Blumhardt, Christoph - Andachten zum Buch des Propheten Hesekiel

Blumhardt, Christoph - Andachten zum Buch des Propheten Hesekiel

Hesek. 16,6.

Ich ging vor dir über und sahe dich in deinem Blute liegen, und sprach zu dir, da du in deinem Blute lagst: Du sollst leben! Ja, zu dir sprach ich, da du so in deinem Blute lagst: Du sollst leben!

Israel ist's, das der HErr hier anredet. Dieses Volk stand einst in peinlicher Knechtschaft und war von den Aegyptern sogar mit seinem Untergang bedroht. Dann um seine Zunahme zu verhindern und seine Abnahme zu bewerkstelligen, war ein Befehl ausgegangen und lange im Schwange, daß alle neugebornen Knäblein sollten in den Nil geworfen werden. Da konnte wohl das ganze Volk als im Blute liegend angesehen werden. Auch sonst wurde das Volk mit harten Arbeiten bis auf's Blut gequält. Aber Gott sagte: „Du sollst leben!“ Er hat das Volk aus der Knechtschaft herausgeführt, hat es selbständig und groß gemacht und unter Seine eigene Hut gestellt, daß es ein Volk wurde, wie kein anderes auf Erden.

Solches hält der HErr dem Volke vor, zur Zeit des Hesekiel, da bereits die zerstörenden Feinde im Lande waren, um es etwa durch die Erinnerung an die Barmherzigkeit, die Gott vormals an ihm gethan, zur Besinnung zu bringen und von seinen bösen Wegen, welche die Gerichte herausforderten, abzuwenden. Denn nach dem das Volk lebendig und groß geworden war, hat's angefangen, seinen Retter, den HErrn Zebaoth, von sich zu weisen und eigene Wege zu gehen. Nun handelte sich's wieder darum, ob es leben oder sterben sollte. Das Volk hörte nicht und blieb undankbar. Schrecklich ging's daher zu, bei der Zerstörung Jerusalems, da mit wenigen Ausnahmen das ganze Volk erschlagen oder abgeführt wurde.

Die Erinnerung an empfangene Gnaden in Zeiten großer Noth sollte der Mensch nie vergessen. Aber oft sind die Menschen jener Schlange gleich, welche, als sie vor Kälte erstarrt war, von einem Wanderer in den Busen genommen wurde, und kaum warm und lebendig geworden, ihrem Wohlthäter den Todesstich gab. In dieser Weise machens Viele: Wenn sie warm geworden und unter der Gnade des HErrn, werden sie muthwillig sind schlagen ihrem Retter in's Gesicht. Ueberhaupt ist das Vergessen eines elenden Zustandes, in dem man je und je sich befand, etwas Gewöhnliches bei den Menschen, sobald die Besserung des Zustandes eingetreten ist. So hat auch die Christenheit längst vergessen, aus welcher Barbarei sie einst herausgerissen worden ist. Sie würde sich wohl viel demüthiger zu ihrem Heiland stellen, wenn sie erkennete, was durch die Gabe des Evangeliums an ihr geschehen ist. Beurtheilen könnte sie das schon, wenn sie hörte, wie jammervoll es bei solchen Völkern aussieht, denen bis auf den heutigen Tag dasselbe Glück nicht widerfahren ist.

Möchte doch Keines die erfahrene Liebe und Freundlichkeit Gottes vergessen! Alle könnten, wenn sie aufmerkten und dran dächten, von Wundern erzählen, die der HErr, von Kindesbeinen an, an ihnen gethan hat. Aber sie haben's vergessen; und nur zu häufig stellen sie sich so fern von Gott, daß dieser in ähnlicher Weise sie züchtigen muß, wie einst Israel. Wer weiß, was unser und unseres ganzen Volkes noch wartet! Die Zeiten mahnen an schwere Berichte, die kommen werden, weil wir nicht mehr bedenken, wie viel Dank wir unserm HErrn und Erbarmer schuldig sind, und durch Gottes Güte uns nicht zur Buße leiten lassen.

Mel. Womit soll ich Dich wohl.

HErr, entzünde mein Gemüthe,
Daß ich Deine Wundermacht,
Deine Gnade, Treu und Güte
Froh erhebe Tag und Nacht,
Da von Deinen Gnadengüssen
Leib und Seele zeugen müssen.
Tausend, tausendmal sei Dir,
Großer König, Dank dafür!

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