Brenz, Johannes - Evangelienpredigten - 10. Sonntag nach Trinitatis.
Luk. 19,41-48.
Und als er nahe hinzu kam, sah er die Stadt an, und weinte über sie, und sprach: Wenn du es wüsstest, so würdest du auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient. Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen. Denn es wird die Zeit über dich kommen, dass deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern, und an allen Orten ängsten; und werden dich schleifen, und keinen Stein auf dem andern lassen; darum, dass du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist. Und er ging in den Tempel, und fing an auszutreiben die darinnen verkauften und kauften, und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben: Mein Haus ist ein Bethaus; ihr aber habt es gemacht zur Mördergrube. Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten, und die Vornehmsten im Volk, trachteten ihm nach, dass sie ihn umbrächten; und fanden nicht, wie sie ihm tun sollten; denn alles Volk hing ihm an, und hörte ihn.
Das Evangelium von der Zerstörung Jerusalems,
das ich jetzt verlesen habe, ist zwar sehr kurz, was seine Worte anlangt, blicken wir jedoch in sein Innerstes hinein, so enthält es die wichtigsten Dinge, die wir zu unserem Heile notwendig erkennen müssen. Denn indem Christus das zukünftige Unglück der Stadt Jerusalem beweint und sagt, die Bürger von Jerusalem würden für ihren Frieden sorgen, wenn auch sie ihr künftiges Unheil voraussähen: so tut er offen kund, es gebe einen Weg, auf dem wir nicht allein die Sünden, sondern auch die Strafen der Sünden und alles Unglück fliehen können. Je werter und lieber uns daher unser Heil ist, desto fleißiger lasst uns den Sinn dieses Evangeliums auffassen; und damit wir diese Sache besser erkennen, wollen wir der Reihe nach von dem handeln, was in diesem Evangelio enthalten ist. Zuerst nämlich wird uns vorgestellt und kundgetan der Zorn Gottes; danach wird uns die Barmherzigkeit Gottes offenbart; endlich werden wir ermahnt, auf die Zeit der göttlichen Heimsuchung zu achten und nach unserem Frieden und nach unserem Heil zu fragen. Obschon Solches an dem Beispiele vom Untergang Jerusalems gehandelt wird, so bezieht es sich doch, weil die Heilige Schrift um unsertwillen geschrieben ist, allermeist auf uns und unser Heil.
Erstlich gibt es Viele, die da meinen, Alles sei ein Scherz, was vom Zorne Gottes geredet wird. Sie sagen, die Hölle sei nicht so heiß, wie man sagt, und der Satan sei nicht so schrecklich, wie er gemalt wird. Und dieser Verachtung wegen stürzen sie in alle Arten von Missetaten und Strafen. Aber auf dass diese zur Furcht Gottes ermuntert werden, hat uns Gott den Untergang Jerusalems vor Augen gestellt, worin er aufs klarste seinen unbarmherzigsten Zorn über die Sünden abgebildet hat. Zuerst nämlich hat er von dieser Verwüstung 5. Mose 28,15 ff. und Daniel 9,26.27 geweissagt, danach Christus hier und an vielen anderen Stellen. Endlich ist, was durch Worte zuvor geweissagt ist, tatsächlich geschehen unter Titus, dem Kaiser der Römer, ungefähr 40 Jahre nach dem Leiden Christi. Denn wie die Geschichten erzählen, ist beim Untergang Jerusalems ein großer Teil der Juden durch das Schwert umgekommen, ein noch größerer durch Hunger. Und Solches ist noch erträglich, denn Viele haben ihren eigenen Kot verzehrt, ja Mütter haben sogar ihre eigenen Kinder gekocht. Und so groß war das Unglück der Juden, dass die Toten glücklicher waren als die Lebenden, weil die Lebenden aufs schimpflichste verkauft, von einander gerissen und den wilden Tieren vorgeworfen wurden. Das Alles sind leibliche Dinge und insofern vielleicht erträglich; dazu aber kommt die geistliche, ganz unerträgliche Strafe. Das Reich Gottes ist von den Juden genommen worden (Matth. 21,43), und damit Gottes Zorn um so mehr kund würde, sucht Gott die Missetat der Väter an den Juden heim bis ins dritte und vierte Glied. Nichts ist schauerlicher, Nichts unbarmherziger, Nichts schrecklicher als diese Tatsachen, Gott aber hat es darum geschehen lassen, dass er an einem Beispiel seinen ernstlichen Zorn über die Sünden erzeigte. Es offenbart auch das die Schwere des göttlichen Zornes, dass er der Juden, seines auserwählten Volkes, nicht verschont hat, welchen das Gesetz gegeben war, zu welchen die Erzväter gehörten, und von welchen Christus dem Fleisch nach abstammte. Siehe da, er hat der Verwandten seines Christi nicht verschont! So oft uns darum der Zorn Gottes leicht erscheint, so oft müssen wir uns die Zerstörung Jerusalems ins Gedächtnis zurückrufen, um daran Gott fürchten und die Sünden fliehen zu lernen.
Es wird uns aber nicht nur Gottes Zorn in diesem Evangelio vorgestellt, sondern auch die Gnade und Barmherzigkeit Gottes; denn indem Christus das künftige Unheil voraussah, hat er bitterlich geweint. Lasst uns also betrachten, wer es sei, der das Unheil Jerusalems beweint. Ist's etwa irgend ein bloßer Mensch? Eines solchen Menschen Tränen zeigen zwar ein mitleidiges Herz an, zeigen aber kein Herz an, das da mächtig ist zu helfen. Ist's ein bloßer Prophet? Auch ein solcher Prophet hätte mit seinen Tränen nichts Großes ausrichten können. Allein Christus ist der eingeborene Sohn Gottes; dieser Sohn Gottes aber ist das sichtbare Ebenbild Gottes selbst, und in ihm hat Gott seinen ganzen Willen und sein Herz offenbart. Vorgestellt nämlich ist uns Christus, damit wir durch ihn den Vater betrachten. Philippus, spricht er, wer mich sieht, der sieht den Vater (Joh. 14,9). Weil wir nun Christum so mitleidig sehen, dass er um die Sünden und das Unheil der Juden weint, so lasst uns sein göttliches Herz wahrnehmen, das so barmherzig ob der Trübsale seines Volkes bewegt ist, dass es, wenn das möglich wäre, ganz in Tränen verwandelt würde. Was gibt es Größeres als diese Barmherzigkeit? Außerdem, während andere Menschen Elend beweinen, so haben sie Sünden, weshalb Gott nicht so bloß ihrer Tränen achtet. Christus aber ist ganz ohne Sünde, „welcher keine Sünde getan hat, ist auch kein Betrug in seinem Munde erfunden“ (1. Petri 2,22). Deshalb freut sich Gott der Vater also, und bewahrt diese Tränen, um ihretwegen die Sünden und Strafen Allen zu erlassen, die an Jesum Christum glauben. Denn man muss nicht meinen, Christus habe nur am Kreuze für unsere Sünden gelitten. Am Kreuze hat er zwar sein Leiden vollendet, für unsere Sünden aber gelitten vom Anfange seiner Geburt bis zum Grabe. Das ganze Leben Christi war nichts Anderes als eine Sühne für unsere Sünden. Wie wir also zuvörderst aus dem Untergange Jerusalems Gottes strengsten Zorn wider die Sünden erkannt haben, so lasst uns nun aus dem Weinen Christi die Barmherzigkeit Gottes, seine Gnade gegen die Bußfertigen und Gläubigen erkennen.
Doch wohlan! lasst uns nun sehen, welcher Ursach halben Gott die Juden so schwer heimgesucht hat und, welches der Weg ist, auf dem sie der Schwere des göttlichen Zornes hätten entrinnen können. Wir brauchen aber hinfort nicht lange über die Ursache des jüdischen Unheils nachzudenken; denn Christus selbst zeigt sie offen an, indem er spricht: „darum, dass du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist.“ Ach! sie haben nichts anderes Böses begangen; ist denn etwa dieses Böse so groß, dass es so großen Zorn verdient? Gewiss haben sie sonst noch viel Böses begangen, aber Nichts ist so groß gewesen, dass Gott sie deshalb hätte niedergeschlagen, so sie die Zeit ihrer Heimsuchung erkannt hätten. Denn sie waren in Sünden empfangen und geboren, und hatten erwachsen die größten Frevel hinzugefügt: Ehebruch, Diebstahl, Totschlag, Meineid und Anderes der Art. Außerdem haben sie die Propheten und zuletzt Jesum Christum getötet. Das waren sehr schwere Sünden, aber sie sind nicht so groß, dass kein Raum mehr für das Heil bliebe, so du wolltest Buße tun. Aber die Zeit der Heimsuchung nicht erkennen, das erst ist eine so schwere Sünde, dass es alle Übel herbeizieht. Doch du wirst sagen: Ich bin kein Prophet, ich bin ein bloßer Mensch, wie kann ich erkennen, welches die Zeit meiner Heimsuchung sei? Hier ist zu beachten, dass Christus an dieser Stelle die Zeit des geoffenbarten Wortes Gottes als die Zeit der Heimsuchung nennt, d. h. wann Gesetz und Evangelium gepredigt wird, wann unsere Sünden gerügt werden, und der Weg der Buße dargelegt wird. Denn wird irgend einer Gegend das Wort Gottes offenbart, so ist's ganz gewiss, dass Gott diese Gegend mit Strafe heimsuchen will; aber weil er barmherzig ist, darum sendet er zuvor sein Wort als eine Mahnung. So ist's geschehen vor der Sündflut durch Noah; so vor dem Brande Sodoms durch Lot; so vor dem Untergang Pharaos durch Mosen; so vor der ersten Zerstörung Jerusalems durch die Propheten, so vor der zweiten durch Christum und die Apostel.
Darum lasst uns denken, es sei eine Zeit der Heimsuchung und der Strafe, wenn Gottes Wort offenbart wird. Daraus dürfen wir offenbar den Schluss ziehen, dass zu dieser Zeit eine Zeit der Heimsuchung für Deutschland da ist. Wer also diese Zeit der Heimsuchung verabsäumt, der wird solcher Verachtung und seiner Versäumnis wegen ewig gestraft werden.
Wie soll ich nun, wirst du sagen, dem zukünftigen Zorn entrinnen? Gewiss auf keine andere Weise als die, wodurch die Juden dem zukünftigen Zorn entronnen wären. Christus sagt nämlich: Wenn du es wüsstest, und zwar zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient, so würdest du dafür Sorge tragen? Was? wären sie dem Zorne entronnen durch Opfer, durch Befestigungen ihrer Städte, durch große Kriegszufuhr? Keineswegs, sondern durch Buße. Jer. 18,8: „Wo sich [das Volk] bekehrt von seiner Bosheit, dawider ich rede, so soll mich auch reuen das Unglück, das ich ihm gedachte zu tun.“ Sowohl Christus, als Johannes sagen: Tut Buße! Die Buße aber besteht in der Erkenntnis der Sünden und in dem Glauben an Christum, dass wir um seinetwillen umsonst Vergebung der Sünden haben. Diese Buße bringt die größten Früchte. Erstlich zieht sie uns von Sünden ab, dass wir in Gehorsam gegen Gott leben. Ein Beispiel hast du an jener Sünderin (Luk. 7,36-50). Zweitens befreit sie uns von künftigen Gefahren. Ein Beispiel hast du an Ahab (1. Kön. 21,27-29) und an den Niniviten (Jona 3). Endlich befreit sie uns auch von den gegenwärtigen Übeln, z. B. Manasse (2. Chron. 33,12.13). Die Buße ist also der Weg zum Frieden und zum Heil.
So hast du denn in diesem Evangelio ein Beispiel des Zornes und der Gnade Gottes, außerdem den Weg, um Gefahren zu entrinnen. Also lasst uns zur Buße greifen, lasst uns die Zeit unserer Heimsuchung erkennen, auf dass wir das Heil erlangen, durch Christum Jesum, unseren Herrn. Amen.