Brenz, Johannes - Evangelienpredigten - 18. Sonntag nach Trinitatis.
1540.
Matth. 22,34-46.
Da aber die Pharisäer hörten, dass er den Sadduzäern das Maul gestopft hatte, versammelten sie sich. Und Einer unter ihnen, ein Schriftgelehrter, versuchte ihn, und sprach: Meister, welches ist das vornehmste Gebot im Gesetz? Jesus aber sprach zu ihm: Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, und von ganzem Gemüt. Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. In diesen zweien Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. Da nun die Pharisäer bei einander waren, fragte sie Jesus, und sprach: Wie dünkt euch um Christo? Wes Sohn ist er? Sie sprachen: Davids. Er sprach zu ihnen: Wie nennt ihn denn David im Geist einen Herrn, da er sagt: „Der Herr hat gesagt zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis dass ich lege deine Feinde zum Schemel deiner Füße?“ So nun David ihn einen Herrn nennt, wie ist er denn sein Sohn? Und Niemand konnte ihm ein Wort antworten, und durfte auch Niemand von dem Tage an hinfort ihn fragen.
Das Evangelium, welches wir verlesen haben, ist sehr beachtungswert; denn obschon wir vor wenigen Tagen erst die zwei Gebote von der Liebe Gottes und des Nächsten ausgelegt haben, welche in diesem Evangelio erwähnt werden, so wird es dennoch, weil man die Lehre dieser Gebote wissen muss, von Nutzen sein, dass dieser Gegenstand in der Kirche häufig behandelt werde. Denn diese zwei Gebote halten uns das Verzeichnis unserer Schulden vor, welche Gott von uns heischt und, welche wir ihm schuldig sind. Es ist aber not, dass wir die Größe der Schulden erkennen, die wir Gott schuldig sind. Denn so wir dieselben nicht wissen, werden wir erstlich mehr um die menschlichen, als um die göttlichen Dinge sorgen. Weil aber die Menschen nicht wissen, wie viel sie Gott schulden, sind sie meistens von solcher Sinnesweise, dass sie meinen, sie würden ganz leicht mit Gott über seinen Himmel und die Seligkeit eins werden, falls sie nur die menschliche, irdische Glückseligkeit erlangen dürften. So glaubt der Arme, er werde mit Gott wohl fertig werden, wenn er die Armut abtun könnte. So denkt der, welcher einem Menschen eine große Summe Geldes schuldig ist, er werde Gott leichtlich bezahlen, wenn er nur seinen Gläubiger beschwichtigen könnte. So vertraut der Kranke darauf, er werde gar leicht mit Gott ausgesöhnt werden, wenn er wenigstens mit seiner Gesundheit sich abgefunden habe. Kurz, unsere Unwissenheit in Betreff unserer Schulden gegen Gott bewirkt, dass wir Gott selber und seine Strenge nicht kennen. So geschieht es denn, dass wir in Unwissenheit umkommen. Wenn wir zweitens die Größe unserer Schulden nicht kennen, die wir Gott schuldig sind, so suchen wir auch keine Weise und keinen Weg zur Bezahlung unserer Schulden auf, und wir können doch, wenn dieselben nicht bezahlt werden, das Heil nicht erlangen. Daher ist es not, dass wir lernen, was wir Gott schuldig sind.
Im heutigen Evangelio nun fasst Christus in nur wenige Worte
die Summe unserer Schulden
zusammen und sagt: „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte, und deinen Nächsten als dich selbst.“ Das ist das Verzeichnis, das ist der Inbegriff oder das Register unserer Schulden; das ist der Kerbzettel1). Es handelt sich hier nicht um die Schulden von zwei oder drei Groschen, sondern um die Schulden vieler Tausende, und zwar nicht von Goldgulden, sondern der besten und heiligsten Tugenden. Christus bezeugt nämlich selber, dass in diesen zwei Geboten das ganze Gesetz und die Propheten hangen. Darin ist zwar kein kurzer Inbegriff des Evangeliums von Christo beschlossen, das gleichfalls im Gesetz und in den Propheten geschrieben steht; es ist aber Alles darin beschlossen, was zum Gesetze gehört: alles Gute, das man tun, alles Böse, das man unterlassen soll.
Der erste Teil des kurzen Inbegriffs lautet: Du sollst lieben Gott, deinen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte. In diesem Teile fordert Gott vollkommenen Gehorsam gegen alle seine Gebote, sowohl den innerlichen des Herzens und Gemütes, als auch den äußerlichen aller leiblichen Kräfte, fordert also, dass wir sowohl im Tun als im Leiden dem göttlichen Willen von ganzem Herzen und allen Kräften gehorchen. Lasst uns aber der Heiligen Beispiele ansehen, daraus wir leicht verstehen können, wie große Heiligkeit und Gehorsam Gott mit diesem Gebote fordert. Gott hat Mosen aus dem feurigen Busche berufen und ihm geboten, nach Ägypten zu gehen und sein Volk zu befreien. Das ist der Beruf des Mose. Gott fordert also, dass ihn Mose von ganzem Herzen und von ganzer Seele liebe, d. h. dass er solchem Rufe ohne alle Weigerung in seinen Gedanken gehorche. Was geschieht nun? Mose übernimmt zwar diese Berufung, allein mit großer Gemütsverwirrung. Erstlich weigert er sich zu gehen, und, obwohl er dann geht, fürchtet er doch die Gefahren Ägyptens und vertraut nicht genug auf Gott. Indem also Mose dem Rufe Gottes gehorchte, hat er doch nicht erfüllt, nicht vollbracht den Inhalt dieses Gebotes: Du sollst lieben Gott; deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte.“ Höre ein anderes Beispiel. Gott hat Trübsal über David geschickt, dass er aus seinem Reiche verjagt und von Simei mit Lästerungen gescholten ward. gescholten ward. Er hat ihn also dazu berufen, solches Alles um Gottes willen geduldig zu tragen, d. i. Gott von ganzem Herzen und von ganzer Seele zu lieben und diesem Berufe völlig ohne alles Widerstreben auch nur seines Gemütes zu gehorchen. Was geschieht nun? David gehorcht zwar, und nimmt die Verbannung und die Lästerungen auf sich, hat sie aber mit solchem Seelenschmerze auf sich genommen, dass er sogar Tränen vergoss. Das hieß gewiss nicht Gott von ganzem Herzen lieben, weil nicht sein ganzes Herz dem Rufe Gottes gehorchte. Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte lieben heißt also, den Geboten und dem Rufe Gottes durchaus gehorchen ohne alle Weigerung des Herzens und des Leibes, sondern allewege vollkommene Heiligkeit mit allen Kräften sowohl des Geistes, als auch des Leibes erweisen.
Der zweite Teil des kurzen Inbegriffs lautet: „Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.“ Was der Sinn dieses Teiles ist, kann man auch an Beispielen wahrnehmen. Sogar heidnische Weise führen in ihren bürgerlichen Verträgen solche Beispiele an. Hat ein wackerer Mann bei Mangel in der Stadt und bei höchster Teuerung der Zufuhr eine große Menge Getreide angefahren und, weiß derselbe, dass am folgenden Tage mehrere Kaufleute kommen werden: soll er das seinen Mitbürgern sagen, oder das Seine um den höchsten Preis verkaufen? Hier urteilen sogar Heiden, ein wackerer Mann werde das seinen Mitbürgern anzeigen; denn Niemand soll zum Schaden seines Nächsten seinen Nutzen vergrößern. Und: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füge keinem Andern zu.“ Ferner: ein wackerer Mann will sein Haus verkaufen wegen etlicher Mängel, die er selbst allein kennt, sei es einer oder mehrere. Da frag' ich: so der Verkäufer Solches den Käufern nicht gesagt, und sein Haus viel teurer verkauft hat, als er es verkaufen zu können meinte, ob er daran recht oder unrecht getan hat? Was hier recht sei, lehrt jenes Gebot: „Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst,“ und bestätigt, es sei für Jenen recht, dass die Mängel angezeigt werden. Dieses Gebot aber hat Paulus aufs richtigste ausgelegt Röm. 13,9: „Das da gesagt ist: du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis geben; dich soll Nichts gelüsten; und so ein ander Gebot mehr ist, das wird in diesem Wort verfasset: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.“ Und 1. Kor. 13,4: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen“ rc. Da hast du nun eine Aufzählung oder ein Verzeichnis unserer Schulden gegen Gott, nämlich dass wir Gott so lieben sollen, dass wir allen seinen Geboten von ganzem Herzen und in vollkommener Heiligkeit gehorchen und unseren Nächsten desgleichen also lieben, dass wir ihm nicht minder als uns Gutes wünschen und tun. Und diese Schuld treibt der Herr unser Gott mit so großer Strenge ein, dass, so Jemand dieselbe nicht vollkömmlich bezahlt hat, er zur ewigen Verdammnis verurteilt wird. Verflucht ist Jeder, der nicht bleibt in den Worten dieses Gesetzes.
Nun ist noch übrig, dass wir an die Bezahlung denken. Aber wie bürgerliche Schuldner, die zahlungsunfähig sind, verschiedene Wege ausdenken, auf denen sie hoffen zahlen zu können: die Einen verbergen sich, um nicht von ihren Gläubigern gefunden zu werden, die Anderen vereinbaren eine Frist nach der anderen; die Einen entziehen sich durch die Flucht, die Anderen machen. neue Anleihen rc. so ersinnen auch die in geistlichen Dingen Unerfahrenen allerlei Wege, die Schuld des Gesetzes zu zahlen. Die Einen versuchen das Gebot mit äußerlichen Werken zu erfüllen, und es ist zwar recht, dass sie äußerliche gute Werke tun; aber auf diesem Wege haben ihm nicht einmal die Heiligen selbst genugtun können, wie oben von Mose und David gesagt ist. Die Anderen kaufen sich in Mönchsbrüderschaften ein, und hoffen durch diesen Kauf aller guten Werke teilhaftig zu werden, die in dem ganzen Mönchsorden geschehen. Andere meinen, Gott sei barmherzig, und sagen, sie wollten zwar nach Kräften Gutes tun, hätten sie aber Etwas nicht vollkommen getan, so wollten sie hoffen, Gott werde es ihnen aus Barmherzigkeit vergeben. Und das ist ja auch nicht gottlos geredet; wo aber kein Erkenntnis Christi ist, da schlägt das nicht zum Nutzen aus, was man fromm redet. Denn es ist wahr, dass Gott seinem Wesen nach barmherzig ist, wem er aber, ohne Christum, barmherzig sei, das erklärt er selbst im Eingang seines Gesetzes 2. Mose 20,5: „Ich tue Barmherzigkeit an vielen Tausenden, die mich lieb haben, und meine Gebote halten.“ Denn Gott ist denen barmherzig, die ihn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte lieben. Diejenigen nun, die Solches nicht getan haben, können nicht wohl auf Gottes Barmherzigkeit bauen, wenn sie keine Erkenntnis Christi haben. Wie wir daher den rechten Weg, unsere Schulden zu bezahlen, begreifen können, das lehrt uns auch das heutige Evangelium.
Als nämlich die Pharisäer auf nichts Anderes pochten, als auf das Gesetz, welches doch von ihnen nicht erfüllt ward, da fragt Christus nach dem Messias, in der Meinung, dass es nicht genug sei, über das Gesetz zu streiten, es sei denn, dass man auch Erkenntnis des Messias habe, der im Gesetze verheißen ist, durch welchen allein die Schulden des Gesetzes bezahlt werden können. Er fragt also, was sie von Messias halten: ob er nur ein Mensch sein werde, oder auch Gott? Und er beweist aus dem (110.) Psalm, dass er auch Gott ist. Durch solchen Beweis will er anzeigen, dass Christus, weil er nicht nur Mensch sei, sondern auch Gott, auch das ganze Gesetz vollkommen erfüllt und durchaus dem Willen Gottes genuggetan habe. Wer nun die Schuld des Gesetzes zahlen will, der kann keinen anderen Weg der Zahlung finden, als Christum. Und das pflegt so zu geschehen: zuvörderst muss man an Christum glauben, dann rechnet er uns vermöge des Glaubens an, oder dann gibt uns Christus hinwiederum seine vollkommene Gerechtigkeit, die wir dem Gerichte Gottes entgegenhalten können. Sodann ist es unsere Pflicht, weil Christus uns seine Gerechtigkeit als ein Darlehen gegeben hat, Christo seine Darlehen zu erstatten. Wir erstatten es aber durch Gehorsam gegen das Evangelium und durch die Liebe gegen den Nächsten. Denn so wir dem Nächsten Übles getan haben, zieht Christus sein Darlehen zurück.2) Amen.