die während ihres Lebens keine Gelegenheit hatten, die Botschaft Gottes zu hören, dann nicht viel eher Anspruch auf diese gnädige Ausnahme gehabt?“
Die Berufung auf 1 Petrus 4,6: „Denn dazu ist auch den Toten gute Botschaft verkündigt worden, auf daß sie gerichtet werden möchten dem Menschen gemäß nach dem Fleische, aber leben möchten Gott gemäß nach dem Geiste„, als beweise diese Stelle die Behauptung, der Herr Jesus habe den abgeschiedenen Geistern gepredigt, ist ebenfalls hinfällig. Der Apostel redet hier davon, daß der Herr „bereit sei, Lebendige und Tote zu richten“, d. h. also alle, die bei der Ausübung dieses Gerichts leben oder bereits gestorben sind. Das Gericht der Lebendigen war den Juden (denn an solche schreibt Petrus) wohlbekannt, aber die Wahrheit, daß auch alle die längst Verstorbenen, „alle, die in den Gräbern sind„, wieder hervorkommen müssen, um gerichtet zu werden, war ihnen weniger geläufig. Das Gericht der „Lebendigen“ wird, wie uns aus anderen Stellen bekannt ist, stattfinden, wenn Jesus „in seinem Reiche kommt„, das Gericht der „Toten“ nach Beendigung des Tausendjährigen Reiches, unmittelbar vor dem Augenblick, „wenn er das Reich dem Gott und Vater übergibt„, (1 Korinther 15,24; Matthäus 25,31-46; Offenbarung 20,11-15). Von dem Sündenfall an bis zum Kommen des Sohnes Gottes auf diese Erde hat es, wenn auch nicht in der Klarheit wie heute, ein Evangelium, eine Gnadenbotschaft gegeben (es wird deshalb auch in Offenbarung 14,6 „das ewige Evangelium“ genannt), und der Glaube hat es erfaßt, obwohl es, wie schon angedeutet, in seiner ganzen Fülle erst nach dem Tode und der Verherrlichung Christi gepredigt und ausgenommen werden konnte.
Der Sinn der Stelle ist also sehr einfach. Der Apostel denkt gar nicht an die „Geister„, von denen er in 1 Petrus 3,19-20 redet und die doch nur einen verhältnismäßig kleinen Teil der Verstorbenen ausmachen, sondern an die „Toten“, und zwar an alle Toten; auch gebraucht er an den beiden Stellen ganz verschiedene Wörter: im 3. Kapitel heißt es einfach „predigen„, denn die Botschaft Noahs, des „Predigers der Gerechtigkeit“, war kein eigentliches Evangelium, sondern eine ernste Ankündigung des Gerichts; im 4. Kapitel dagegen finden wir das Wort „evangelisieren„, d. i. gute Botschaft verkündigen. Und wenn man gar diese Stelle anführen will, um eine gegenwärtige oder noch zukünftige Predigt des Evangeliums an die Toten zu beweisen, so ist es erst recht nichts damit. Petrus sagt nicht: „wird gepredigt“, oder: „wird gepredigt werden„, sondern: „ist gepredigt worden“. Das, wovon er redet, liegt also in der Vergangenheit, ist geschehen, und zwar wiederum zu dem Zweck geschehen, „damit sie (die die Predigt gehört haben) ohne Entschuldigung seien„.
Ganz Israel
Aber — o wann werden die Einwendungen des Menschen verstummen!? — aber, sagt man, es steht doch geschrieben, daß „ganz Israel errettet werden solle“! (Römer 11,26). Und: „Gott will nicht, daß irgendwelche verloren gehen, sondern daß alle zur Buße kommen„. (2 Petrus 3,9; vergl. 1 Timotheus 2,4). Das erste Wort spricht derselbe Apostel aus, der einige Kapitel vorher sagt, daß nur ein Überrest aus Israel errettet werden wird. (Römer 9,27). Wenn er also von ganz Israel spricht, so kann er schon aus diesem Grunde nicht alle Juden meinen, die je gelebt haben und noch leben werden. Er schildert im 44. Kapitel des Römerbriefes, wie schon früher bemerkt, die Wege Gottes mit dem Volke Israel und den Nationen, wie die Fettigkeit des Ölbaumes zuerst den natürlichen Zweigen, Israel, zugute gekommen, dann den Heiden zugewandt worden ist, die infolge des Unglaubens Israels in den Ölbaum eingepfropft wurden, dann aber aus demselben Grunde auch wieder ausgehauen werden sollen, um von neuem Israel Platz zu machen.
„Denn ich will nicht, Brüder, daß euch dieses Geheimnis unbekannt sei. . . : daß Verstockung Israel zum Teil widerfahren ist, bis daß die Vollzahl der Nationen eingegangen sein wird; und also wird ganz Israel errettet werden. . . . Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar“. (Römer 11,25-29). Wenn also Gott am Ende der Tage, wie die Propheten des Alten Bundes es wieder und wieder bezeugen, seinem irdischen Volke sich wieder in Gnaden zuwenden, und der Überrest des Volkes (die große, ungläubige Masse kommt in den vorhergehenden unvergleichlichen Gerichten um) den aus Zion kommenden Erlöser in Buße und Glauben annehmen wird, dann, „an jenem Tage„, wird das ganze noch lebende Volk errettet werden. „Und es wird geschehen, wer in Zion übriggeblieben und wer in Jerusalem übriggelassen ist, wird heilig heißen, ein jeder, der zum Leben eingeschrieben ist in Jerusalem.“ (Jesaja 4,3). Alle übrigen werden „durch den Geist des Gerichts und durch den Geist des Vertilgens weggefegt„ werden. „Und sie (diese Übriggebliebenen) werden nicht mehr ein jeder seinen Nächsten und ein jeder seinen Bruder lehren und sprechen: Erkennet Jehova! denn sie alle werden mich erkennen von ihrem Kleinsten bis zu ihrem Größten, spricht Jehova.“ (Jeremia 31,34).
Nicht ein Israelit wird ins Tausendjährige Reich eingehen, der nicht errettet wäre. „Sie alle werden Gerechte sein, werden das Land besitzen auf ewig„, denn Gott wird „sie reinigen von all ihrer Ungerechtigkeit und alle ihre Missetaten vergeben“. (Jesaja 60,21; Jeremia 33,8). „Man wird nicht übeltun noch verderbt handeln auf meinem ganzen heiligen Gebirge.„ (Jesaja 11,9).
Auf den zweiten Einwurf, daß Gott nicht will, daß irgendwelche verloren gehen, sondern daß alle zur Buße kommen, möchten wir an dieser Stelle nur noch einmal erwidern: Es ist sicher nicht der Gnadenwille Gottes, daß ein Mensch verloren gehe. Aber wenn der Mensch „den Reichtum seiner Gütigkeit und Geduld und Langmut verachtet“ und sich „durch die Güte Gottes nicht zur Buße leiten läßt„, wie wäre es dann anders möglich, als daß er „nach seiner Störrigkeit und seinem unbußfertigen Herzen sich selbst Zorn aufhäuft“, einen Zorn, der „am Tage des Zornes und des gerechten Gerichts Gottes„ ihn treffen und „einem jeden vergelten wird nach seinen Werken“? (Römer 2,4-6).
Gott will wahrlich nicht den Tod des Sünders, er will vielmehr, daß er sich bekehre und lebe; wenn aber der Mensch sein Herz verhärtet, seinen Sinn verstockt und, gleich den Pharisäern und Gesetzgelehrten zur Zeit des Herrn Jesus, „den Ratschluß Gottes in Bezug auf sich selbst wirkungslos macht„, was dann?
Das Lösegeld für alle
Im Anschluß an das Gesagte sei noch auf einige andere Stellen hingewiesen, die von den Vertretern der Allversöhnungslehre gern angeführt werden, weil sie in ihnen eine Grundlage für ihre Behauptungen zu finden meinen. Meinen sage ich, denn wir werden bald sehen, wie gerade das Gegenteil der Fall ist.
In Verbindung mit dem wiederholt angeführten Wort, daß Gott „will, daß alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“, schreibt der Apostel Paulus an Timotheus: „Denn Gott ist einer, und einer Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gab zum Lösegeld für alle„. (1 Timotheus 2,5; 1 Timotheus 2,6). Wie man aus dem ersten Worte folgert: Wenn Gott will, daß alle Menschen errettet werden, so muß dieser Wille zu irgend einer Zeit und auf irgend eine Weise zur Ausführung kommen — so zieht man aus dem zweiten die Folgerung: Wenn für alle Menschen das Lösegeld bezahlt worden ist, so muß es einmal auch allen Menschen, früher oder später, zugute kommen. Beachte es, mein Leser! „Zu irgend einer Zeit“ — „früher oder später„! Wie ist es aber dann mit den Jahrhunderten oder Jahrtausenden, die bis zu diesem Zeitpunkt verfließen? Ah, sagen die Wiederbringer, wenn auch nicht gerade mit diesen Worten, aber in Wirklichkeit, bis dahin nimmt Gott mit einer Teilzahlung vorlieb, die der im Unglauben gestorbene Mensch durch seine Leiden im Hades oder später in der Hölle leistet. Nachher, früher oder später, je nach dem Einzelfall, entnimmt dann Gott das noch Fehlende dem Lösegelde seines geliebten Sohnes.
Aber, wirft der Leser vielleicht ein, so etwas Sinnloses wird ein verständiger Mensch, der nur ein wenig die Heiligkeit Gottes kennt, doch nicht behaupten! Ich sagte schon: vielleicht nicht gerade mit den nackten Worten, aber in Wirklichkeit. Denn wenn es „den Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht“, und wenn der Herr selbst, den Schleier zurückziehend, uns schon im Hades den einen Verstorbenen in Ruhe und Seligkeit, den anderen „in Qualen„ zeigt, wenn wir endlich „die Geister der vollendeten Gerechten“ im Himmel, bei Jesu, erblicken, während die anderen ihr Teil „im Gefängnis„ haben (Hebräer 9,27; Hebräer 12,23; Hebräer 12,24; Lukas 16,23; 1 Petrus 3,19) so bleibt gar kein anderer Schluß übrig. Sollen diese dem Gericht Anheimgefallenen alle oder doch teilweise, „früher oder später“, noch der Vergebung und Errettung teilhaftig werden, so muß der gerechte Gott ihnen ihre Leiden als sühnend anrechnen. Tatsächlich reden denn auch die „Wiederbringer„ von einem Läuterungsprozeß der Bösen im Hades oder in der Hölle, ähnlich so, sagen sie, wie in der Glut des Hochofens das Metall von den unedlen Stoffen geschieden wird. Das so gebrauchte Bild ist allerdings auch wieder sinnlos, denn wenn nur unedle Stoffe vorhanden sind, was soll dann von ihnen geschieden werden?
Aber was will denn unsere Stelle sagen? Der Apostel ermahnt im ersten Verse von 1 Timotheus 2 zur Fürbitte „für alle Menschen, für Könige und alle, die in Hoheit sind“. Diese Ermahnung steht in Übereinstimmung mit dem Charakter oder besondern Namen, der Gott in den Timotheusbriefen beigelegt wird. (Vergl. auch Titus 1,3). Der Apostel nennt ihn immer wieder den „Heiland-Gott„, der sich als solcher jetzt in Christo geoffenbart hat, und dessen Gnadenwege alle Menschen, Juden und Heiden, unterschiedslos zum Gegenstand haben. Während Gott im Alten Bunde sich als Gesetzgeber und deshalb als der eifernde Gott geoffenbart hat, ist jetzt, nachdem des Menschen Verderben und völlige Ohnmacht erwiesen sind, seine unumschränkte Barmherzigkeit der Ausgangspunkt seiner Wege geworden. Der Mensch, unrein und gefallen, wie er ist, hätte dem heiligen Gott nie nahen können; sollte eine Verbindung zwischen Gott und Mensch herbeigeführt werden, so mußte Gott zu dem Menschen herabsteigen und ein Lösegeld zahlen, das groß und reich genug war für alle. Es mußte ein „Mittler“ zwischen die beiden Parteien, Gott und Menschen, treten, und dieser Mittler mußte ein wahrhaftiger Mensch sein, denn nur ein Mensch konnte für den Menschen in den Riß treten, nur ein Mensch für den armen, gefallenen Menschen zur Sünde gemacht werden. Und wiederum konnte nur eine göttliche Person das große Werk unternehmen; denn wo war ein Geschöpf, das die Befriedigung der gerechten Ansprüche Gottes, ja, seine Verherrlichung im Blick auf die Sünde, mit der ewigen Erlösung des Menschen hätte verbinden können?
„Gott ist einer, und einer Mittler zwischen Gott und Menschen„, und dieser eine herrliche Mittler ist „der Mensch Christus Jesus“, geboren von einem Weibe, Christus, der Gesalbte, der Sohn Davids, und zugleich Jesus von Nazareth, d. i. der in Knechtsgestalt erschienene Jehova-Heiland, der Gott seines Volkes Israel, „der Sohn des Höchsten„. (Lukas 1,31-33; Matthäus 1,21). Er ist gekommen, um die ganze Fülle des Erbarmens Gottes einer verlorenen Welt gegenüber kundzumachen. Er selbst hat gesagt: „Ich bin nicht gekommen, auf daß ich die Welt richte, sondern auf daß ich die Welt errette“. (Johannes 12,47; vergl. Kap. Johannes 3,17; Johannes 6,33; Johannes 6,51). Ja, Gott war in Christo in der Absicht, die Welt mit sich selbst zu versöhnen. (2 Korinther 5,19).
Sein heiliger Name sei gepriesen für solche und ähnliche kostbare Stellen! Sie geben dem Evangelisten Freiheit und Freudigkeit, in die ganze Welt hinauszugehen und allen Menschen ohne Ausnahme und Unterschied zuzurufen:
Komme drum, wer kommen kann,
Elend, sündig, fluchbeladen!
Jesus nimmt die Sünder an,
Alle, alle sind geladen.
Um sie alle laden und annehmen zu können, mußte, wie gesagt, der Heiland der Sünder in den Tod gehen, mußte den Sold der Sünde tragen. Ein kleineres Lösegeld konnte uns von unseren Verpflichtungen nicht lösen, vom Gericht uns nicht befreien, ein geringeres uns nicht loskaufen aus Satans Macht und Sündensklaverei.
Das Lösegeld ist also für alle da. Wenn wir nun aber fragen: Wird diese Lösung allen Menschen tatsächlich zuteil? so lautet die Antwort: Nein, nicht allen, sondern nur denen, die kommen und von ihm Gebrauch machen. In demselben 12. Kapitel des Evangeliums Johannes, aus dem wir schon eine Stelle anführten, und das uns auch den Ausspruch des Herrn mitteilt: „Und ich, wenn ich von der Erde erhöht bin (d. h. ans Kreuz), werde alle zu mir ziehen„ (wieder dasselbe schöne und liebliche Wort: alle), wird uns gesagt, daß jeder, der das Wort des Herrn nicht annimmt, durch dasselbe gerichtet wird an dem letzten Tage, und von der Welt, die zu erretten der Herr gekommen ist, heißt es: „Jetzt ist das Gericht dieser Welt“. (Johannes 12,31; Johannes 12,48). So ist heute schon das Gericht über die Welt, die den Herrn verworfen hat, ausgesprochen, und für alle Ungehorsamen und im Unglauben Sterbenden bleibt nur Gericht übrig.
Noch einmal denn: Für alle Menschen, Juden und Heiden, Könige und Bettler, Hohe und Niedrige, ist das Lösegeld da, allen wird es frei und umsonst angeboten, überall das Zeugnis davon verkündigt; aber der einzige Begegnungspunkt zwischen Gott und dem schuldigen Sünder ist das Kreuz. Alle dahin zu ziehen, ist der Herr bemüht. Aber heute, wie damals, muß er den Menschen sagen: „Ihr wollt nicht zu mir kommen, auf daß ihr Leben habet„. In höflicher oder grober Form lehnen sie die Einladung ab. (Johannes 5,40).
Die Griechen, die an jenem letzten Passahfest nach Jerusalem hinaufgezogen waren, um anzubeten, wünschten Jesum zu sehen (Johannes 12,20; Johannes 12,21), aber sie hatten als Heiden kein Anrecht an Ihn. Erst wenn der Sohn des Menschen verherrlicht sein würde, und das konnte nur auf dem Wege des Todes und der Auferstehung geschehen (Johannes 12,23; Johannes 12,24), würde sich auch für sie eine Gnaden- und Hoffnungstür auftun. „Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und stirbt. . ., bringt es viel Frucht.“ Alle, auch die ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt stehenden Heiden, sollten zu Jesu gezogen werden. „Denn es ist kein Unterschied zwischen Jude und Grieche, denn derselbe Herr von allen ist reich für alle, die ihn anrufen.„ (Römer 10,12).
„Zum Lösegeld für alle.“ In Matthäus 20,28 und Markus 10,45 hören wir den Herrn sagen: „Der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele„. Woher der Unterschied? Beide Aussprüche sind selbstverständlich göttlich wahr, und doch scheinen sie einander zu widersprechen. „Scheinen“ möchte ich wieder betonen, in Wirklichkeit ist es keineswegs der Fall. Während in dem einen Falle (1 Timotheus 2,6) der einfache Tatbestand mitgeteilt wird, daß ein Lösegeld für alle Menschen da ist und unterschiedslos von ihnen benutzt werden kann, handelt es sich in dem anderen um die Menschen, die dieses Lösegeld tatsächlich im Glauben annehmen; darum heißt es hier nicht alle, sondern nur viele. Und wenn man die Stellen im Grundtext miteinander vergleicht, so entdeckt man, daß das im Deutschen in beiden Fällen mit „für„ übersetzte Vor- oder Verhältniswort im Griechischen ganz verschieden ist. Während es in 1 Timotheus 2 den Sinn von „zum Schutze oder zum Vorteil von“ hat, bedeutet es in dem Ausspruch des Herrn „an Stelle von„. Stellvertretung kommt aber nur in Frage bei denen, die durch den Glauben an Jesum errettet werden. Nur von ihnen kann gesagt werden, daß der Herr an ihrer Stelle im Gericht gestanden hat, daß es also für sie kein Gericht, keine Verdammnis mehr gibt. Über alle anderen muß notwendigerweise das ewige Gericht Gottes kommen.
Die Sühnung für die ganze Welt
Demselben Gedanken begegnen wir in 1. Johannes 2,2, einer Stelle, die auch oft zu Gunsten der Allversöhnungslehre angeführt wird. Wir lesen dort: „Und er (Jesus Christus) ist die Sühnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die ganze Welt“. Das hier im Griechischen gebrauchte Verhältniswort hat den Sinn von „wegen, in Betreff von„. Das durch unseren großen Erretter vollbrachte Erlösungswerk hat also nicht nur Bezug auf „unsere Sünden“, d. h. auf die Sünden aller Glaubenden, sondern auch auf „die ganze Welt„ (nicht: auf die Sünden der ganzen Welt), d. h. es ist da für alle ohne Unterschied, indem Gott durch diese Sühnung vollkommen verherrlicht worden ist und nun jedem, der da will, ihren Wert zuwenden kann. Das Blut des Lammes Gottes ist für alle geflossen. Will man den Ausdruck „die ganze Welt“ auf die Schöpfung beziehen, was aber dem Zusammenhang der Stelle kaum entsprechen dürfte, so wissen wir, daß die Schöpfung, unverantwortlich wie sie als solche ist, einmal an den gesegneten Folgen des Erlösungswerkes teilhaben wird. (Römer 8,20; Römer 8,21).
Unwillkürlich werden wir durch die eben behandelte Stelle an eine andere, ähnliche erinnert. Johannes der Täufer sagt bei dem Anblick des Herrn, dessen Vorläufer er war: „Siehe, das Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt wegnimmt„. (Johannes 1,29). Hat dann also doch das Sühnungswerk des Herrn Bezug auf die Sünden der ganzen Welt, was soeben bestritten wurde? Sehen wir zu.
Zunächst ist zu beachten, daß an dieser Stelle nicht nur der bedeutsame Gegensatz fehlt zwischen: „die ganze Welt“ und „unsere Sünden„, sondern daß auch das Wort „Sünde“ in der Einzahl steht. Es handelt sich hier also nicht etwa um die Sünden und Vergehungen all der Menschen, welche die Welt ausmachen, sondern um die Sünde als solche, die durch die Schuld des Hauptes des Menschengeschlechts in die Welt gekommen ist (Römer 5,12) und nun wie eine undurchdringliche Wand oder eine unübersteigliche Kluft zwischen Gott und der Welt steht. Welche Beziehung könnte es geben zwischen einem heiligen Gott und einer sündigen Welt? Nur die eines gerechten Richters zu seinen gefallenen, unreinen Geschöpfen, wenn nicht das Erbarmen Gottes einen Weg gefunden hätte, auf welchem jene Wand oder Kluft auf gerechter Grundlage beseitigt werden konnte. Dieser Weg wird uns in Hebräer 9,26 mit den herrlichen Worten beschrieben: „Jetzt aber ist er (Christus) einmal in der Vollendung der Zeitalter geoffenbart worden zur Abschaffung der Sünde durch sein Opfer„. Ein Mensch, der erste Adam, hat die Sünde in die Welt eingeführt, und ein Mensch, der letzte Adam, der Sohn Gottes, ist „in der Fülle der Zeit“ (Galater 4,4) erschienen, um sie wieder „abzuschaffen„. Dazu bedurfte es seines Opfers.
„Siehe, das Lamm Gottes“, das eine, einzige, vor Grundlegung der Welt zuvorbestimmte Lamm, dessen Blut allein imstande war, die Sünde zu sühnen! Dieses Lamm hat das große Werk vollbracht.
Indes ist es von Belang, daß an beiden Stellen nicht gesagt wird, daß die Sünde schon weggenommen oder abgeschafft ist. Das Werk dafür ist vollbracht, die Grundlage zur Abschaffung der Sünde ist gelegt, aber erst in der neuen Schöpfung, in dem neuen Himmel und auf der neuen Erde, „in welchen Gerechtigkeit wohnt„, (2 Petrus 3,13) wird die Sünde tatsächlich weggenommen sein, um nie wieder gesehen zu werden. Das Wort Gottes ist überaus genau, kann ja nicht anders als genau sein; wenn wir es nur immer genau lesen wollten!
„Siehe, das Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt wegnimmt.“ Mit diesen Worten wird uns die einfache, abstrakte Wahrheit vorgestellt, daß es jemand gibt, der das tut — wie und wann es geschieht, wird nicht gesagt. Es heißt nicht: „wegnehmen wird„, oder in prophetischer Sprache: „weggenommen hat“, sondern „wegnimmt„. Für den Gläubigen ist die große Sache schon zur Wirklichkeit geworden, indem nicht nur alle seine Sünden getilgt sind, sondern auch die Sünde, sein Zustand als Kind des gefallenen Adam, in Christo gerichtet, und er selbst der Sünde gestorben und, von ihrer Herrschaft auf ewig befreit, in Christo zu einer neuen Schöpfung geworden ist, in welcher „das Alte vergangen und alles neu geworden ist“. (2 Korinther 5,17). Für den Glauben ist in diesem Sinne die Sünde schon abgeschafft. Vor Gottes Auge steht nicht mehr die Sünde, sondern das Blut des Lammes. Daß in anderem Sinne die Sünde noch da ist und immer wieder Gewalt über uns gewinnen will, ist uns allen in schmerzlichster Weise bewußt, und deshalb sehnen wir uns so sehr nach der „Erlösung unseres Leibes„. Wenn es anders wäre, bedürften wir nicht der Aufforderung: „Haltet euch der Sünde für tot“, oder: „Tötet nun eure Glieder, die auf der Erde sind„, noch der vielen ernsten Ermahnungen zur Wachsamkeit und zum Gebet.
In dem tausendjährigen Friedensreiche Christi auf Erden wird sich ein weiteres Ergebnis seines Werkes zeigen. Dann wird die ganze Schöpfung „von der Knechtschaft des Verderbnisses freigemacht“ werden, Israel, und mit ihm alle Völker der Erde, wird die Folgen jenes Werkes in einer Weise genießen wie nie zuvor. Aber, wie schon gesagt, erst der neue Himmel und die neue Erde — und zwar nicht in dem bedingten Sinne der alttestamentlichen Prophezeiungen, sondern in der vollen Bedeutung, welche die neutestamentlichen Schreiber den Worten beilegen — werden die endgültigen Ergebnisse des Werkes Christi zur Darstellung bringen. Dann erst wird es sich zeigen, wie wahrhaftig Jesus das Lamm Gottes war, das die Sünde der Welt wegnimmt, indem die Sünde mit allen ihren Folgen völlig und für ewig hinweggetan ist. Nicht Unschuld oder Sündlosigkeit wird die neue Schöpfung kennzeichnen, wie einst die alte vor dem Sündenfall, auch nicht Gnadenhandlungen Gottes in Christo, wie wir sie heute kennen, sondern Gerechtigkeit wird dann die Grundlage der Beziehung Gottes zu der Welt bilden. Diese Tatsache zeigt uns aber auch wieder deutlich, daß nur solche Menschen an dein ewigen Segenszustand teilhaben können, die aus Gnaden der Gerechtigkeit Gottes teilhaftig geworden sind.
Bei dieser Gelegenheit sei noch eine Frage kurz berührt, die manchen Seelen Schwierigkeit macht. Es ist diese: Wie steht es mit den kleinen Kindern, die als solche sterben, also ehe sie das Alter der Verantwortlichkeit erreicht haben? Ihre Zahl ist bekanntlich überaus groß. Die Beantwortung der Frage, wann ein Kind jenes Alter erreicht, steht uns wohl nicht zu; sie hängt zweifellos viel von der Eigenart der Kinder und den ihrer Entwicklung bedingenden Umständen ab. Aber wir dürfen sie auch getrost der Weisheit und Liebe unseres Gottes und Vaters überlassen, in der gewissen Überzeugung, daß seine Gnade alle unsere Erwartungen weit übertreffen wird. Anderseits aber sollte uns diese Erwägung nicht sorglos im Blick auf unsere Kinder machen.
Was nun diese „Kleinen„ betrifft, so sagt uns der Herr Jesus selbst: „Ich sage euch, daß ihre Engel in den Himmeln allezeit das Angesicht meines Vaters schauen, der in den Himmeln ist. Denn der Sohn des Menschen ist gekommen, das Verlorene zu erretten“. Und: „Es ist nicht der Wille eures Vaters, der in den Himmeln ist, daß eines dieser Kleinen verloren gehe„. (Matthäus 18,10; Matthäus 18,11; Matthäus 18,14). Es ist unmöglich, diese Kleinen zu suchen — sie sind sich ihrer Verirrung noch gar nicht bewußt — aber weil sie infolge ihrer sündigen Natur verloren sind, müssen sie errettet werden. Mit anderen Worten: Das sühnende Werk Christi, das kostbare Blut des Lammes, muß ihnen, wenn auch unbewußt, zugerechnet werden; und Gott tut dies in seiner unumschränkten Gnade, auf Grund der Tatsache, daß der Sohn des Menschen gekommen ist, „das Verlorene zu erretten“.
So dürfen wir denn mit rückhaltloser Freude daran denken, daß wir dereinst in der Herrlichkeit des Himmels unzählige Scharen dieser „Kleinen„ finden werden, die dem Herrn mit uns als „Frucht der Mühsal seiner Seele“ aus allen Völkern der Erde vom Vater geschenkt sind. Wir dürfen sicher sein, daß die Reichtümer der errettenden Gnade Gottes alle unsere Vorstellungen weit hinter sich zurücklassen und unsere Herzen immer wieder mit Jubel und Frohlocken erfüllen werden.
Das wahrhaftige Licht, das jeden Menschen erleuchtet
Aus der bekannten Stelle: „Das war das wahrhaftige Licht, welches, in die Welt kommend, jeden Menschen erleuchtet„ (Johannes 1,9)1), zieht man den Schluß, daß alle Menschen erst erleuchtet werden müssen, ehe sie verloren gehen können; mit anderen Worten: Gott ist auf Grund dieses Wortes schuldig (!), jeden Menschen durch die Predigt von Christo zu erleuchten, und er verdammt niemand, es sei ihm denn vorher die Gnade angeboten und von ihm verschmäht und abgelehnt worden. Diese Behauptung hat eigentlich schon bei der Behandlung der Frage, ob der Mensch deshalb verloren gehe, weil er nicht glaubt, ihre Beantwortung gefunden; da die Stelle aber dem einen oder anderen Leser Schwierigkeiten bereiten könnte, sei sie noch kurz besprochen.
Johannes sagt im Anschluß an die ergreifenden Eingangsworte seines Evangeliums: „Im Anfang war das Wort“: „In ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfaßt„. (Johannes 1,4 & Johannes 1,5).
Wunderbare Tatsache! Auf dem Schauplatz des Todes ist der erschienen, in welchem „Leben war“. Von niemand anders, nicht von Adam vor dem Sündenfalle, selbst nicht von dem Gläubigen der Gegenwart, dem „Menschen in Christo„, kann das gesagt werden. Adam war eine lebendige Seele, und der Gläubige hat Leben, „Leben im Sohne“; aber in Christo, dem ewigen Wort, „war Leben„. Und dieses Leben war das Licht der Menschen, und das Licht scheint (nicht „schien“) in der Finsternis. Es ist die Natur, die dem Licht stets eigen ist. Wohl hatte Gott sich früher schon auf mancherlei Weise kundgetan, die Menschen besucht, hatte durch die Propheten zu den Vätern geredet, aber er hatte stets im Dunkel, hinter dem Vorhang, gewohnt. Erst als „das Wort„, „das Licht der Menschen“, in dieser Welt erschien, trat er aus dem Dunkel hervor. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.„ (Johannes 1,14). Aber was fand dieses Licht? Nur hoffnungslose, undurchdringliche Finsternis! Jede andere Finsternis weicht vor dem Licht; aber hier müssen wir hören: „und die Finsternis hat es nicht erfaßt“. Dieses in Christo kommende Licht war das Licht der Menschen, passend für sie, dazu bestimmt, „jeden Menschen zu erleuchten„; aber die Antwort des Menschen war Haß und bittere Feindschaft. Er hat „die Finsternis mehr geliebt als das Licht“, ja, er „haßt das Licht„. Darum kann das Ergebnis wiederum nur „Gericht“ sein. (Vergl. Johannes 3,19 & Johannes 3,20). Allen zugute ist das Licht in die Welt gekommen, darum sind auch alle ausnahmslos „ohne Entschuldigung„. Anstatt also aus unserer Stelle eine „Verpflichtung“ (!) herauszulesen, die Gott dem die Sünde und die Finsternis liebenden Menschen gegenüber hätte, finden wir im Gegenteil von neuem die Bestätigung, daß Gott nur gerecht ist, wenn er richtet.
Gottes würdig und dem Menschen jede Entschuldigung nehmend ist auch die Weise, in welcher das Licht dem Menschen dargestellt worden ist. Zur Ankündigung des gewaltigen Geschehnisses wurde ein Mensch von Gott gesandt, Johannes der Täufer, der größte der Propheten und der einzige (abgesehen von dem Herrn Jesus selbst), von welchem die Schriften des Alten Testamentes geredet haben. (Vergleiche Matthäus 11,10, Matthäus 11,11; Lukas 1,56). „Dieser kam zum Zeugnis, auf daß er zeugte von dem Lichte, damit alle durch ihn glaubten.„ (Johannes 1,7). Denn so groß Johannes war, was ist er Christo gegenüber? Damit niemand sich versucht fühle, einen Vergleich zwischen ihm und dem Herrn zu ziehen, fügt der Heilige Geist sofort die Worte hinzu: „er war nicht das Licht, sondern auf daß er zeugte von dem Lichte“. (Johannes 1,8). Johannes war größer als alle, die bis dahin von Weibern geboren worden waren, weil er dem Herrn vorangehen und unmittelbar auf das wahrhaftige Licht Hinweisen durfte; aber er war doch nur ein „Mensch„, eine „brennende und scheinende Lampe“ (Johannes 5,35), von Gott angezündet, um in der Finsternis zu leuchten, ein Lichtträger, aber nicht mehr als das.
„Er war nicht das Licht. . . Das war das wahrhaftige Licht, welches, in die Welt kommend, jeden Menschen erleuchtet.„ Nicht nur daß Christus, weil er Gott ist, zu jedem Menschen in Beziehung steht, nein, in seinem Kommen, in seiner Menschwerdung hat Gott sich den Menschen als solchen, allen Menschen, geoffenbart, läßt sein untrügliches Licht auf alle scheinen. Das Gesetz hatte sich nur mit einem Volke und nur für eine Zeit und zu besonderen, beschränkten Zwecken beschäftigt; das wahrhaftige Licht kam in die Welt, um allen Menschen zu leuchten. Ähnlich schreibt der Apostel Paulus an Titus: „Die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen“. (Titus 2,11). Wir wissen sehr wohl, daß nur denen das Heil in Wirklichkeit zuteil wird, die an Jesum glauben, geradeso wie zur Zeit des Herrn nur die Menschen wahrhaft erleuchtet wurden und von Ihm das Recht empfingen, Kinder Gottes zu werden, die ihn „aufnahmen„ (Johannes 1,12); aber die Gnadenabsicht Gottes umfaßt alle, sein Licht leuchtet für alle, seine Heilsbotschaft ergeht an alle. Wenn nicht alle die Segnung empfangen, so liegt es nicht an Gott, sondern an dem Unglauben und der Feindschaft des Menschen. Hören wir nur weiter:
„Er war in der Welt, und die Welt ward durch ihn, und die Welt kannte ihn nicht. Er kam in das seinige, und die seinigen nahmen ihn nicht an.“ (Johannes 1,10 & Johannes 1,11). Die Welt hätte sicherlich ihren Schöpfer kennen sollen, und noch mehr hätte Israel, sein besonderes Besitztum aus allen Völkern der Erde, die, zu denen er vor alters schon so oft geredet hatte, ihn annehmen sollen. Aber das Gegenteil war der Fall. Was blieb also für den Gott der Liebe, der seinen Sohn in die Welt gesandt hatte, um ihr das Leben zu geben, übrig? Nichts anderes als die „Gnadenwahl„. So begegnen wir immer wieder demselben, den Stolz des Menschen demütigenden, aber Gottes Gnade verherrlichenden Ergebnis: „So viele ihn aber aufnahmen“, d. h. so viele, durch den Vater gezogen (Johannes 6,44), zu Jesu kamen und an seinen Namen glaubten, „denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden„. Sie wurden auf dem Boden einer bedingungslosen Gnade in ein Segensverhältnis eingeführt, bei dessen Bildung der Mensch mit seiner Kraft und seinem Willen völlig ausgeschaltet ist und Gott allein die Ehre zukommt. „Welche nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.“ — „Wo ist denn der Ruhm? er ist ausgeschlossen worden.„ Warum? Damit alle Ehre dem zukomme, dem sie allein gebührt. „Auf daß, wie geschrieben steht: Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn.“ (Römer 3,27; 1 Korinther 1,31).
Damit wollen wir den Menschen und seine törichten Meinungen verlassen und uns dem interessanten, aber oft so wenig beachteten und verstandenen Kapitel zuwenden, in welchem der Apostel Paulus die Lehre von der „Wahl nach Gnade„ an Hand der Geschichte des Volkes Israel ausführlich entwickelt.
Der Vorsatz Gottes nach Auswahl
In den Kapiteln 9—11 des Römerbriefes behandelt der Apostel Paulus die Frage: Wie können die besonderen Verheißungen Gottes an Israel, sein auserwähltes Volk, in Einklang gebracht werden mit der unterschiedslosen Berufung von Heiden und Juden zu den neutestamentlichen Segnungen? Wenn Gott Juden und Heiden in sittlicher Beziehung auf einen Boden stellt und nun in der Macht seiner Liebe und dem Reichtum seiner Gnade alle Glaubenden errettet und „in Christo“ zur Sohnschaft bringt, was wird dann aus dem gebrochenen Gesetz? was aus den bedingungslosen Verheißungen, die er einst dem Stammvater Israels, Abraham, in 1 Mose 15,17 und 1 Mose 15,18 gegeben hat? Wie ist die Predigt der freien Gnade für alle Menschen, ob Jude oder Grieche, mit jenen Verheißungen vereinbar?
Ehe der Apostel auf die Beantwortung dieser Fragen eingeht, gibt er „seinen Verwandten nach dem Fleische„ einen ebenso rührenden wie ergreifenden Beweis von seiner durch nichts auszulöschenden Liebe zu Israel. Man warf ihm, dem Apostel der Nationen, vor, daß er ein Abtrünniger sei, der aus unedlen Beweggründen seine Beziehungen zu Israel abgebrochen habe und nun, Gottes Gedanken in Verbindung mit dem „Samen Abrahams“ vergessend, sein eigenes Fleisch und Blut verachte.
O wie wenig kannten die Menschen, die also dachten und redeten, das Herz dieses wunderbaren Mannes! Dieses Herz, das im Anschauen des Zustandes seines geliebten Volkes und der göttlichen Gerichte, die seines Unglaubens und seiner Halsstarrigkeit wegen über Israel gekommen waren, wie aus tausend Wunden blutete! Mit Ausdrücken, wie sie stärker nicht gedacht werden können: „Ich sage die Wahrheit in Christo, ich lüge nicht, indem mein Gewissen mit mir Zeugnis gibt in dem Heiligen Geiste„ — versichert er seine Volksgenossen seiner unveränderten glühenden Zuneigungen zu ihnen, und zwar nicht etwa aus der Zeit, da er noch als eifriger, gesetzestreuer Pharisäer in ihrer Mitte gelebt und gewirkt hatte, sondern aus den Tagen nach seiner Berufung zum Apostel Jesu Christi. Anstatt seine Brüder zu verachten oder gar zu hassen, hatte er, ähnlich wie Mose gelegentlich der Aufstellung des goldenen Kalbes Gott gebeten hatte, seinen Namen aus seinem Buche auszulöschen, gewünscht, für seine Brüder „durch einen Fluch von Christo entfernt zu sein“. „Die große Traurigkeit und der unaufhörliche Schmerz in seinem Herzen„ hatten ihn einmal so überwältigt, daß er einem Wunsche Ausdruck gegeben hatte, der gar nicht erfüllt werden konnte, dessen Erfüllung seinem Volke auch nichts hätte nützen können (genau wie bei Mose), der aber bewies, wie tief und innig er seine Verwandten nach dem Fleische liebte. Es war göttliche Liebe, die sich selbst aufopfernde Liebe Christi, die in ihm, wie einst in Mose, wirkte und beide Männer bereit machte, alles, selbst das Unmögliche, zu tun, um ihren Gegenständen zu dienen.
Dieselbe Liebe läßt den Apostel dann alles aufzählen, was er zum Vorteil seiner Volksgenossen sagen konnte. Wer andere haßt, benutzt jede Gelegenheit, um sie herabzusetzen und das Gute, das sie besitzen mögen, zu verkleinern; die Liebe tut das Gegenteil. Es würde uns indessen zu weit von unserem Gegenstand ablenken, so interessant es auch wäre, wenn wir uns mit den Vorrechten Israels, die Paulus hier aufzählt, eingehender beschäftigen wollten. Nennen wir sie deshalb nur kurz. Die „Brüder“ des Apostels waren Israeliten, also Nachkommen jenes Mannes, der mit Gott und Menschen gerungen und obgesiegt hatte, (1 Mose 32,28). Ihnen gehörte die Sohnschaft (selbstverständlich nicht in dem heutigen christlichen Sinne), denn: „Mein Sohn, mein erstgeborener, ist Israel„, und: ,Laß meinen Sohn ziehen!“ hatte Jehova dem Pharao entbieten lassen — ferner die Herrlichkeit (vergl. 2 Mose 29,43) und die Bündnisse und die Gesetzgebung (wo war ein Volk gleich ihm, das Gott „aus allen Geschlechtern der Erde erkannt„, und dem er solch gute, gerechte Satzungen gegeben hätte?) und der Dienst (zunächst in der Stiftshütte und später im Tempel) und die Verheißungen und die Väter! Und schließlich, als herrliche Krone des Ganzen: aus Israel war, „dem Fleische nach, der Christus (der Messias), welcher über allem ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit“!
Mit welch einer Wucht mußten solche Worte auf die Herzen und Gewissen derer fallen, die dem Apostel solch bitteres Unrecht taten! In der Tat, wenn es einen Mann gab, der das irdische Volk Gottes liebte, so war er es. Er war der letzte, dem man vorwerfen konnte, daß er die Vorrechte Israels unterschätze. Viel eher stand es ihm zu, einen solchen Vorwurf zu erheben, denn wer von seinen ungläubigen Verwandten nach dem Fleische kannte und erkannte das höchste aller ihrer Vorrechte, nämlich daß Christus Jesus, „Gott, geoffenbart im Fleische„, „aus Israel“ war? Wer von ihnen trug solches Leid über die Verwerfung Israels, wie Paulus es tat?
Deshalb war er auch der Mann, der Israel darüber belehren konnte, daß Gott sein Volk nicht „verstoßen„ habe, wenn es auch unter den Schlägen seiner Gerichte so schwer litt und heute noch leidet; weiter aber auch, daß nur die unumschränkte Gnade Gottes die Grundlage zu ihrer Wiederherstellung bilden könne, dieselbe Gnade, die den Heiden zuteil geworden war, und die sich ihnen zuwenden wollte, um eine viel herrlichere Erfüllung der ihnen gewordenen Verheißungen herbeizuführen, als sie es je hätten erwarten können. In ihrem Streben, eine eigene Gerechtigkeit aufzurichten, hatten sie die Gerechtigkeit, die aus Glauben ist, nicht erlangt, sondern waren zu einem ungehorsamen und widersprechenden Volke geworden, nach welchem Gott seine Hände umsonst ausstreckte. (Römer 10,3; Römer 10,21).
Was konnte ihnen Hilfe bringen? Wir sagten es schon: allein die Unumschränktheit Gottes, die trotz allem in Gnaden handeln und einen „Überrest nach Wahl der Gnade“ erretten konnte. Mochte auch das Volk als Ganzes, statt zu erlangen was es suchte, dem gerechten Zorn anheimfallen, nach Gottes Vorsatz gab es doch noch eine „Auswahl„, die das Heil erlangte, während die übrigen verstockt wurden. „O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes!“ (Römer 11,5–7; Römer 11,33).
Im weiteren Verlauf unseres Kapitels beweist dann der Apostel den Juden aus ihrer eigenen Geschichte, daß Gott von jeher nach seiner Unumschränktheit gehandelt hatte. Und wie gut für sie, daß er es immer noch tat!
Nur so gab es noch eine Hoffnung für sie; anders wären sie rettungslos verloren gewesen. War aber sein Wort nicht dadurch „hinfällig geworden„ (Römer 9,6), daß er den Heiden die Gnadentür öffnete? Hatte er seine Verheißungen an die Väter nicht vergessen? Nein, Gottes Wort hat noch stets seine Kraft behalten und sich als zuverlässig und treu erprobt; nur der Mensch, und vor allem der Jude, hat sich als unzuverlässig erwiesen.
Ähnlich wie man es heute macht, suchten die Juden aus den Verheißungen, die Abraham empfangen hatte, eine „Verpflichtung“ für Gott herzuleiten, die ganze natürliche Nachkommenschaft des Patriarchen zu segnen, (der Ausschluß der Heiden war dabei selbstverständlich). Aber, sagt der Apostel, „nicht alle, die aus Israel sind„, sind deshalb Israel, auch sind nicht alle deshalb Kinder, weil sie „Abrahams Same“ sind. (Römer 9,6; Römer 9,7). Schon hatte der Herr selbst (vergl. Johannes 8,37-39) die Juden auf diesen ernsten Unterschied zwischen Abrahams „Same„ und Abrahams „Kindern“ aufmerksam gemacht. Die natürliche Abstammung von Abraham gab niemand ein Anrecht auf die Verheißungen. Und wenn die Juden dies dennoch festhalten wollten, dann mußten sie auch die Wüstensöhne Arabiens, die Beduinen, als gleichberechtigt anerkennen, denn sie waren Söhne Ismaels, des Sohnes Abrahams. Und mit noch größerem Recht die Edomiter, waren sie doch die Nachkommen Esaus, des Zwillingsbruders Jakobs! Das aber wollten sie natürlich nicht. Wie hätte ein Jude mit unreinen Heiden, mit „Hunden„, gemeinsame Segnungen haben mögen? Das war völlig ausgeschlossen. Die Verheißungen gehörten nur der Linie Isaaks bzw. Jakobs!
Wenn das aber so war, dann hatte die natürliche Abstammung gar wenig Wert. Was zunächst Ismael angeht, so war er wohl ein wirklicher Sohn Abrahams, aber er war „nach dem Fleische geboren“ (Galater 4,23), und das Fleisch nützt vor Gott nichts. „Nicht die Kinder des Fleisches, diese sind Kinder Gottes, sondern die Kinder der Verheißung werden als Same gerechnet.„ (Römer 9,8). Ähnlich hatte der Apostel schon am Ende des 2. Kapitels gesagt: „Nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, noch die äußerliche Beschneidung im Fleische Beschneidung“. (Römer 2,28). Nein, die Entscheidung steht Gott allein zu, und es hat ihm gefallen, Isaak zu berufen, nicht Ismael. Die Berufung gründete sich auf einen freien Entschluß, auf den „Vorsatz„ Gottes und war „nach Auswahl“ geschehen. „Denn dieses Wort ist ein Verheißungswort: „Um diese Zeit will ich kommen, und Sara wird einen Sohn haben„.“ (Römer 9,9).
Der Kraft dieser Beweisführung konnte sich kein Jude entziehen, er hätte denn, wie gesagt, die Nachkommen Ismaels und Esaus als gleichberechtigt mit Israel anerkennen müssen. Aber eine andere Einwendung konnte gemacht werden. Die Mutter Ismaels war eine ägyptische Magd, eine Sklavin; Isaak aber war von Sara, dem rechtmäßigen Weibe Abrahams, geboren. Wie stand es denn nun mit Rebekka? Sie war nicht nur keine Magd, sondern entstammte der Familie Abrahams, und sie gebar ihrem Manne Zwillingssöhne. Man könnte sich keinen Fall denken, der für die Beweisführung des Apostels passender gewesen wäre. Esau und Jakob waren Söhne eines Vaters, von derselben Mutter zu derselben Zeit geboren — und doch sagt Gott zu Rebekka, noch ehe die Kinder geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten, was einen Unterschied zwischen beiden hätte errichten können: „Der Größere wird dem Kleineren dienen„, oder mit anderen Worten: das Erstgeburtsrecht des älteren wird auf den jüngeren übergehen. Warum? Weil Gott es so beschlossen hatte. Es war sein Vorsatz, sein unumschränkter Wille bezüglich des kleineren oder jüngeren, „auf daß“, wie der Apostel ausdrücklich hervorhebt, „der Vorsatz Gottes nach Auswahl bestände, nicht aus Werken, sondern aus dem Berufenden„. Die Werke der beiden Kinder hatten gar nichts mit der Berufung zu tun; noch ehe sie geboren waren, also bevor sie irgend etwas getan hatten, was vielleicht den einen für den Empfang der Segnung passend, den anderen unpassend hätte erscheinen lassen können, traf Gott Seine Wahl.
Aber, könnte man einwenden, lesen wir nicht gleich nachher, daß Gott den Jakob geliebt, den Esau aber gehaßt habe? Ja, so steht geschrieben, und es steht uns nicht zu, dieses Wort im geringsten abzuschwächen. Es liegt aber auch gar kein Grund dafür vor. Beachten wir zunächst, daß Gott jene Worte nicht (wie die anderen) ausgesprochen hat, ehe die Kinder da waren, sondern daß sie sich bei Maleachi, dem letzten aller alttestamentlichen Propheten, finden, der etwa 1.400 Jahre nach der Geburt des Zwillingspaares lebte, zu einer Zeit also, als Esau längst seine böse, „ungöttliche“ Gesinnung, und seine Nachkommen, die Edomiter, ihre unversöhnliche Feindschaft gegen Israel geoffenbart hatten. Wenn Gott also sagt, daß er den Jakob geliebt, den Esau aber gehaßt habe, so fand die Liebe ihre Quelle in seinem Herzen — sie war frei und unverdient , während der Haß seine Grundlage in dem sittlichen Verhalten Esaus hatte. Beide Kinder waren in Sünde geboren und sind auch zweifellos beide in Sünden aufgewachsen; aber an dem einen erfüllten sich die Gnadenratschlüsse Gottes, während der andere die gerechte Strafe für seine bösen Wege fand.
Da der Ausspruch des Propheten Maleachi gerade in der hier vorliegenden Verbindung manchem Leser Schwierigkeiten bereitet und schon oft zu falschen Auslegungen geführt hat, möchte ich nochmals ausdrücklich betonen, daß er erst lange nach dem Tode der beiden Söhne Isaaks gefallen ist. In 1 Mose 25 finden wir nichts davon. Es kann also aus ihm nicht der Schluß gezogen werden, daß Gott im voraus den einen Sohn geliebt, den anderen gehaßt und so das ewige Los beider von vornherein bestimmt habe; auch nicht, daß er in seiner göttlichen Kenntnis vorausblickend so geredet habe. Beides ist falsch; aber der Mensch schließt so gern aus der Auswahl des einen die Verwerfung des anderen. Nein, die Sache liegt so: wenn Gott von zwei Menschen, die beide keinerlei Ansprüche an ihn machen können, den einen, wie es hier geschieht, zu einem bevorzugteren Platz erwählt als den anderen, so ist das sein unumschränkter Wille, und wer kann zu ihm sagen: „Warum tust du also?„ Wenn es ihm gefällt, sich in seiner Gnade an einem Menschen zu verherrlichen, wer hat ein Recht, ihm einen Vorwurf daraus zu machen? — Zugleich bedingt die Erwählung des einen keineswegs die Verdammnis des anderen.
Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott?
„Was sollen wir nun sagen? Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott? Das sei ferne! “ (Römer 9,14).
Der eitle Mensch, die fleischliche Vernunft, fragt: Wenn Gott von zwei gleich sündigen Menschen den einen errettet, den anderen verloren gehen läßt, handelt er dann nicht ungerecht? Die Frage an und für sich beweist schon die Überhebung des menschlichen Herzens, indem sie für den Menschen das Recht in Anspruch nimmt, Gott beurteilen und richten zu können, anstatt sich von ihm beurteilen zu lassen und sich seinem Gericht zu unterwerfen. Es kann nicht anders sein: sobald ich die Unumschränktheit Gottes in Frage ziehe, werfe ich mich zum Beurteiler und Richter Gottes auf. Nicht er richtet, sondern ich richte. Die natürliche Gesinnung des Menschen empört sich allerdings gegen eine Wahrheit, die gerade der göttlichen Natur entspringt, sich auf sie gründet. Ist Gott Gott, so muß er souverän sein in all seinem Tun. Jede Lehre, die Gottes unumschränkte Majestät leugnet, oder ihn als gleichgültig der Sünde und dem Elend des Menschen gegenüber hinstellen will, ist der Wahrheit entgegen und Gottes unwürdig. Gott ist Licht, und das Licht kann sich unmöglich mit der Finsternis im menschlichen Herzen vereinigen; Gott ist Liebe, und die Liebe ist frei, in Heiligkeit ihrer Natur nach zu handeln.
Der Mensch, unwissend über sich selbst und Gott, leugnet freilich sein völliges Verderben, lehnt sich auf gegen Gottes Wort und kritisiert seine Wege. Aber indem er das tut und sich Gott gegenüber sogar auf den Boden der „Gerechtigkeit„ zu stellen wagt, spricht er sich selbst das Urteil und rechtfertigt Gott, wie wir es in dem vorliegenden Falle in der Geschichte Israels sogleich sehen werden. Auf die Frage der Juden: „Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott?“ und „das sei ferne!„ des Apostels, folgt unmittelbar das Wort: „Denn er sagt zu Moses: „Ich werde begnadigen, wen ich begnadige, und werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme“.„ (2 Mose 33,19).
Auf den ersten Blick möchte uns diese Anführung seltsam erscheinen, aber wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, bei welcher Gelegenheit die Worte gesprochen wurden, werden wir (wie so oft bei der Betrachtung des Wortes) die Entdeckung machen, daß gerade das vermeintliche Nichtangebrachtsein sich ins Gegenteil verwandelt. Der scheinbare Mißklang wird zum herrlichsten Wohlklang. Je näher wir die Umstände ins Auge fassen, die zu jenem Ausspruch führten, desto klarer erkennen wir die schlagende Beweiskraft der Antwort des Apostels. Wir erkennen, daß in der ganzen Bibel sich keine Stelle findet, die in diesem Falle mehr angebracht gewesen wäre, als gerade diese.
Israel hatte am Berge Sinai, bis wohin Gottes Gnade sie auf Adlers Flügeln getragen hatte, auf die von Gott gestellte Bedingung: „Wenn ihr fleißig auf meine Stimme hören und meinen Bund halten werdet“, geantwortet: „Alles, was Jehova geredet hat, wollen wir tun„. Anstatt sich auch weiterhin jener Gnade anzuvertrauen, maßten sie sich an, trotz all der beschämenden Erfahrungen, die sie bereits gemacht hatten, in eigener Kraft alle Gebote Gottes zu erfüllen.
Die Folge war das Bündnis des Gesetzes, die Mitteilung der gerechten und heiligen Forderungen Gottes an den Menschen im Fleische. Damit begann die eigentliche Geschichte Israels als Volk. Mose stieg auf den Berg, um die Gebote Gottes entgegenzunehmen. Als er verzog, wurde das Volk ungeduldig und veranlaßte Aaron zur Anfertigung und Aufstellung des goldenen Kalbes. Indem Israel so das erste und größte Gebot gröblich brach, blieb nichts anderes als ein unmittelbares, vernichtendes Gericht für sie übrig. Kaum hatte seine Geschichte als Volk begonnen, so büßte es schon mit einem Schlage alles ein, worauf es unter der Bedingung eines willigen Gehorsams Anspruch hatte. Der Gott, der die Verheißungen gegeben hatte und sie allein erfüllen konnte, war aufs schwerste beleidigt worden. Sein Bund war gebrochen. Was blieb für Israel übrig? Wenn Gott mit seinem Volke in Gerechtigkeit handeln wollte, und auf dem Boden des Gesetzes konnte er nicht anders, so mußten alle getötet werden. Ein Entrinnen war unmöglich.
Alle Juden, die die Geschichte jener Tage kannten, mußten die Richtigkeit der Beweisführung zugeben. Wollten sie also auf „Gerechtigkeit“ Gott gegenüber bestehen, so wäre das Los Israels damals für immer entschieden gewesen, wie Gott denn auch zu Mose sprach: „Ich habe dieses Volk gesehen, und siehe, es ist ein hartnäckiges Volk; und nun laß mich, daß mein Zorn wider sie entbrenne und ich sie vernichte„. (2 Mose 32,9; 2 Mose 32,10). Wahrlich, nicht „um ihrer Gerechtigkeit willen“ hatte Gott ihnen das gute Land gegeben (5 Mose 9,6), sondern weil er der Fürbitte Moses (eines Vorbildes von Christo) Gehör schenkte und sich auf den Boden seiner unumschränkten Gnade zurückzog: „Ich werde alle meine Güte vor deinem Angesicht vorübergehen lassen…und ich werde begnadigen, wen ich begnadigen werde usw.„ (2 Mose 33,19). Nur so konnte er sich des Übels gereuen lassen, das er geredet hatte (2 Mose 32,14), nur so die Missetat vergeben. Ja, mehr noch; gerade in der Hartnäckigkeit des Volkes, die auf dem Boden der Gerechtigkeit das Gericht herbeiführte, konnte die Gnade einen Beweggrund für Gott finden, in der Mitte des Volkes hinaufzuziehen: „Wenn ich doch Gnade gefunden habe in deinen Augen, Herr“, so betet Mose in 2 Mose 34,9, „so ziehe doch der Herr in unserer Mitte; denn es ist ein hartnäckiges Volk„.
Wie wunderbar ist das alles! Wenn der Mensch hoffnungslos verloren ist auf Grund seines Tuns, wenn die Gerechtigkeit Gottes nur Zorn und Gericht über ihn bringen kann wegen seines Ungehorsams und seiner Sünde, wenn das Gesetz ihn verfluchen und zum Tode verurteilen muß, hat Gott doch noch Hilfsquellen in sich, zu denen er Zuflucht nehmen kann. Vorausblickend auf den kommenden großen Mittler, der hier in Mose ein so liebliches Vorbild findet, konnte Gott Gnade und Erbarmen üben, und zwar, beachten wir es wohl, an wem er wollte, nach dem Vorsatz seiner freien, bedingungslosen Gnade.
„Also nun liegt es nicht an dem Wollenden noch an dem Laufenden, sondern an dem begnadigenden Gott. “ (Römer 9,16).
Doch wenn Gott begnadigen will, wie groß wird dann die Sünde eines Menschen, der sich diesem Begnadigungswillen widersetzt und Gottes Absichten zu durchkreuzen sucht! Auch diese Seite muß hervorgehoben, und es muß gezeigt werden, wie Gott mit einem solchen Menschen handelt. Gott muß auf der ganzen Erde bekannt werden als der Gott, der sich nicht ungestraft spotten läßt. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, verstehen wir gut das nun folgende Wort: „Denn die Schrift sagt zu dem Pharao: „Eben hierzu habe ich dich erweckt, damit ich meine Macht an dir erzeige, und damit mein Name verkündigt werde auf der ganzen Erde„. So denn, wen er will begnadigt er, und wen er will verhärtet er.“ (Römer 9,17; Römer 9,18).
Der Pharao sollte für alle Zeiten als ein Beispiel dafür dastehen, was Jehova, der Gott Israels, mit einem Menschen zu tun vermag, der auf sein Gebot: „Laß mein Volk Israel ziehen, daß sie mir ein Fest halten in der Wüste„, in maßloser Überhebung zu sagen wagte: „Wer ist Jehova, auf dessen Stimme ich hören soll? . . . Ich kenne Jehova nicht, und ich werde Israel nicht ziehen lassen“, und der im Anschluß an diese lästerlichen Worte befahl, den ohnehin schon so harten Dienst der Israeliten noch zu erschweren und Unmögliches von ihnen zu fordern. (2 Mose 5,1) (ff) In dem an und für sich schon hochmütigen und grausamen Menschen rief Gottes Botschaft nur den Entschluß wach, sich dem Willen Gottes zu widersetzen und seine Pläne zunichte zu machen. Beachten wir zugleich, daß sein Zustand immer böser wurde, je länger Gott mit ihm redete. Siebenmal lesen wir: „Das Herz des Pharao verhärtete (oder verstockte) sich„, oder: „Der Pharao verstockte sein Herz“; schließlich erst, nachdem die schwersten Plagen über ihn gekommen waren, und sogar seine eigenen Weisen und Zauberkünstler hatten eingestehen müssen: „Das ist Gottes Finger!„ wird gesagt: „Und Jehova verhärtete das Herz des Pharao“. Und als er endlich seine Zustimmung zum Auszug Israels gegeben hatte, offenbarte sich die unverbesserliche Bosheit seines Herzens wiederum darin, daß er wutschnaubend mit einem gewaltigen Heere dem Volke nachzog, immer noch wähnend, Jehovas erhobenem Arm widerstehen zu können. Ist's ein Wunder, daß Gott ihn endlich in richterlicher Weise verhärtete und für alle Zeiten als ein warnendes Beispiel hinstellte? Gott bestimmt nie einen Menschen zur Verhärtung, er macht nie einen Menschen böse, nein, der Mensch, durch seinen Fall unter die Gewalt der Sünde gekommen, schreitet von Bösem zu immer Böserem.
Was hat also Gott in dem Falle des Pharao getan? er hat diesen Mann zu der gewaltigen Höhe, auf der er stand, emporsteigen lassen, damit sein Sturz, sein kläglicher Untergang im Schilfmeere, weit und breit in aller Welt und für alle Zeiten kundtue, was es ist, seinen Nacken gegen Gott zu verhärten. Seine Geschichte redet heute noch zu den Gewissen der Menschen.
Ganz ähnlich wie dem Pharao ist es dem Volke Israel ergangen, nur mit dem Unterschiede, daß dieses Volk hier und so oft in späteren Tagen der Gegenstand der errettenden oder wiederherstellenden Gnade Gottes gewesen ist. Diese Tatsache macht seine Verantwortlichkeit um so größer und seinen Fall um so tiefer. Anstatt auf die ernsten Mahnungen Gottes zu hören, „empörten sie sich gegen ihn, warfen sein Gesetz hinter ihren Rücken und verübten große Schmähungen„. Ja, sie „verspotteten die Boten Gottes und verachteten seine Worte und äfften Seine Propheten (gerade wie der Pharao), bis der Grimm Jehovas gegen sein Volk stieg, daß keine Heilung mehr war“. (Vergl. Nehemia 9,26-29; 2 Chronik 36,14-16). Wieder möchten wir fragen: Ist es ein Wunder, wenn Gott endlich seinem Propheten Jesaja die Worte zuruft: „Mache das Herz dieses Volkes fett, und mache seine Ohren schwer, und verklebe seine Augen: damit es mit seinen Augen nicht sehe und mit seinen Ohren nicht höre und sein Herz nicht verstehe und es nicht umkehre und geheilt werde„? Geistliche Verblendung und Verhärtung kam von Seiten Gottes über ihre bösen, widerspenstigen Herzen, und als der Herr Jesus später in ihre Mitte trat, da „glaubten sie nicht an ihn“, ja, sie „konnten nicht glauben, weil Jesajas gesagt hat: „er hat ihre Augen verblendet usw.„.“ (Jesaja 6,8-10; Johannes 12,37-40). In ähnlicher Weise schreibt der Apostel Petrus von den „Ungehorsamen„ unserer Tage, daß sie gesetzt worden sind, sich an dem Worte zu stoßen. (1 Petrus 2,7; 1 Petrus 2,8). Gott hat diese hochmütigen Menschen, gleich dem Pharao vor alters, gesetzt, um als warnende Beispiele für andere zu dienen. Er hat sie nicht ungehorsam gemacht, aber er hat sie, vielleicht nach zahlreichen vergeblichen Mahnungen, der Härte ihrer Herzen hingegeben.
So liegt denn in beiden Fällen, ob Gott den Menschen begnadigt oder verhärtet, die Ungerechtigkeit nicht auf Gottes, sondern auf des Menschen Seite, der, soweit es ihn betrifft, unverbesserlich böse und verderbt ist; und in beiden Fällen, sei es in Gnade oder in Gericht, handelt Gott zur Verherrlichung seines großen Namens. Alle, die auf Gottes Wort achten und geistliches Verständnis haben, werden hierin auch kaum eine Schwierigkeit finden, nur die menschliche Vernunft zieht immer wieder ihre verkehrten Schlüsse. Indem der Apostel, durch den Geist Gottes geleitet, diese Schlüsse einen nach dem anderen aufzählt, begegnet er ihnen zugleich in einer Weise, die unsere ungeteilte Bewunderung wachruft.
Wir kommen jetzt zu dem letzten derselben:
„Du wirst nun zu mir sagen: Warum tadelt er noch? Denn wer hat seinem Willen widerstanden? “ (Römer 9,19. Mit anderen Worten: Wenn Gott begnadigt, wen er will, was kann ich dann dazu beitragen? und wenn er verhärtet, wen er will, was kann ich dagegen tun? Ist er der unumschränkte Gott, so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich Seinem Willen zu unterwerfen.
Der Einwand scheint begründet zu sein. Warum tadelt Gott noch? Wenn alles sich schließlich seinem Willen und Ratschluß unterwerfen muß, so kann der Mensch für das Endergebnis doch nicht verantwortlich gemacht werden! Der Ausgang des Weges seines Lebens steht ja bei Gott! Das erinnert uns unwillkürlich an die Entschuldigungen des ersten Menschenpaares nach dem Sündenfall. Auch damals suchten Adam und Eva die Verantwortlichkeit für das Geschehene Gott zuzuschieben. Warum hatte er der Schlange den Zugang zu dem Garten Eden gestattet? Warum dem Manne das Weib gegeben, das ihn betrügen sollte? — In Römer 9 lauten die Fragen ja anders, aber der Grundsatz ist derselbe: Gott ist schuldig, nicht der Mensch. Warum errettet er den einen und verwirft den anderen? Was kann der Mensch dazu, wenn Gott ihn verhärtet?
Noch einmal sei es gesagt, daß alle diese Fragen und Schlußfolgerungen einerseits die Herrlichkeit Gottes außer acht lassen und anderseits die Verantwortlichkeit des Geschöpfes vergessen. Gottes unumschränkter Vorsatz — und wie wäre er Gott, wenn er nicht unumschränkt wäre? — hebt die Verantwortlichkeit des Menschen nicht auf. Nehmen wir als erläuterndes Beispiel das Kreuz. Petrus sagt zu dem Volke Israel im Blick auf Jesum: „Diesen, übergeben nach dem bestimmten Ratschluß und nach Vorkenntnis Gottes, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geheftet und umgebracht„. (Apostelgeschichte 2,23). Der bestimmte Ratschluß, daß der Geliebte Gottes leiden sollte, war schon vor Grundlegung der Welt gefaßt; Gott hatte Jesum nach seiner Vorkenntnis zuvorbestimmt, das Lamm zu werden, das die Sünde der Welt wegnimmt. Aber verminderte das irgendwie die Schuld des Menschen? Nicht im geringsten! Juden und Heiden fanden sich an jenem Tage zusammen und wurden Freunde in ihrer gemeinsamen Feindschaft gegen Gott und seinen Gesalbten; und obwohl ihr Tun die Stimme der Propheten erfüllte und Gott Gelegenheit gab, sein heiliges Urteil über die Sünde zu vollziehen und das wunderbare Werk seiner Gnade auszuführen, waren und blieben sie doch schuldig der Verwerfung und Ermordung des Sohnes Gottes. Beide Dinge gingen nebeneinander her.
Die Schlußfolgerung, aus welcher die Frage: „Warum tadelt er noch?“ herauswächst, ist also durchaus trüglich. Wenn Gott in der Größe seiner Weisheit und dem Reichtum seines Erbarmens das böse Tun des Menschen zur Erfüllung seiner Ratschlüsse ausschlagen läßt, so ist das eben sein unumschränktes Walten, läßt aber den Willen des Menschen immer als das bestehen, was er ist: böse und unentschuldbar. Freilich, wenn es wahr wäre, was die streng calvinistische Theologie lehrt, daß Gott die, welche verloren gehen, zur Verdammnis zuvorbestimmt habe, so läge der Fall schwierig. Aber Gott sei gepriesen! Es ist nicht wahr. Die Schrift redet niemals so, wenngleich es einige Stellen geben mag, die jene Meinung zu stützen scheinen.
Wie liegen denn die Dinge? Ehe der Apostel dazu übergeht, die gestellte Frage zu beantworten, betont er, wie schon wiederholt bemerkt, die Unumschränktheit Gottes, das erste seiner Rechte, und zeigt dem Fragenden die Verkehrtheit seines Herzens. Würde wohl ein Mensch, dessen Gewissen irgendwie wach und tätig ist, so reden können, wie es hier geschieht? Nimmermehr wird eine bußfertige Seele Gott Ungerechtigkeit zuschreiben oder ihn beschuldigen, er sei verantwortlich für das Verlorengehen eines Menschen. Wer eine solch böse Sprache führt, beweist damit nur die natürliche Blindheit und den Hochmut seines Herzens. „Ja, freilich, o Mensch, wer bist du, der du das Wort nimmst wider Gott? Wird etwa das Geformte zu dem Former sagen: Warum hast du mich also gemacht? Oder hat nicht der Töpfer Macht über den Ton, aus derselben Masse ein Gefäß zur Ehre und ein anderes zur Unehre zu machen?„ (Römer 9,20; Römer 9,21). Wenn aber das Geschöpf schon solche Macht hat — und wer will das bestreiten? — wieviel mehr dann der Schöpfer!
„Warum hast du mich also gemacht?“ Diese Frage, im Munde eines Menschen Gott gegenüber, sagt letzten Endes nichts anderes als dies: Gott hat kein Recht, das Böse zu richten, und wenn er nicht alle begnadigen und retten will, so darf er wenigstens niemand bestrafen. Jede gerechte Regierung und Vergeltung ist damit beseitigt, und Gott ist gezwungen, das Böse in einer Weise zu dulden, wie es kein ehrbarer Mensch in seinem Hause oder in seiner Umgebung dulden würde. Daß Gott den Menschen gut und aufrichtig geschaffen und ihn ernst und eindringlich vor der Sünde und ihren Folgen gewarnt hat, daß aber der Mensch der Versuchung unterlegen ist und nachher Sünde auf Sünde, Gewalttat auf Gewalttat gehäuft hat — alles das wird absichtlich übersehen oder entschuldigt. Aber man könnte fragen: Liegt in den Worten des Apostels, daß der Töpfer nach seinem Belieben aus demselben Ton ein Gefäß zur Ehre und ein anderes zur Unehre zu machen vermag, nicht doch eine Bestätigung dessen, was man Gott zum Vorwurf macht? Tatsächlich ist die Sprache des Apostels kühn, und selbst verständige Männer und einsichtsvolle Ausleger des Wortes Gottes sind an dieser Stelle irre geworden, indem sie vergaßen, daß dem Schreiber zunächst nur daran lag, die Unumschränktheit Gottes in ihrer ganzen Unverletzlichkeit aufrecht zu halten, und es weiter übersahen, daß Gott von seinem Rechte gar nicht in der Weise Gebrauch gemacht hat, wie man es nach dem Bilde von dem Töpfer erwarten sollte. Die beiden nächsten Verse werden uns darüber belehren, wie Gott gehandelt hat; aber es war Gott gegenüber geziemend und für den Menschen nützlich, vorher die unumschränkten Rechte Gottes festzustellen. Wie selten denken gerade solche, die immer wieder von „Rechten„ reden, daran, daß Gott auch Rechte hat! Ja, wenn es überhaupt Rechte gibt, so müssen die Seinigen als Schöpfer die höchsten, ja, unumschränkt sein, vor allem wenn wir uns daran erinnern, daß wir nicht nur Geschöpfe, sondern gefallene Geschöpfe, Sünder, sind, die notwendigerweise die Früchte ihres bösen Tuns ernten müssen.
Doch hören wir, wie der Apostel die schwierige Frage beantwortet: „Wenn aber Gott, willens, seinen Zorn zu erzeigen und seine Macht kundzutun, mit vieler Langmut ertragen hat die Gefäße des Zorns, zubereitet zum Verderben, — und auf daß er kundtäte den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Begnadigung, die er zur Herrlichkeit zuvorbereitet hat…? uns, die er auch berufen hat, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Nationen.“ (Römer 9,22-24).
Wir haben weiter oben schon darauf aufmerksam gemacht, daß Gott notwendigerweise einmal seinen Zorn über all das Böse, das in dieser Welt geschehen ist und geschieht, erzeigen und an den hochmütigen, eigenwilligen Menschen seine Macht kundtun muß, wenn er anders seinen Charakter als der heilige Gott aufrecht halten will. Wie nun, wenn er bis heute diesen Zorn und diese Macht nicht kundgetan, sondern statt dessen „mit vieler Langmut„ die Gefäße des Zorns ertragen hat — kann man ihm dann mit irgendwelchem Recht den Vorwurf der Unbarmherzigkeit oder der Ungerechtigkeit machen? Könnte der dreimal heilige Gott dem Bösen gegenüber gleichgültig bleiben oder gar Gemeinschaft mit ihm haben? Unmöglich! Und doch hat er, trotzdem der Mensch, solang seine Geschichte währt, nicht aufgehört hat, ihn durch die Verachtung aller seiner Rechte zu reizen und ihn durch seinen unglaublichen Hochmut, durch Sittenlosigkeit, Götzendienst, Fluchen und Lästern herauszufordern, bis heute gezögert, das tausendfach verdiente Gericht auszuführen. Wie gnädig und langmütig ist er also gewesen! er hat „die Gefäße des Zorns“, d. h. die Menschen, an denen er seinen Zorn erzeigen will, in wunderbarer Güte und Nachsicht getragen, ja, hat ihnen nichts als Gnade erwiesen, indem er immer wieder zu ihnen redete, „früh sich aufmachend„, wie einst bei Israel. Aber was haben sie demgegenüber getan? Sie „haben all seinen Rat verworfen und seine Zucht nicht gewollt“! Tut er recht, wenn er sie „essen läßt von der Frucht ihres Weges und sie sich sättigen läßt von ihren Ratschlägen„? (Vergl. Sprüche 1,24-33). Der Apostel nennt diese Menschen, im Anschluß an das Bild von dem Töpfer, „Gefäße des Zorns“, wie er auf der anderen Seite diejenigen, welche sich Gott unterwerfen und seinem Worte glauben, als „Gefäße der Begnadigung„ bezeichnet. Beide sind auf dem Wege zu ihrem endlichen Ziele, zum Verderben oder zur Herrlichkeit. Beide sind dazu „bereitet“. Aber übersehen wir nicht den großen Unterschied in der Art der Zubereitung! Viele haben ihn übersehen und dadurch den Sinn oder doch die Kraft der Beweisführung des Apostels nicht erfaßt. Von den Gefäßen des Zornes sagt er nur: „zubereitet zum Verderben„, von den Gefäßen der Begnadigung aber: „die Er (Gott) zur Herrlichkeit zuvor bereitet hat“. Von den Gefäßen des Zorns wird weder hier noch an irgend einer anderen Stelle gesagt, daß Gott sie zum Verderben zubereitet habe; nein, sie selbst haben es getan durch ihre Sünden und vor allem durch ihren Unglauben und ihre Auflehnung gegen Gott. Die Gefäße der Begnadigung aber hat Gott bereitet, und zwar zuvor bereitet und zur Herrlichkeit bestimmt. Sie haben nichts dazu beigetragen, alles ist Gottes Werk, ausgeführt „nach der Gnade, die uns in Christo vor den Zeiten der Zeitalter gegeben worden ist„. (2 Timotheus 1,9).
So ist denn wiederum das Böse nur auf des Menschen, nicht auf Gottes Seite, und anderseits kommt das Gute nur von Gott, nicht von uns. Ferner bestätigt sich wieder, daß der Vorsatz Gottes nach Auswahl besteht, nicht aus Werken, sondern aus dem Berufenden. (Römer 9,11). Die Gefäße der Begnadigung sind nicht etwa zur Herrlichkeit bestimmt, weil sie sich vor anderen durch besondere Vorzüge oder geistliche Tugenden ausgezeichnet haben, sondern Gott hat sie nach seiner unumschränkten Auswahl, „nach Wahl der Gnade“, bedingungslos zur Herrlichkeit zuvorbereitet. Daß sie im Laufe der Zeit berufen, gerechtfertigt usw. werden mußten (vergl. Römer 8,29; Römer 8,30), und daß Gott das eine Gefäß mit mehr geistlichen Kräften und Gnadengaben füllt, als das andere, ist gewiß so, aber alle sind von ihm zuvorbereitet worden, ehe eines von ihnen da war, und zwar bereitet für seine eigene Herrlichkeit. Darum, wie wir schon wiederholt betonten, werden sie alle dereinst nur Gottes unergründliche, nie fehlende Gnade rühmen. Voll und ganz wird das Wort in Erfüllung gehen: „Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!„
Wenn diese Fülle der Gnade vor die Seele des Apostels tritt, kann er nicht anders, als auf ihre herrlichste Darstellung hindeuten, wie sie sich in der Berufung der Gläubigen „nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Nationen“ (Römer 9,24) erwiesen hat. Hat die Erprobung des meistbegünstigten Volkes dieser Erde nur in hoffnungsloser Verschuldung und unheilbarem Verfall geendet, sodaß nichts anderes als Zorn und Gericht übrigblieb, so haben sich die Schleusen der göttlichen Barmherzigkeit geöffnet, um aus Juden und Heiden ein Volk für die himmlische Herrlichkeit zu berufen. Je größer die Not, je tiefer das Verderben, desto weiter öffnet sich das Feld für Gott, um die Herrlichkeit seiner Gnade zu offenbaren. „Denn Gott hat alle zusammen in den Unglauben eingeschlossen, auf daß er alle begnadige.
Wir sind damit am Schluß unserer Betrachtung angekommen. Bleibt uns zurückschauend etwas anderes übrig, als in den triumphierenden Ruf des Apostels einzustimmen, mit dem er seine Behandlung der Gedanken und Wege Gottes mit Israel und den Nationen schließt? er lautet: „O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschlich sind seine Gerichte, und unausspürbar seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Mitberater gewesen? Oder wer hat ihm zuvorgegeben, und es wird ihm vergolten werden? Denn von ihm und durch ihn und für ihn sind alle Dinge.
Ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.“