Blumhardt, Christian Gottlieb - Lazarus, der Kranke, Sterbende und Auferweckte - Die Glaubensprüfung

Blumhardt, Christian Gottlieb - Lazarus, der Kranke, Sterbende und Auferweckte - Die Glaubensprüfung

Jesus aber hatte Martham lieb, und ihre Schwester und Lazarum. Als Er nun hörte, dass er krank war, blieb Er zwei Tage an dem Orte, da Er war.
Joh. 11,5.6

1.

Soll eine Pflanze im Erdboden tiefe Wurzeln fassen, und eine lange Dauer erhalten, so müssen selbst Sturmwinde und Ungewitter das Ihrige dazu beitragen, ihr Wachstum und ihre volle Reife zu vollenden. Was in kurzer Zeit und auf leichtem Wege seine Reife erreicht, geht eben so bald unter geringen Hindernissen wieder zu Grunde. Mit sichtbarer Schnelle schießt die Sonnenblume auf, und entfaltet bald unter dem wohltätigen Einfluss der erwärmenden Sonnenstrahlen ihre bezaubernden Reize; aber eben so schnell welkt in schwüler Sonnenhitze ihre Schönheit wieder ab, und ein kleines Ungewitter stürzt sie zu Boden. Ganz anders ist die Entwicklung und das Wachstum der hohen Eiche. Nur langsam sprosst ihr Keim aus dem Erdboden hervor; eine lange Reihe von Jahren geht dahin, ehe sie sich tief in den Erdboden eingewurzelt, und einen Stamm getrieben hat; drückende Sommerhitze und tötender Winterfrost härten sie ab, und entwickeln in allmähligem Stufengang ihre undurchdringliche Rinde. So reift sie langsam zur hohen Eiche heran, gräbt immer tiefer ihre Wurzeln in den Boden ein, und trotzt nun Jahrhunderte lang den tobenden Ungewittern und den harten Winterstürmen. Dies ist Gesetz im Reiche der Natur. Der wilde Kampf der Elemente ist das Mittel, den Pflanzen des Erdbodens Nahrung, Festigkeit und Dauer zu geben.

Diese Ordnung der Natur ist auch Ordnung in dem unsichtbaren Reiche der Gnade. Soll im Garten Gottes eine Pflanze für Ewigkeiten reifen, soll sie tief wurzeln, und den Sturmwinden und Ungewittern der Trübsal ausdauernden Widerstand leisten lernen, so muss sie in dem rauen Klima der Welt durch mannigfaltigen Kampf allmählig groß erzogen, und in den harten Stürmen prüfender Anfechtung gebildet werden. - Dies war von jeher Gang Gottes in der Erziehung und Bildung seiner Lieblinge auf Erden; und gerade diejenige unter ihnen, aus welchen Er schon hienieden etwas Vorzügliches machen wollte, wurden mehr als Andere in diese Bildungsschule eingeführt. Unter schweren Prüfungen und herrlichen Aushilfen ward ihr Glaube allmählig zum Leben hervorgerufen; durch eine Reihe tiefdrückender Anfechtungen aus seiner Kindheitsschwäche zur Jünglingskraft erzogen, und auf dunkeln Gängen des stillen geheimnisvollen Harrens zur männlichen Reife gebracht. So wurden nach dem Zeugnis der Geschichte alle ausgezeichnete Bibelmenschen für das Reich Gottes groß erzogen.

Abraham, der Vater der Gläubigen, unter welchen schweren Kämpfen, durch welches geheimnisvolle Dunkel musste allmählig sein Glaube zur Reife gebracht werden! In seinem Lebensgang löste eine Prüfung die andere ab; und kaum war eine dunkle Strecke seines Glaubenswegs zurückgelegt, so verdunkelte eine neue, für sein Auge undurchdringliche Wolke seinen ferneren Gang, und er musste die verborgene Führung seines Gottes in stiller Geduld auswarten, und sich mit der Verheißung einer besseren Zukunft trösten. Joseph musste vorerst von seinen hartherzigen Brüdern als Sklave nach Ägypten verkauft, aus Potiphars Hause um seiner frommen Rechtschaffenheit willen verjagt, und mehrere Jahre lang in einem finsteren Kerker in geduldigen Harren auf die verborgene Hilfe des Gottes seiner Väter geübt werden, ehe er zum ersten Staatsdiener an Pharaos Hofe erhoben, und zum Segen für ganz Ägyptenland und für seine Familie gesetzt werden konnte. Auf welchen dunkeln Pfaden musste David, der Mann nach dem Herzen Gottes, einsam umher irren, wie lange unter den härtesten Prüfungen seines Vertrauens auf Gott auf Licht und Hilfe warten lernen, ehe er den verheißenen Thron besteigen, und als Diener Gottes das israelitische Volk regieren durfte. Und Jesus Christus selbst, der Anfänger und Vollender des Glaubens, hat nicht auch Er in dieser Schule des unbedingten Gehorsams und der beharrlichen Geduld auf die Stunde seiner Verherrlichung warten gelernt? War nicht sein ganzes Leben von dem ersten Augenblick seiner segensreichen Geburt bis auf die letzte Stunde seiner siegenden Vollendung am Kreuze, eine ununterbrochene Reihe ausgezeichneter Glaubensprüfungen und hart-angreifender Leidenskämpfe gewesen, bis sich sein dunkler Erdenlauf und seine finstere Todesnacht mit seiner Erhöhung zur Rechten seines Vaters und mit der Erlösung des ganzen Sündergeschlechts endigte.

Auch Lazarus und seiner frommen Schwestern frommes Vertrauen auf die Macht und Liebe Jesu sollte eine harte Feuerprobe durchlaufen, nicht um den verborgenen Funken desselben durch bange Zögerung der Hilfe auszulöschen, sondern um demselben durch eine desto größere Verherrlichung der Allmacht Jesu eine unerschütterliche Stütze zu geben.

2.

Jesus aber, so fährt unsere immer wichtiger werdende Geschichte fort, Jesus aber hatte Martham lieb, und ihre Schwester und Lazarum. Diese Bemerkung schickt der Evangelist Johannes absichtlich voraus, ehe er uns sagt, dass sein sonst so hilfreicher Meister auf die Nachricht von der gefährlichen Krankheit seines Freundes Lazarus noch zwei Tage jenseits des Jordans verweilt habe, ehe Er dem sterbenden Liebling und den bekümmerten Schwestern zu Hilfe eilte. Er will dem Leser zum voraus das voreilige Urteil abschneiden, als ob der Heiland sich um die Krankheit seines Freundes nichts bekümmert habe, und ihn in die Fassung sehen, einen desto herrlicheren Ausgang des rätselhaften und zweideutig scheinenden Ausbleibens Jesu zu erwarten. Zu solchen voreiligen und unbefugten Urteilen über die verborgene Handlungsweise unsers HErrn ist der kurzsichtige Menschengeist, der Alles nur nach der Ansicht des gegenwärtigen Augenblicks, und nach dem ersten Eindruck, den eine Sache auf ihn macht, zu berechnen pflegt, gar zu sehr geneigt. Wie bald ist es geschehen, dass wir mit den Wegen Gottes unzufrieden werden, wenn nicht Alles sogleich nach unserem Wunsche geht, und wir den glücklichen Ausgang einer uns bekümmernden Angelegenheit nicht vor Augen sehen. Ungestüm und anmaßend verlangen wir Hilfe in der Zeit der Not, schreiben Gott den Tag und die Stunde und die Art und Weise vor, wann und wie wir seinen allmächtigen Beistand, um den wir flehen, von Ihm erwarten; und wird nun unser Eigensinn nicht befriedigt, lässt uns Gott auf Licht und Aufschluss warten, hilft Er auf seine eigene, uns nicht sogleich in die Augen fallende und unserm fleischlichen Sinn angemessene Weise, so zagen und murren wir, und beschuldigen Gott, uns vergessen zu haben; oder es wird uns doch schwer, in solchen dunkeln Stunden der Prüfung den zuversichtlichen Glauben festzuhalten, dass Er uns auch jetzt noch liebe. Ist dies nicht oft Geschichte deines Herzens, leidender Christ? Hast du dir nicht schon öfters deine Leiden durch finstere Unzufriedenheit und bange Ungeduld noch härter gemacht, und den Himmel deiner Seele getrübt? Kostete es dich nicht bisweilen große Überwindung zu glauben, dass Gott auch alsdann dich liebe, wenn Er sich hart zu stellen scheint, und die ersehnte, so notwendig geglaubte, und so zuversichtlich erwartete Hilfe verzögert? Lerne es hier Johannes, dem vertrautesten Schüler des Herzens Jesu, auf sein klares Zeugnis hin glauben, dass man ein Freund Jesu und von Ihm zärtlich geliebt sein könne, ohne gerade zu der nämlichen Zeit und auf die nämliche Weise, wie das Herz es wünscht, seiner Hilfe froh zu werden; dass Er sich in der Stunde der Trübsal verbergen, und sich dem suchenden Blicke deines Glaubens eine Zeitlang entziehen könne, ohne darum deiner zu vergessen, und deines stillen Kummers nicht zu achten. Gib deswegen den beruhigenden Glauben an seine zärtliche Liebe und zuvorkommende Hilfsbegierde nicht auf, weil Er nicht sogleich tut, was dein Wille will. Wie kannst du sein Jünger sein, und dennoch von Ihm verlangen, dass nicht du Ihm, sondern Er dir folge?

3.

Je mehr Jesus Christus ein Menschenherz liebt, desto mehr macht Er sich's zum Geschäft, das Vertrauen desselben auf Ihn unter mancherlei Umständen zu üben, und seine Anhänglichkeit an Ihn auf die Probe zu sehen. Selbst seine scheinbare Härte, das bange-machende Verbergen seines Naheseins, die prüfende und tiefschmerzende Zögerung seiner längst erwarteten Hilfe ist Liebe; und zwar eben darum, weil Er dich warten zu lassen für gut findet, wahrlich noch größere Liebe, als wenn Er deinem Wunsche gemäß sogleich mit seiner Hilfe vor dir stünde. Er will dir Größeres schenken, als du gebeten hast; und darum wartet Er die Stunde ab, wo dir's gegeben werden kann. Er will sich dir noch herrlicher offenbaren, als Er es im gegenwärtigen Augenblick tun könnte; und darum lässt Er durch Zögerung der Hilfe deine Not noch größer werden, um dir aus größerer Not helfen zu können. Du sollst Ihn nicht bloß nach den ersten Anfängen seiner Macht und Liebe, sondern nach ihrem unbegrenzten Umfange kennen lernen. Dein Glaube soll erfahren, dass keine Not Ihm zu groß ist, aus der Er dich nicht zu retten vermöchte; dass keine Verlegenheit zu hoffnungslos ist, wo Er nicht Rat zu schaffen wüsste. Eben darum lässt Er die Not steigen, und die Verlegenheiten sich häufen. Die engen Grenzen deines Zutrauens zu Ihm sollen erweitert, und allmählig ganz hinweggeschafft werden. In seinem Zögern soll dein Herz den beruhigenden Beweis finden lernen, dass Er nur um so herrlicher dir zu helfen bereit sei. Dazu wartet Er die rechte Stunde ab, welche für Ihn und dich die beste ist. Sollte das nicht Liebe heißen? Sollte Er darum weniger vertrauenswürdig sein, weil Er dir durch sein Säumen zu erkennen geben will, dass Er auch das Unmögliche möglich machen, und die kühnsten Hoffnungen des Glaubens unendlich weit übertreffen könne? - O der weisheitsvollen Liebe, die sich durch die Sattheit und eingeschränkte Genügsamkeit unserer Herzen so oft gehemmt und gedrückt fühlen muss. Dem armen Bettler, der einen Heller von Ihm verlangt, möchte Er gerne Tausende schenken; - aber er eilt zu bald von seiner Türe hinweg, und verscherzt durch Ungeduld die reiche Gabe des großmütigsten Wohltäters. Aus der ängstlichen Knechtschaft des herzverengenden Kleinglaubens möchte Er uns gar zu gern in den Adelstand des allesvermögenden Heldenglaubens, aus dem engen Kreise unserer kleinlichen Selbstgenügsamkeit in die grenzenlose Weite der herrlichen Freiheit und des mangellosen Wohlstandes der Kinder Gottes versehen; - aber wir warten seine Stunde selten geduldig ab, und berauben Ihn dadurch der Gelegenheiten, statt des Kleinen das Größte uns erzeigen zu können. Diesen schönen Stufengang des kindlichen Vertrauens, dieses allmählige Emporsteigen zur Unüberwindlichkeit des Glaubens ist das große Ziel, das Er bei seinen Prüfungen stets im Auge behält. Je einfacher und schneller Er diesen Zweck bei uns erreichen kann, desto näher sind wir seiner Hilfe und der Erhörung unsers Gebets.

4.

Jesus aber hatte Martham lieb, und ihre Schwester und Lazarum. Wen Jesus Christus, der tiefste Herzenskenner, lieben kann, der muss in der Wahrheit etwas Liebenswürdiges an sich haben. Seine Liebe lässt sich durch täuschende Außenseiten nicht blenden, und durch schöne Worte nicht erschmeicheln. Es sind nicht die glänzenden Großtaten einer selbstsüchtigen Tugend, die seine Liebe wecken und an sich ziehen. Lazarus und seine beiden Schwestern wussten wohl nichts dergleichen aufzuweisen, um sich dadurch der Liebe Jesu wert zu machen. Aber was war es denn, das sein Herz an diese stille Familie zog, und sie in seinen Augen liebenswürdig machte? Sie hatten ein Zutrauen zu Ihm, hatten ihre Ohren und Herzen seiner göttlichen Lehre geöffnet, hatten tiefe Ehrfurcht und glaubensvolle Liebe gegen seine Person gefasst; Er konnte ihnen etwas sein und etwas mitteilen; wenn Er sie besuchte, fand er ein lebendiges Bedürfnis nach Ihm, und einen offenen Zutritt zu ihren Herzen. Was Er zu ihnen sprach, galt ihnen viel; sie wussten es hochzuschätzen und sich zu nutz zu machen. Das, das machte sie in seinen Augen liebenswürdig. Kennt Jesus dein Herz auch von dieser Seite? leidender Christ! Du grämst dich, dass du unter deinen Leiden nicht so viele gute Handlungen tätiger Menschenliebe verrichten kannst, als du gern möchtest. Du klagt über die mannigfaltigen Einschränkungen, welche deine körperliche Schwachheit in deinem wohltätigen Wirkungskreise verursacht. Du fürchtest sogar, der Liebe Jesu weniger wert zu sein, weil du nicht so ausgebreitet und kraftvoll wirken kannst als in gesunden Tagen. So erscheint dir dein Krankenbett, auf dem du mit deiner Kraftlosigkeit kämpfst, als eine drückende Fessel seines gnädigen Wohlwollens, und schwächt dein Zutrauen zu Ihm.

Aber nach diesem Allem solltest du nicht zuerst fragen, wenn du auf deinem Schmerzenslager der Liebe Jesu zu dir gewiss werden willst. Frage dich lieber zuvor: Fühle ich ein Bedürfnis nach Ihm, das mir kein Mensch und kein Engel, sondern nur Er allein auszufüllen vermag? Wohin geht die Sehnsucht meines Herzens zuerst und vor allem Andern? Gelten mir seine Aussprüche etwas? Ist mir das Andenken an Ihn teuer und willkommen? Beuge ich mich unter seine gegenwärtige Fügung, und verehre ich auch unter Leiden sein Tun? Kann ich es Ihm zutrauen, dass Er mir in meiner gegenwärtigen Lage helfen könne und wolle? - Wo suche ich Trost für dieselbe, den ich so sehr bedarf? In seinem Wort? in seinen Verheißungen? in den Zusicherungen seiner allesvermögenden Liebe? Oder in allerlei zerstreuenden Gedanken und eitlen Hoffnungen? In der Geschicklichkeit meines Arztes und der sorgfältigen Pflege meiner Anverwandten? Was erheitert in trüben Stunden meine Seele am kräftigsten? Ehre ich seinen Willen durch stille Geduld und Leidensgelassenheit? Bin ich es gewiss, dass der Weg, den Er mich gegenwärtig führt, der beste ist, den Er mich jetzt führen kann? Benutze ich diese Zeit zu meiner Selbsterkenntnis, zur Demütigung vor Ihm über meine begangenen Sünden, zur Stärkung meines Vertrauens auf seine allmächtige Liebe? Nach diesem frage zuerst; und kannst du dir eine beruhigende Antwort auf diese Fragen geben, so glaube, dass dich Jesus lieb hat. - Welch ein süßer Trost ist diese Gewissheit der Liebe Jesu in der drückenden Leidensstunde! Mit ihr kämpft man sich sicherlich durch Alles hindurch; sie ist einziges Labsal gegen die Schmerzen des Körpers und der Seele, und das sicherste Beruhigungsmittel, wenn wir von mancherlei beunruhigenden Kümmernissen umher getrieben werden, und in dieser Welt kein stilles Ruheplätzchen zu unserer Erholung finden. Was uns diese Erde nicht zu geben vermag, das gibt uns Jesus Christus, wenn wir unter die Anzahl seiner geliebten Freunde gehören.

5.

Freilich geht's in dieser Schule nicht immer nach unsern, wenn auch noch so gutgemeinten, Ansichten und Wünschen. Die Stunde sowohl als die Art und Weise, wie uns Jesus Christus helfen will, hat Er seiner Weisheit vorbehalten. Er handelt hierin ganz uneingeschränkt nach dem, was Er für unser Heil und seine Verherrlichung am angemessensten findet. So machte Er es mit Lazarus, seinem kranken Freunde, und den beiden frommen Schwestern desselben. Denn als Er hörte, „dass Lazarus krank liege, blieb Er noch zwei Tage an dem Orte, da Er war.“

Wer Jesum nicht kennt, und nicht Sinn genug hat, in den ganzen Plan seiner weisheitsvollen Liebe einzutreten, muss in seiner Handlungsweise Manches rätselhaft und anstößig finden, das dem aufmerksamen Schüler seiner himmlischen Weisheit in kurzer Zeit klar und anbetungswürdig ist. Warum eilt Er nicht sogleich auf die Nachricht von der gefährlichen Krankheit seines Freundes dem Hause desselbigen zu? - Wozu dieses langsame Zögern der Hilfe, indes der Kranke mit jeder Stunde heftiger leidet, und dem ausgestreckten Arme des Todes unaufhaltsam entgegen eilt? Was muss überdies eine Maria, eine Martha am Krankenbette des geliebten Bruders beim Anblick der stündlich zunehmenden Gefahr ausgestanden haben? Liebte sie Jesus wirklich, warum riss Er sie nicht je bälder je lieber aus dieser brennenden Leidensglut, die mit jedem kommenden Augenblick ihrer Hoffnungen weniger machte? So denkt und fragt der Mensch, welcher die Wege des HErrn noch nicht gehörig versteht, und den Wert der Hilfe bloß nach der bäldern oder späteren Leidens-Entlastung berechnet. O der ungeduldigen Weichlichkeit des Menschen, die im Schmerzen nichts als Schmerz, und nicht Bildungsmittel unserer unsterblichen Seele, nicht Verherrlichungsplan Gottes und Jesu Christi sieht. Dieser schimpflichen Leidensflüchtigkeit schont Christus nicht. Er lässt leiden, um seine Hilfe zu offenbaren, und schwerer leiden, um seine herrliche Macht desto überraschender und auffallender darstellen zu können. - Ruhig und gelassen geht Er seinen Verherrlichungsgang mit den Seinigen vorwärts; scheint unempfindlich gegen die Seufzer der Elenden, und gehörlos gegen das Wehklagen der Betrübten. Die Nacht wird mit jeder Stunde dunkler, das Leiden größer, die Lage hoffnungsloser, sein Angesicht verborgener; - jeder Strahl der tröstenden Hoffnung erlöscht; - jeder Augenblick wird entscheidender; - man ist in Gefahr, an Gottes Wegen und Fügungen irre zu werden; die Hilfe scheint jetzt unmöglich geworden zu sein; - das Herz ist erschöpft, der letzte Trost verschwunden und siehe! Jesus Christus stehet vor der Tür, bedauert den wankelmütigen Kleinglauben; spricht ein kurzes Wort, und schon ist überschwänglich geholfen.

6.

So handelt Jesus mit seinen auserwählten Lieblingen, von denen Er mehr als von Andern erwarten, denen Er mehr als seinen gewöhnlichen Schülern zu tragen auflegen darf. Zu einem Hauptmann von Kapernaum, der um die Genesung seines kranken Knechts bittet, sagt Er: „Ich will kommen, und ihn gesund machen;“ und siehe, sein Knecht wird gesund zu derselbigen Stunde (Matth. 8,5-13). Zwei Blinde rufen sein Erbarmen an; Er steht stille, spricht ein Wort der Allmacht, und sie sehen. (Matth. 9,27 f.) Der einzige Sohn einer Witwe wird zu Grabe getragen; die trauernde Mutter folgt weinend dem Sarge; Er heißt die Träger stille stehen, und weckt mit einem gebietenden Ruf den Toten auf. (Luk. 7,17 f.) Aber mit einer Glaubensheldin aus Syrophönizien, die für ihre kranke Tochter bei Ihm Trost und Hilfe sucht, spricht Er hart, und scheint ihr die erflehte Hilfe zu versagen, um ihr dadurch Anlass zu geben, den schönsten Glaubenssieg zu erkämpfen, den noch kein Israelite erkämpft hatte. (Matth. 15,22.) Seinen Liebling Lazarus lässt Er mehrere Tage nach Hilfe schmachten, und am Ende sterben, ehe Er kommt; damit die Ehre seines Vaters, so wie seine uneingeschränkte Wundermacht desto herrlicher geoffenbart, und dem Glauben der Seinigen eine desto festere Grundlage gegeben werden möchte. Paulus, einer der ersten Apostel unsers HErrn, wird mit Satans Fäusten geschlagen, und erhält auf sein dreimaliges Flehen um Hilfe den Zuspruch: Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig;“ - Er musste unter diesen schweren Leiden geprüft werden, damit er sich der hohen Offenbarungen nicht überhübe. (2. Kor. 12,7 f.) Mühe und Arbeit, Hunger und Durst, Frost und Blöße, Gefängnis und Misshandlung, Steinigungen und Todesgefahren waren sein Los, um sich selbst der Trübsal rühmen und aus Erfahrung sagen zu können: In dem Allem überwinden wir weit, um deswillen, der uns so hoch geliebt hat.“ (Röm. 8,37.) Halte dich an diesen Gang der verborgenen Weisheit und Liebe unsers HErrn, leidender Christ! wenn dir die Hilfe zu lange zu zögern, und deine Last sich täglich zu mehren scheint. Glaube, dass das Säumen Jesu größere Liebe als sein Kommen ist. Der Ferngeglaubte wird nicht immer fern bleiben; der Verborgene nur um so herrlicher sich darstellen. Seine Liebe wird sich stets zu rechtfertigen wissen, wenn Er noch so lange ausbleiben, und deine läuternde Prüfungsstunde verlängern sollte. Er wird dir zur rechten Stunde nahe werden, wie Er dir noch niemals nahe war; und du wirst niederfallen, dich deines Kleinglaubens schämen, und in tiefster Demut seine unergründliche Weisheit und Liebe anbeten.

In solchen Stunden der Entscheidung kommt Alles darauf an, dass wir uns an den Buchstaben der Verheißungen Gottes glaubensvoll festhalten, und uns durch Unglauben und Kleinglauben den hohen Sinn derselben nicht vermindern und schwächen lassen. Nicht ganz trostlos war die fromme Familie in Bethanien in ihrer leidensvollen Lage. Sie hatten ein Wort Jesu, das ihnen unaussprechlich viel versprach. Nicht sterben, sondern leben sollte der geliebte Bruder; dies hatte ihnen ihr zutrauenswürdige Freund verheißen. Und ob Er gleich lange ausblieb, und ihnen der Sinn seiner trostreichen Antwort durch sein Zögern immer dunkler werden musste, so hatte Er ihnen doch gesagt: Dass die Ehre Gottes und die Verherrlichung seines Sohnes der schöne Erfolg des Ausgangs ihrer Leiden sein würde. Dies war für diesmal zu ihrer Aufrichtung genug. Und auch dir wird in der Stunde der Widerwärtigkeit ein solches kraftvolles und inhaltreiches Wort Gottes zur Stärkung deines Glaubens gegeben werden, Leidender! auf dem du in deiner Schwachheit sicher ausruhen kannst. Halte dich an diesen Stab, wenn du den Weg auch nicht sehen solltest; er wird dich sicher zum herrlichsten Ziele leiten. Lass dich den Kleinglauben und den Unglauben an der Wahrheit der Zusagen Gottes und Jesu nicht irre machen; - klammere dich nur desto fester an dieselben an, je weniger dein Auge sieht. Dem Gerechten muss das Licht in der Finsternis aufgehen, und sein kindliches Vertrauen wird nimmermehr zu Schanden werden.

Ja! Es ist gut, dem HErrn vertrauen;
Lobt den HErrn! lobt den HErrn! lobt den HErrn!
Heißt Er mich warten, und jetzt noch nicht schauen:
Wohl mir! ich glaub' und warte gern.

Hat doch des Glaubens stilles Sehnen
Gottes Erbarmen noch nie verfehlt!
Weine nur! wisse, die Letzte der Tränen,
Wahrlich! sie ist schon mitgezählt.

Fliehe die leeren Erdenfreuden!
Jesus lag einsam am Ölberg da.
Allen, die beten, und glauben und leiden,
Ist seine Huld und Hilfe nah'.

Glaubst du das? Seele! - Wirf die Sorgen,
Wirf den vergeblichen Kummer hin!
Tränen am Abend, und Freude am Morgen,
Ist das Verlust? - Ist's nicht Gewinn?

Ist seine Stunde noch nicht kommen:
Wahrlich, sie kommt doch, sie kommt gewiss.
Jesus erlitte zum Segen der Frommen
Stunden der Angst und Finsternis.

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