Braun, Friedrich - Predigt am Sonntag Reminiscere
Von Hofkaplan Dr. Braun in Stuttgart.
Ev. Matth. 15, 21-28. (I. Jahrgang.)
Und Jesus ging aus von dannen und entwich in die Gegend von Tyrus und Sidon. Und siehe, ein kananäisch Weib ging aus derselbigen Grenze und schrie ihm nach und sprach: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich mein! Meine Tochter wird vom Teufel übel geplagt. Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten zu ihm seine Jünger, baten ihn und sprachen: Lass sie doch von dir, denn sie schreiet uns nach. Er antwortete aber und sprach: Ich bin nicht gesandt, denn nur zu den verlorenen Schafen von dem Hause Israel. Sie kam aber und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht sein, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr, aber doch essen die Hündlein von den Brosamlein, die von ihrer Herren Tisch fallen. Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Weib, dein Glaube ist groß; dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter ward gesund zu derselbigen Stunde.
In dem Herrn geliebte Freunde! Jesus entwich, erzählt unser Text, in die Gegend von Tyrus und Sidon. Er entwich den betäubenden Huldigungen der Volksmenge und den beginnenden Quälereien der Pharisäer, um in der Stille sich zu sammeln, allein mit seinem Vater, und allein mit seinen Jüngern. Diese Stille suchte er im heidnischen kananäischen Nachbarland Phönizien. Aber auch hier war sein Ruf gedrungen; auch hier konnte er nicht unerkannt und ungebeten bleiben; und auch aus diesem Land kann er nicht ziehen, ohne wenigstens Ein Wunder getan, Ein Mutterherz beglückt, Eine arme Seele aus den Banden der Finsternis gelöst zu haben. Und wir freuen uns dessen, so oft wir die Geschichte lesen, für die Tochter und ganz besonders für die Mutter, für das kananäische Weiblein, die uns eine so liebliche Erscheinung ist mit dem Mut ihres Glaubens, der den Herrn ohne Weiteres anredet: „Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich mein,“ mit der Beständigkeit, die immer wieder kommt und bittet: „Herr, hilf mir,“ und die sich gesellt zu rührender Demut in den Worten: „Es essen die Hündlein von den Brosamen, die von ihrer Herren Tische fallen.“ Und je lieber uns das kananäische Weiblein wird in unsrem Text, desto unbegreiflicher kann uns das Verhalten Jesu erscheinen, der sie anfangs mit Schweigen und dann mit nachdrücklichen, ja mit scheinbar harten Worten zurückweist, und wir stellen uns wohl im Geist in den Kreis der Jünger, die ihm zurufen: „Lass sie doch von dir, nachdem du ihr ihre Bitte erfüllt hast; ihr Geschrei geht uns durch Mark und Bein.“ Aber der Herr Jesus weiß wohl, warum er sie zurückweist. „Ich bin nicht gesandt, denn nur zu den verlorenen Schafen vom Hause Israel.“ Damit bezeichnet er zwar nicht die Grenze seines künftigen Reichs auf Erden, wohl aber die seines jetzigen persönlichen Wirkens auf Erden. Es gedeiht ja kein Wirken, auch nicht das seine, ohne feste Grenzen; keine Lebensarbeit ohne ein klares Gesetz. Der Herr Jesus weiß aber auch, warum er schließlich dem kananäischen Weiblein doch hilft, warum er nicht unter allen Umständen ans Gesetz sich bindet. Über dem Gesetz steht die Freiheit, die in klarem Verständnis des einzelnen Falles und in der sicheren Erkenntnis der höchsten göttlichen Gnadenordnungen und Gnadenziele die Schranken durchbricht; und über der berechtigten Strenge, mit der der Herr das kananäische, das heidnische Weib zurückweist, steht das liebevolle Erbarmen, das ihre Not und ihren Glauben sieht und nicht anders kann, als da sprechen: „O Weib, dein Glaube ist groß, dir geschehe wie du geglaubt hast.“ Liebe Freunde! Es gehört zu der wundersamen Herrlichkeit der Person Jesu, dass, was bei Menschen als unversöhnlicher Gegensatz auseinanderklafft, bei ihm in schönster Harmonie sich ausgleicht und verbindet. Und zu solcher Harmonie will er auch uns erziehen durch sein Wort und seinen Geist; dazu schenkt er uns das heutige Evangelium, in das wir noch weiter eindringen wollen, um zu sehen, wie in Jesu sich die Gegensätze harmonisch ausgleichen und vereinen:
I. Er geht in die Stille und fährt doch fort zu wirken.
II. Er stellt sich unter das Gesetz und wahrt doch seine Freiheit.
III. Er übt Strenge und lässt doch die Liebe walten.
I.
In dem Herrn geliebte Freunde! Der Herr geht in die Stille. Und es ist nicht dies eine Mal, dass er die Stille sucht. Kurz vor unserem Evangelium lesen wir, dass er vom See Genezareth abends auf einen Berg ging, um dort die ganze Nacht betend zu verbringen. Wie er dort auf dem Berg in stiller Nacht allein sein wollte mit seinem Vater, sein Herz Ihm auszuschütten in Dank und Bitte und aus der Liebesgemeinschaft mit dem Vater neue Lichtkräfte zu empfangen zur Vollführung seines Werkes - so entweicht er nun ins phönizische Land, doch nicht allein, sondern mit seinen Jüngern, und gewiss dürfen wir voraussetzen, dass er dort, wo sein Name weniger bekannt und ein geringerer Zulauf des Volkes zu erwarten war, gerade seinen Jüngern, seiner geistlichen Familie sich besonders widmen, dass er sich stärken und erfrischen wollte an ihrer Liebe, während die Feindschaft gegen ihn ihr Haupt erhob, und dass er ihre Liebe in trautem Zwiegespräch stärken und vertiefen wollte, damit sie besser Stand halte als die oberflächliche Begeisterung des Volks, deren Zusammenbruch er voraussah. Und wahrlich, wenn so dem Herrn, zwischen das öffentliche Wirken hinein, die Stille Bedürfnis war, um mit seinem Vater und seinen Lieben allein zu sein, wie vielmehr muss sie uns Bedürfnis werden, uns, denen das tägliche Leben mit seinen Sorgen und Zerstreuungen, seinen Aufregungen und Enttäuschungen, bei unsrem geringen Maß von Kraft so leicht eine körperliche und geistige Ermüdung bringt, die Jesu fremd blieb, denen es bei unsrer Sündhaftigkeit so viel Fallstricke, so viel Versuchungen bringt, für die sein reines Herz unzugänglich war. So ist es denn für uns doppeltes Bedürfnis, in der Stille des Kämmerleins allein zu sein mit unsrem Gott und Heiland und von ihm zu erflehen Vergebung der Sünden und heiligen Geist; so tut es uns dringend not, in der Stille des Hauses allein zu sein mit den Unsern und in ihrem Kreis die reinsten Triebe zu entfalten und die reinsten Bande fest zu knüpfen.
Es gibt allerdings Menschen, denen das Bedürfnis nach solcher Stille fehlt und mehr und mehr abhandenkommt, denen es nur wohl ist im Lärm der täglichen Arbeit und Zerstreuung. Aber dieses Wohlsein birgt einen Mangel, ein Geknechtet sein von der Macht der Welt, eine Blindheit für die unsichtbare Welt und die Geheimnisse der eigenen Herzenswelt und dieser Mangel wird sich rächen auch im äußeren Wirken durch einen Mangel an der Weisheit, Kraft und Frische, die man eben in den Stunden der Stille holt. Es ist ein Zeichen geistlicher Gesundheit, jenes Bedürfnis nach Stille zu hegen, und eine Bedingung geistlicher Gesundheit, es zu erfüllen. Freilich das Maß darin ist ein verschiedenes und soll es sein. Neben einander stehen die beschaulichen Naturen, bei denen jenes Bedürfnis mehr in Vordergrund tritt, und die Wirkensfrohen, bei denen es mehr im Hintergrund bleibt. Beide brauchen einander; beide ergänzen einander; bedauerlich ist's, wenn sie einander nicht verstehen, töricht wenn sie einander nicht gelten lassen, statt dass sie einander fördern und helfen, die Beschaulichen den Tätigen etwas von ihrer Ruhe und Sammlung, und diese jenen etwas von ihrem Schwung und ihrer Rastlosigkeit mitteilen. Beides ist ja nötig. So sehr ein Wirken ohne Ruhe sich verliert in Zersplitterung und Haltlosigkeit, so sehr führt auch eine einseitige Pflege beschaulicher Stille, die dem Wirken ausweicht, zur Abstumpfung und Ertötung der gottverliehenen Kräfte. Das Vorbild des Herrn Jesu zeigt uns einmal, wie es gilt nach kurzen Stunden der Stille die Brust wieder dem Leben und seinem Kampf zu bieten nur wenige Tage bleibt er in Phönizien, und noch mehr zeigt es uns, wie auch in der Stille das Wirken nicht aufhört. Zwar Scharen ruft der Herr nicht zu sich heran in Phönizien, wie vorher und nachher in Galiläa. Er sucht überhaupt das Wirken nicht auf. Aber kommt, wie in unsrem Text, der Anlass an ihn heran, tritt ungesucht auch im fremden Land das kananäische Weiblein zu ihm mit Rufen und Bitten, wohlan, müde ist er nicht zu wirken und zu segnen, und auch von seinem Aufenthalt in Phönizien lässt er ein lebendiges Denkmal zurück: das geheilte Kind, das Er befreit vom bösen Geist. So gilt's denn auch für seine Jünger und Nachfolger, so sehr sie nicht nur das Recht, sondern die Pflicht haben, um des eigenen inneren Lebens willen die Stille zu suchen, dass sie diesen Gottesdienst der Stille abbrechen und unterbrechen, wenn der reine und unbefleckte Gottesdienst gottgefälliger Werke ruft, dass sie nicht wie dort im Gleichnis der Priester und Levit ihren stillen Gang betend und sinnend am verwundeten Bruder vorüber fortsetzen, sondern tun wie der barmherzige Samariter, wenn leibliche oder geistliche Not ihnen vor die Augen tritt. Wie mancher Christ hat am Tag der Ruhe, an der Stätte seiner Erholung ein liebliches Denkmal von Christensinn und Christeneifer und Christenliebe zurückgelassen in einer armen Hütte, die er aufgesucht, in einem Krankenstübchen, in das er eine Gabe, ein Wort des Trostes gebracht, im Herzen eines irrenden Menschenkindes, dem er freundlich zugesprochen hat, ohne dass das alles seiner Ruhe und Erholung geschadet hätte! Und auch, wo ein Wirken in der Stille nicht vergönnt ist der Gedanke an die Notwendigkeit und Schönheit des Wirkens, der Gedanke, dass die Stille uns dienen soll, um hernach wieder frischer und froher zu arbeiten und Gott und den Brüdern zu dienen, dieser Gedanke muss uns jedenfalls hineinbegleiten in die Stille, muss ihr den rechten Grund geben, Maß und Ziel stecken und sich zuletzt in den frischen Mut verwandeln, mit dem wir aus der Stille wieder heraustreten in des Lebens Kampf und Arbeit. Hier ist unsere Heimat, wie für den Herrn das Arbeitsfeld in Galiläa die Heimat war. Wohl uns, wenn auch uns das Arbeitsfeld des Lebens zur Heimat und zum gelobten Lande wird, und wenn wir in die Stunden der Ruhe ziehen, wie der Herr gen Phönizien, als in ein schönes, fremdes Land, da doch unsres Bleibens nicht ist, bis einst im himmlischen Kanaan die Ruhe des Volkes Gottes uns heimatlich winkt. Wenn wir's so ansehen und so üben, geliebte Freunde, dann haben wir die rechte Harmonie gefunden zwischen Stille und Wirken, das rechte Gleichgewicht hergestellt zwischen Beschaulichkeit und Tätigkeit. Aber freilich die rechte Freudigkeit zum Wirken findet sich und erhält sich eben in dem Maß, als wir
II.
eine klare Einsicht gewinnen, in den Umfang, den Inhalt der Lebensaufgaben, oder in das Gesetz, dessen Erfüllung uns verordnet ist. Wo wir ein solches Gesetz nicht finden und befolgen und dadurch Klarheit und Begrenzung in unser Wirken bringen, zerfällt es bei aller Kraftanstrengung und Vielseitigkeit, ja gerade durch solche Vielseitigkeit in lauter Bruchstücke und schafft und hinterlässt nichts Bleibendes. Schauen wir wieder, geliebte Freunde, auf den Herrn. Der Zweck seines Wirkens war ja unermesslich größer, als der Zweck jedes menschlichen Werkes. Das Reich Gottes auf Erden zu bauen, die sündige Menschheit zu erlösen, aus tiefer Nacht zur lichten Höhe der Gotteskindschaft und Heiligung zu führen das war sein Beruf; dies der Wille des Vaters, den zu tun seine Speise war, dies das Gesetz, das vor ihm stand in strahlender Größe. Aber er wusste, dass das Größte nicht auf einmal vollbracht werde; dass er, nachdem er in menschliche Knechtsgestalt und damit in die Gesetze menschlicher Entwicklung eingegangen war, an Einem Punkt anzufangen habe, das Gottesreich zu begründen; er kannte als diesen Einen Punkt, diesen Ausgangspunkt für die Erneuerung der Welt das Gottesvolk des Alten Bundes; und so ward jenes große Gesetz der Welterlösung für ihn in seinem Erdenwandel zu dem kleineren und engeren Gesetz, den verlorenen Schafen des Hauses Israel nachzugehen, ihnen Buße zu predigen und Sündenvergebung anzubieten. Zu ihnen wusste er sich vom Vater gesandt, ob noch so Wenige unter ihnen sich ihm bleibend zuwandten, noch so Viele ihn verkannten und bald kreuzigten aus jenen Wenigen erwuchs ihm doch der Jüngerkreis, der hernach das Evangelium unter die Heiden tragen sollte, und diese Vielen mussten doch wider Willen, mit dem Kreuz, das sie aufrichteten, das Fundament der Welterlösung legen, mussten, durch ihre Verwerfung des Heils, das Heil den Heiden zuwenden. So war's denn keineswegs Engherzigkeit und Härte, sondern einfache klare Erkenntnis seines Berufs, einfache Beugung unter das vom Vater ihm gegebene Gesetz, dass der Herr in unsrem Text das kananäische Weib, die keine Tochter Israels war, abwies, sogar mit dem herben Wort: „Es ist nicht sein, dass man den Kindern das Brot nehme und werfe es vor die Hunde.“ Und doch macht der Herr schließlich eine Ausnahme. Wenn auch nicht im Großen und Ganzen, so doch in diesem Einen Fall unsres Textes überschreitet er, wie er mit seinem Fuß die Grenze Israels überschritten hatte, sie auch mit seinem Werk, indem er sich durch die Bitten des Weibs
erweichen lässt und der Mutter ihr Kind wiedergibt. Ist das ein Widerspruch gegen jene Beugung unter das Gesetz, das er selbst soeben so streng und feierlich proklamiert? Nein, im Widerspruch stünde es nur zu der Gesetzlichkeit, die unter allen Umständen und ohne höhere Gesichtspunkte beim Buchstaben stehen bleibt und dadurch eigensinnig wird. Es ist die Freiheit, die der Herr hier wahrt, die das innere Recht hat, aus höheren Gründen das Gesetz nicht umzustoßen, wohl aber darüber hinaus zu schreiten, nicht zu Gunsten der Zügellosigkeit und Ziellosigkeit, sondern zu Gunsten des größeren und weiteren Gesetzes, das ja für gewöhnlich im Rahmen des kleineren und engeren Gesetzes erfüllt wird, das aber hier in diesem Fall ein Heraustreten fordert. Es tritt an den Herrn Jesum heran ein Fall dringender Not im Heidenland, ein Herz von besonderer Empfänglichkeit im Heidenland, eine Gelegenheit seine Herrlichkeit und Wunderkraft vorbildlich zu offenbaren im Heidenland und darum wird der Hirte Israels hier zum Freund der Heidin, zum Weltheiland, von der ersten Stufe seines Werks steigt er zur zweiten, in königlicher Freiheit entbindet er sich von der Beschränkung des Gesetzes, nur Israel zu suchen und zu heilen, und erfüllt als Heiland auch der Heidenwelt das erhabene Gesetz, von dem jenes andere der Ausfluss ist: Die Mühseligen und Beladenen der ganzen Erde zu erlösen und zu beglücken.
Wohlan, in dem Herrn Geliebte, hier haben wir eine Harmonie zwischen Freiheit und Gesetz, die vom Herrn übergehen soll auf die Seinen. Wie wir beim Herrn Jesu unterschieden haben ein größeres und ein kleineres, ein weiteres und ein engeres, ein unbedingtes und ein bedingtes Gesetz, so auch bei uns. Freilich ist auch das große Grundgesetz unsres Lebens viel kleiner als das des Herrn. Wir haben nicht wie der Herr Christus das Gottesreich zu gründen, sondern auf dem Grund, der gelegt ist, es weiter zu bauen in unsrer eigenen Person und den Brüdern; haben selbst Bausteine und Bauleute, oder wie es vor drei Wochen hieß, Acker und Säemann zu sein, selbst wie es am Bußtag erklang zu üben und zu verkündigen: „Du sollst lieb haben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen und von ganzer Seele.“
Wahrlich die Aufgabe ist groß genug; wäre zu groß, ginge über unsre Kräfte, würde nur zu vielen Ansätzen aber zu keinen Früchten führen, wenn sie von Jedem von uns ein unbeschränktes Wirken in der ganzen Welt verlangte, wenn sie sich nicht zu dem kleinen und bestimmten Gesetz verengte, das der Schluss des Bußtagstextes uns brachte: „Du sollst diese Worte zu Herzen nehmen und sie deinen Kindern schärfen“ (5. Mos. 6, 10). Ja in der eignen Person und sodann in der Familie, im Beruf als den gottgeordneten Wirkenssphären die Liebe zu Gott zu bekennen und zu pflanzen und wachsen zu lassen zu Früchten der Gerechtigkeit; hier im engsten Kreis durch treues Zeugen von der Wahrheit und durch treue Erfüllung der Gatten-, Eltern-, Kindes- und Berufspflichten an dem Reich Gottes zu bauen, so dass es in deinem Herzen und in dem der Deinigen eine Stätte hat hier dein Kanaan, dein gelobtes Land zu finden, hier aus dir und aus denen, die dir angehören, ein heiliges Israel zu bilden, das Gott gefällt; das, lieber Christ, ist das Gesetz deines Lebens. Es ist viel einfacher als Manche es meinen und fürchten, viel enger, unsrer bescheidenen Kraft angemessener. Darum unter dies Gesetz stelle dich, durch dies Gesetz binde dich und fasse und sammle deine Kräfte, statt sie zu zersplittern und sie zu verbrauchen in eitler Vielgeschäftigkeit und Ruhelosigkeit, der man oft mit dem Dichter zurufen möchte: „Willst du in die Weite schweifen, Sieh das Gute liegt so nah.“ Willst du das Gute fördern durch alle möglichen Anstrengungen und anfangen an allen möglichen Stellen, um die kranke Menschheit zu heilen und das Gute, das du tun sollst und kannst, liegt so nah in der Familie, in dem Beruf, da übe Treue, da brauche deine Kraft, da setze dein Bestes ein erfülle ein Jedes dies ihm besonders verordnete Gesetz, das Reich Gottes wird mehr voranschreiten, als dadurch, dass so Viele über großen Zwecken und kühnen Flügen die enge Pflicht lässig erfüllen! - Freilich, gilt es ihnen zuzurufen: Zurück unter das Gesetz in die Schranken, so wird und muss andererseits denen, die sich unter das Gesetz stellen, es gesagt werden: Die Gesetzestreue werde nicht zur Gesetzlichkeit, sie hemme nicht die Freiheit, die jene engen Schranken des persönlichen Christentums, des Berufs und der Familie überschreiten darf, um in weiterem Umkreis dem größeren Grundgesetz zu dienen, das Reich Gottes auf Erden zu bauen. So weit zu solchem Wirken das dringende Bedürfnis, die vor unser leibliches oder geistliches Auge tretende Not der Brüder treibt, soweit ist es ja Pflicht für jeden Christen, ist es der selbstverständliche Abglanz seines persönlichen Christentums, seines christlichen Charakters in Haus und Beruf; und dieser Pflicht sich zu entziehen ist eine Herzenshärtigkeit, die sich vergeblich schmückt mit dem Vorgeben der Treue im Kleinen und der Kritik, die sie an der größer angelegten Arbeit zum Bau des Reiches Gottes übt. Freilich wie weit nun ein Christ an dieser Arbeit sich beteiligen, wie viel Kraft er dabei einsetzen will und ob er über die Linderung dringender Notstände hinaus an weiterschauenden und tiefergreifenden Werken der äußeren oder inneren Mission, des öffentlichen Lebens und seiner christlichen Gestaltung mitwirken will, das ist Sache seiner christlichen Freiheit, seiner inneren Kraft und seiner besonderen Neigung und Begabung. Es gibt ja auch hier zwei Klassen von gleich aufrichtigen und lebendigen Christen die einen mehr im Kreis der engsten Pflichten mit engem, zartem Gewissen sich bewegend, die andern tatenlustig mit weitem Blick und weitem Herzen. Und von ihnen werfe keiner einen Stein auf den andern. Die zweiten sollen von den ersten immer wieder lernen Treue im Kleinen, und dass all ihr Werk nicht Frucht schafft, sondern vergeht, wenn es nicht gebaut ist auf die Treue im Kleinen und wenn es schadet der Treue im Kleinen. Aber auch die ersten sollen den zweiten ihre Freiheit lassen, selbst wenn die Freiheit zur Kühnheit werden will, und sollen selbst sich durch sie aus einer gesetzlichen Gesetzestreue hinausführen lassen in die frische Atmosphäre des freien Wirkens, die in unserem Text weht, die durch die Jahrhunderte der Kirchengeschichte weht, und unter deren Hauch so viel Schönes und Gutes gesprosst ist. Wie hätte ein Luther die Reformation durchgeführt, wenn er nicht kraft höherer Freiheit kirchliche Ordnung und kirchliches Gesetz durchbrochen hätte, um das besser erkannte Reich Gottes zu bauen und die Mühseligen und Beladenen aus drückender Knechtschaft zur seligen Freiheit der Kinder Gottes zu führen. Offenbart sich doch in jener Freiheit das Höchste und Beste, das auch den Herrn Christus in unserem Text zur Überschreitung des Gesetzes trieb die Liebe, und muss doch diese nicht nur besiegen die falsche, herzlose Kälte, die sich oft unter der Gesetzlichkeit birgt, sondern auch die Strenge ergänzen und verklären, die mit der rechten Beugung unter das Gesetz Hand in Hand geht. Damit, in dem Herrn geliebte Freunde, kommen wir noch in wenig Worten
III.
auf den dritten Gegensatz, der heute in Jesu Wirken und Vorbild sich zuerst seltsam auftut und dann wundersam ausgleicht: der Gegensatz der Strenge und der Liebe. Strenge redet Jesus zuerst mit der Kanaaniterin, mit dem heidnischen Weib. E gehört zu seinen herbsten Worten, dass er sie mit den Hunden vergleicht, dass er ihr zwar nicht ihrer Person, sondern ihr als einem Glied der Heidenwelt jeden Anteil an seiner Person und an seinem Reich abspricht. Statt über diese Strenge Jesu uns aufzuhalten und darüber zu murren, wollen wir's uns gesagt sein lassen, dass es auch für uns eine Pflicht heiliger Strenge gibt, die sich scheidet von dem, was außerhalb des Reiches Gottes steht, von allem heidnischen Wesen im Aberglauben und Unglauben, von heidnischer Torheit und heidnischer Sünde, die nicht über alles den Mantel „christlicher Liebe“ legt, der doch nur ein Mantel der Weichlichkeit und Gleichgültigkeit ist, die vielmehr gegen die Sünde zeugt, sauer nicht süß und nicht schwarz weiß nennt, die nicht das ganze oder halbe Leugnen Gottes und Jesu Christi auch noch als Christentum, den ganzen oder halben Leichtsinn auch noch als Ehrbarkeit gelten lässt; eine Strenge, die Zucht zu üben weiß wie an sich selbst, so an Andern, die unter Umständen mit blutendem Herzen geistliche Gaben versagt, wenn es hieße, die Perlen vor die Hunde werfen, und die sich selbst genötigt sehen kann, unter Umständen mit irdischen Gaben zurückzuhalten, wenn sie erkennt, dass diese nicht der Linderung der Not, sondern der Üppigkeit und Trägheit dienen. Ja, in allen diesen Stücken gilt es für uns, heilige Strenge herein zu gewinnen in unsere Gedanken, Worte und Werke, her von dem Vorbild Christi, dessen Bild uns nicht nur die Züge der Sanftmut und Demut zeigt, sondern oft auch herbe Züge, die dem natürlichen Menschen wohl unverständlich, unsympathisch sind und bleiben müssen; die aber ein ebenso wichtiger und schöner Abglanz seiner Herrlichkeit sind wie die lieblichen. Es gilt mehr, dessen eingedenk zu sein, dass wir nicht von der Welt sind, und in unserem Gewissen eine heilige Mauer aufzurichten, die uns von der Welt trennt. Freilich diese Mauer darf nie zur unübersteiglichen Scheidewand werden; die Strenge nie zur unheiligen Härte, hinter der sich Selbstsucht und Selbstgerechtigkeit verhüllt. Die Liebe, die in unserem Evangelium auf die strenge Abweisung der Kanaaniterin die köstliche Erfüllung ihrer Bitte folgen lässt diese Liebe strahle vom Herzen Jesu in unser Herz und Leben herüber, sie nehme der Strenge den bitteren Stachel und gebe der heiligen Flamme, die in unserer Seele glüht, allezeit die erleuchtende und erwärmende Kraft! Was ist es denn, das die Wendung im Evangelium herbeiführt, das die Liebe aus dem Hintergrund des Heilandsherzens in den Vordergrund zieht? Es ist des Weibes Not, die so dringend und rührend aus der dreifachen Bitte klingt: „Herr, erbarme dich mein,“ und es ist des Weibes Glaube, der so mutig wie demütig, so inständig wie bescheiden sich mit den Brocken begnügen will, die von dem reichen Gnadentisch Jesu fallen. Jener Not kann Jesu Herz sich nicht verschließen, ob's auch eine Heidin ist, nicht ein Kind Israels, die keinen Anspruch hat auf seine Hilfe, und diesen Glauben kann er nicht verschmähen, ob ihm gleich die volle Klarheit fehlt. „Weib, dein Glaube ist groß“ - spricht er tief ergriffen, „dir geschehe, wie du willst“ und ihre Tochter ward gesund zu derselbigen Stunde, und ein Wunder war damit vollbracht, in dem leibliche und geistliche Hilfe, in dem Heilung von Krankheit und Überwindung der bösen Macht sich verknüpften zu einem erhabenen Denkmal und Vorbild der helfenden Liebe, die der Herr bereit hat für alle Leibes- und Seelennot auf Erden, für den Glauben, der ihn kindlich sucht und ihm vertraut. Und solche Liebe, in dem Herrn Geliebte, haben mit dem Herrn auch seine Jünger stets bereit, eine Liebe, nicht urteilslos und maßlos, nicht ohne das Salz der heiligen Strenge, aber eine Liebe, die da überall hilft, wo wirkliche Not ist, die die leibliche Not leiblich lindert mit den ihr verliehenen Kräften und Gütern, die der geistlichen Not begegnet, indem sie die Betrübten und Irrenden zu Christo führt eine Liebe, die mit ganz besonderer Lust da hilft, wo sie Glauben findet, sei's ein voller klarer Glaube, oder nur eine Sehnsucht nach Erlösung und Heiligung. Ja, wenn uns so ein kananäisches Weiblein begegnet selten genug, und doch oft genug, um unsern Glauben an die Menschheit nach trüber Erfahrung zu erfrischen und zu heben da ist's eine Lust zu helfen, da kann auch am kräftigsten und erfolgreichsten geholfen werden, denn da kommt unserer Hilfe der rechte Sinn entgegen, der geistliche Hilfe wert schätzt und irdische wohl verwendet! Der Herr schenke uns in unserem Liebeswirken hie und da solch' erquickende Erfahrung! Er gebe uns Allen den Blick der Liebe für die Genossen des kananäischen Weibleins, die uns oft unvermutet, in „heidnischer“ Umgebung begegnen; Er gebe uns vor allem selber den Sinn des kananäischen Weibleins, dass wir mit unsern Mängeln und Nöten zu Ihm kommen und von Ihm uns schenken lassen, was wir brauchen im Irdischen und im Geistlichen, Gnade um Gnade, Gabe um Gabe: Zur rechten Stille die rechte Wirkensfreudigkeit, zu rechter Gesetzestreue die rechte Freiheit, zur rechten Strenge die rechte Liebe!
Ja, zünde deine Liebe
In meiner Seele an,
Dass ich aus inn'rem Triebe
Dich ewig lieben kann,
Und dir zum Wohlgefallen
Beständig möge wallen
Auf rechter Lebensbahn! 1)
Amen.