Bodelschwingh, Friedrich von - Einen Augenblick
Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.
Jes. 54,7
Wir stehen in der Leidenszeit, und der Herzog unserer Seligkeit, von dem geschrieben steht, dass es dem Vater wohlgefallen habe, ihn durch Leiden vollkommen zu machen, steht in seiner Leidensgestalt vor unsern Augen. Unter den Leiden aber, die unser hochgelobter Leidensherzog durchlitten hat, ist wohl, soweit Menschenaugen sehen können, das Schwerste gewesen, dass Stunden gekommen sind auf Golgatha und vielleicht schon in Gethsemane, da er seines Vaters Nähe nicht spüren konnte, dass sich Psalm 22 an ihm erfülle: „Mein Gott, des Tages rufe ich, und du antwortest mir nicht“ - bis es zu dem Schrei kam: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Das ist ein Geheimnis, welches unser Herz nicht zu fassen vermag, und was in dieser Leidenszeit uns bewegen soll, ist dies: „Jesus für uns;“ - aber dann darf es doch auch nicht fehlen: und „wir mit ihm“ leidend.
Und da gilt es, dass wir uns in keinem Stück der Leidensstraße entziehen, die er uns führt. „Wo ich bin,“ so spricht er, „da soll mein Diener auch sein.“ „Es ist das Wohlgefallen gewesen, dass er in allen Dingen den Vorgang habe.“ Aber es ist auch das Wohlgefallen, dass wir nun genau in seine Fußstapfen treten und nicht zurückbeben, auch wo wir ihm nach durch Leidenstiefen müssen.
Und da will ich nun noch sagen, dass wir auch in unsern Leidensstunden dies als etwas besonders Schweres rechnen, wenn wir seine Nähe nicht festhalten können, wenn alles Gefühl weggenommen ist und man soll im dunkeln Glauben wandeln. Wenn die arme müde Leibeshütte noch so sehr gedrückt wird, das ist nur ein kleines Leid gegen dieses Verlassensein von unserm Heiland. Aber gelobt sei er, dass dies nicht nur von ihm für uns getragen ist, sondern dass er es auch vorher gesagt hat, dass solche Stunden über uns kommen werden; und wir alle haben es auch schon erfahren, dass sie kommen. Seht in eure eignen Pilgerwege zurück; alles mag über uns ergehen, so lange es heißen kann: „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde.“ Aber wenn das kommt: „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich dein erbarmen.“ Und dann wird der Regenbogen der Gnade hoch aufgerichtet! „Ja, es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer“
Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1925