Blumhardt, Christian Gottlieb - Lazarus, der Kranke, Sterbende und Auferweckte - Die fromme Familie in Bethanien
Joh. 11, 1. 2. Es lag aber einer krank, mit Namen Lazarus von Bethania, in dem Flecken Marias, und ihrer Schwester Marthas. (Maria aber war, die den HErrn gesalbt hatte mit Salben, und seine Füße getrocknet mit ihrem Haar. Derselbigen Bruder Lazarus lag krank.)
Johannes, der Lieblings-Jünger unsers HErrn, hat ein ihm ganz eigentümliches Geschick, die wichtigsten Auftritte in dem Leben seines tiefverehrten Meisters mit einer so liebenswürdigen Umständlichkeit und heiligen Einfalt vor das Auge seines Lesers hinzumalen, dass man sein hundertmal gelesenes Evangelium immer wieder mit neuem Vergnügen liest, und immer wieder neue, vorher nie gesehene herrliche Seiten in demselben entdeckt. Er wollte zu den drei ersten Evangelisten einen fruchtbaren Nachtrag liefern, und hie und da die Lücken in den Denkwürdigkeiten des Lebens Jesu ausfüllen, welche sie in ihren kurzen Geschichtsammlungen gelassen haben. Gerade dies ist nun auch der Fall bei der überaus lehrreichen, und von den wichtigsten Folgen begleiteten Begebenheit, welche er uns in dem größten Teile des elften Kapitels seines Evangeliums erzählt, und deren wichtigen Inhalt wir Stückweise etwas genauer anzusehen nun im Begriff stehen. Die drei andern Evangelisten melden von derselben in ihren Erzählungen nichts, vielleicht weil der auferweckte Lazarus damals noch lebte, als sie ihre Denkwürdigkeiten aus dem Leben Jesu schriftlich bekannt machten, und sie ihn durch öffentliche Nennung seines Namens nicht aufs neue dem Hass des Volkes und den Verfolgungen einer feindseligen Priesterschaft aussehen wollten; (vergl. Joh. 12,10.) vielleicht auch darum, weil sie den ganzen Hergang dieser Geschichte und aller einzelnen lehrreichen Umstände derselben nicht so genau, wie Johannes, beobachtet hatten. Aber dem scharfen Beobachtungsgeiste, und dem zartfühlenden Herzen eines Johannes konnte ein so ausgezeichneter und folgenreicher Auftritt in dem Leben seines göttlichen HErrn nicht entgehen.
Jeder kleine Umstand desselben war seinem zarten Herzen interessant geworden; er hatte gewiss mit den schweren Leiden und den darauf folgenden überraschenden Freuden der frommen Familie in Bethanien tief mitgefühlt, und an dem ganzen Hergang sowohl um feines innigverehrten HErrn als um der Familie willen den zärtlichsten Anteil genommen. Daher hatte sich auch seiner Seele Alles so tief eingedrückt, dass er nach einer langen Reihe von Jahren sich jedes einzelnen Umstandes dieser ausgezeichneten Wundergeschichte noch so bestimmt und lebendig erinnerte, wie wenn sie sich erst vor kurzer Zeit vor seinen Augen zugetragen hätte. Wie hätte er sie auch vergessen können, da sein HErr und Meister durch diese glänzende Wundertat so laut verherrlicht ward; da durch dieselbe die kühnsten Hoffnungen einer tiefleidenden Familie, mit welcher er ohne Zweifel in besonderer Herzensbekanntschaft stand, so unendlich weit übertroffen wurden; da endlich dadurch dem tätigen und segensreichen Leben Jesu die Krone aufgesetzt, und seinen erbitterten Feinden der nächste Anlass gegeben wurde, in möglichster Eile ihren alten Mordplan an Jesu auszuführen, und eben damit ohne ihr Wissen und ihren Willen die Erlösung der ganzen Sünderwelt durch den Tod Jesu zu beschleunigen.
Gewiss eine allgemein wichtige und höchst lehrreiche Geschichte für jeden nachdenkenden Christen, der in der evangelischen Geschichte mehr als bloße Unterhaltung für seine Wissbegierde, der in derselben stärkende Nahrung für Geist, Herz und Leben sucht! Aber für euch besonders ist diese merkwürdige und in ihren kleinsten Nebenumständen gehaltvolle Begebenheit aufgezeichnet, ihr leidende, bekümmerte, trostbedürftige Schüler und Schülerinnen Jesu! Ihr findet in ihr einen Spiegel eurer eigenen Herzens- Lebens- und Leidensgeschichte voll himmlischer Anmut und Klarheit; ihr seht hier an einem lebendigen Beispiel, wie Jesus, der unveränderliche Freund der bedürfnisreichen Menschheit, die Seinigen zu erziehen und zu üben, auf sich warten zu lassen, und mit Hilfe zu überraschen, ihren Glauben auf harte Proben zu sehen und mit zärtlicher Sorgfalt ihn zu nähren und zu stärken pflegt. Es liegt zugleich in dieser merkwürdigen Tatsache ein unwidersprechlicher Beweis vor euern Augen, dass Jesus Christus, der Sohn Gottes, und eben darum der vertrauenswürdigste und mächtigste Arzt und Helfer der Kranken und Elenden sei.
Ohne weitern Voreingang führt uns der Evangelist Johannes sogleich mitten in die merkwürdige Geschichte hinein, die er uns nach allen ihren einzelnen lehrreichen Umständen erzählen will. Er reißt eben darum den Faden seiner vorhergehenden Erzählung auf einmal ab, um noch zuvor etwas einzuschalten, das seinen göttlichen HErrn so ganz in seiner himmlischen Würde und Huldreichen Herablassung zu den Seinigen darstellt, dass der Leser bald die rohen Feindseligkeiten der Pharisäer gegen Ihn darüber vergessen hat. Johannes wollte, gleich dem Maler, Licht und Schatten in seinem Gemälde von dem Leben seines Meisters gehörig verteilen, um dadurch den Charakter Jesu desto stärker herauszuheben, und das Interesse seiner Leser mit jeder weitern Erzählung höher zu stimmen.
Die wilden Ausbrüche von Feindseligkeit, welche Jesus auf dem letzten Kirchweihfeste zu Jerusalem erfahren hatte, hatten Ihn in die Notwendigkeit versetzt, diese Stadt, in welcher Er nun in kurzer Zeit sein Leben für das arme Sündergeschlecht freiwillig aufzuopfern entschlossen war, auf kurze Zeit zu verlassen, weil die vom Vater hierzu bestimmte Stunde noch nicht da war; und so den Händen seiner Feinde zu entgehen. (Joh. 10,22.39.) Er entfernte sich in dieser Absicht nach Bethabara, einem Ort jenseits des Jordans, der durch die Taufe des schon vor etlichen Jahren ermordeten Johannes bekannt geworden war. Indes Er dort die letzten kostbaren Wochen seines Lebens zwischen dem Kirchweih- und nahen Osterfest mit Lehren und wohl tätigen Wundertaten zubrachte, so dass in dieser Gegend noch Viele für Ihn gewonnen, und gläubig wurden (Joh. 10,42.), trug sichs zu, dass sein Freund Lazarus in Bethanien, ein frommer Bruder zweier frommen Schwestern, der Martha und Maria, von einer tödlichen Krankheit überfallen wurde. Dieses schöne Kleeblatt frommer Geschwister hatte von Zeit zu Zeit die große Freude gehabt, Jesum nebst seinen Jüngern auf seinen Reisen nach Jerusalem in ihrem Hause in Bethanien bewirten zu dürfen, ein Ort, der eine kleine Stunde von Jerusalem am Fuße des Ölberges lag. Sie gehörten unter die wenigen edlen Seelen des jüdischen Volks, die mit aufrichtigem Herzen an dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs hingen, und wie ein Zacharias und eine Elisabeth, ein Simeon und eine Hanna im Glauben an seine Verheißungen auf den Trost Israels warteten. Dieses innere Herzensbedürfnis, diese stille Zubereitung auf die Ankunft des längst erwarteten Messias hatte sie in die höchsterwünschte Bekanntschaft mit Jesum von Nazareth gebracht. Ihr frommer israelitischer Sinn sah in Ihm mehr, als der größte Teil ihrer sorgenlosen Zeitgenossen in Ihm sehen wollte. Diesem großen Propheten konnten sie ihre tiefe Achtung und ihre zärtliche Liebe nicht versagen; je genauer sie Ihn kennen lernten, desto mehr nahm diese Achtung und Liebe gegen Ihn zu. In Ihm sahen sie allmählig ihre schönsten Hoffnungen heranreifen, und den Trost Israels in Erfüllung gehen. An den verschiedenen Urteilen des Volks über seine Person, seine Lehren und Taten konnten sie sich nicht stoßen; denn sie wussten, was Jesus ihrem Herzen war. So sehr Ihn auch die Obersten des Volks und die hohe Geistlichkeit hassen mochten: Sie konnten ihre zärtliche Achtung und Liebe gegen Ihn nicht aufgeben. Seine jedesmalige Einkehr bei ihnen war ihrem Herzen ein Freudenfest. Sie fanden sich dadurch von Ihm aufs höchste geehrt; selbst alsdann noch, als so mancher Andere, besonders in der Nähe Jerusalems, von Jesu zurücktrat, um den Hass und die Verfolgung mit Ihm nicht teilen zu dürfen.
Schöne Gottes-Familie! Kein Wunder, dass der Sohn Gottes gern bei dir einkehrte, weil Er sich und seinen Vater in ihr geehrt fand. Wer einen lebendigen Sinn für seinen Vater hatte, dem näherte sich sein Herz gerne; denn bei Ihm durfte er sich den besten Erfolg von seinen Besuchen, die zuverlässigste Wirkung seiner göttlichen Lehren und Wundertaten versprechen. Echte Israeliten, wahre Glaubenskinder Abrahams, waren seine sichersten Schüler und Schülerinnen; der Vater zog Ihren geraden Glaubenssinn zum Sohne hin. In einem solchen Friedenshause, wie das Haus seiner Freunde in Bethanien war, konnte Er von den Lasten und Unruhen des Tages Ruhe und Erquickung finden. - Wie kommt's, dass Jesus so manchen Menschenkreis, so manche Christenfamilie fliehen muss, und bei ihr vorüber eilt, ohne Herberge zu nehmen? Sie haben keine Achtung für seinen Vater, und eben darum auch nicht für Ihn. Sie schließen Herzen und Türen vor Ihm zu, und fragen nichts nach Ihm und nach seinen Jüngern. Wie kann Er denn in ihren Kreis treten, und seinen Gottesfrieden und Himmelssegen mitbringen? Wo dürfte Er sich ein Plätzchen in ihrem Hause und in ihren Herzen versprechen?
Die Welt hasst Ihn, weil Er nicht von dieser Welt ist. Nur die Lieblinge des Vaters sind auch die Seinigen; denn nur sie wissen seine Person zu schätzen, seine Taten zu würdigen, seine Lehre anzuwenden, sich seiner Besuche von Herzen zu freuen. O dass solcher Gottes-Familien recht viele unter uns wären, bei denen das Wort und der Geist des HErrn so schön vorgearbeitet hat, und in deren Mauern der Name „Jesus Christus“ ehrfurchtsvoll ertönt. Ihre Häuser wären Hütten des Segens für sie und für Andere, Herbergen des freundlichsten, wohltätigsten Gastes, den je ein Haus aufnahm. Selbst die empfindungslosen, gegen Christentum gleichgültigen Nachbarn würden die Wohltätigkeit ihrer Nähe erfahren, und zur Teilnahme an den sichtbaren Segnungen der lebendigen Christenliebe gereizt werden.
So verschieden diese frommen Geschwister in Absicht auf ihre Gemütsarten waren, so Eins waren sie in ihrer Achtung und Liebe für Jesus Christus. Von Lazarus sagt uns die evangelische Geschichte nur sehr wenig; aber seinem religiösen Charakter macht es schon Ehre genug, dass sie ihn unter den Freunden Jesu nennt. Er scheint damals, als ihn Jesus von den Toten auferweckte, noch ziemlich jung gewesen zu sein; denn die spätere Kirchengeschichte hat uns von ihm die Nachricht hinterlassen, dass er nach seiner Auferweckung noch dreißig Jahre gelebt habe; und es ist kein zureichender Grund vorhanden, in diese Nachricht einen Zweifel zu sehen. Er gehörte unter die Seelen, welche Jesus aufsuchte, in deren Nähe Ihm wohl war, die im Stillen durch ihr frommes Beispiel mehr Gutes wirken, als mancher bewunderte Held durch seine laut gepriesenen Großtaten. Er scheint mehr durch Leiden als durch Wirken, mehr durch Geduld und stille Ergebung, als durch glänzende Geistesvorzüge sich ausgezeichnet zu haben. Ihm war's in der stillen Einsamkeit bei seinen frommen Schwestern wohl; der Umgang mit ihnen konnte seine Geistes- und Herzensbedürfnisse genugsam ausfüllen. Nur Jesus, der geliebte Hausfreund, mit seinen Schülern unterbrach bisweilen die stille Einsamkeit dieser frommen Familie; denn die Seelen, deren die Welt nicht wert ist, und die sie nicht kennt, kennt und schätzt der freundliche Menschen und Herzenskenner nur um so inniger.- Dass Jesus diesen seinen frommen, Ihm treu ergebenen Freund aus der stillen Zurückgezogenheit nicht in seine öffentliche Nachfolge hervorrief, indes Er einen Matthäus von dem geschäftsvollen Beruf des Zollbanks Verwalter abforderte, mag seine eigenen Gründe gehabt haben. Er kannte Jeden genau nach seiner besonderen Tauglichkeit für seine engere Jüngerschaft. Jeden lässt oder versetzt Er an den besten Platz, der ihm wie kein anderer an, gemessen ist. Keiner braucht sich selbst zum besonderen Dienste Jesu anzubieten; Er wird durch bestimmte Winke von Ihm berufen werden, wann und wo ihn der HErr dazu tauglich findet. Lazarus, dem die Handlungsweise Jesu ehrwürdig war, achtete diesen Wink des Stillschweigens Jesu, und sah nicht scheel dazu, wenn selbst berüchtigte Zöllner die Ehre und das Glück hatten, in beständigem Umgang mit Jesu zu sein, und zu seinem besonderen Dienst zubereitet zu werden. Er wusste, der HErr tut und unterlässt nichts ohne einen guten Grund, und seine Weisheit weiß immer die beste Wahl zu treffen. Kann ich Ihm, so dachte er, kann ich Ihm nicht im engern Kreise seiner Jünger nachfolgen, so soll Er mir darum nicht minder achtungswürdig und wert sein. Soll ich Ihm nur bisweilen mit einem Nachtlager dienen, so soll Er bei diesem geringen Dienste meine herzliche Bereitwilligkeit nicht minder erblicken. Findet Er es für gut, mich zu Hause an meinem Körper leiden zu lassen, indes Andere zu seinem wichtigen Messias-Berufe tätig mitwirken, so soll auch das mir recht sein. Er tue, was Ihm wohlgefällt.
Martha, wahrscheinlich die ältere Schwester des Lazarus, und, wie es scheint, die eigentliche Hauswirtin, hat sich uns durch eine kurze, aber ihre Gemütsart sehr bezeichnende Geschichte bekannt gemacht, die uns der Evangelist Lukas (Kap. 10,38 f.) von ihr aufgezeichnet hat. Sie war ein Petrus in weiblicher Gestalt. Ihre Liebe legte sich durch eine unruhig-geschäftige Tätigkeit, an den Tag, bei der Gedanke, Empfindung und Tat plötzlich in Eines zusammenfließt, und welche allenthalben vorne an ist, wo es darauf ankommt, Liebe zu üben. Ihre Achtung und Anhänglichkeit an ihren verehrungswürdigen Lehrer und Hausfreund war überaus stark. Sie war wohl immer die erste im Haus, welche die Türe öffnete, wenn sie Ihn in der Gesellschaft seiner Jünger von ferne kommen sah. Und war Er nun da der willkommene Gast - welch' ein Dringen und Treiben in der Stube und Küche, Ihn auf eine Art zu bewirten, wie es ihre tiefe Achtung und ihre geschäftige Liebe gegen Ihn gebot. Nicht eine gewöhnliche Mahlzeit, ein Hochzeitmahl musste Er haben! Sie wusste ihrem willkommenen Gaste ihre freudige Hochachtung und ihre Wonne über seinen Besuch nicht besser auszudrücken, als durch die schöne Anzahl wohlschmeckender Gerichte, die ihre anspruchslose Liebe mit aller Aufopferung von Mühe und Kosten zu bereitet hatte. Von Herzen mochte sie es Ihm gönnen, wenn Er nach manchen Beschwerden der Reise und seines ehrwürdigen Berufs einmal wieder in ihrem Hause ein Ruheplätzchen suchte. Es war ihr ganz unbegreiflich, wie man Ihn recht lieb haben, und sich doch so sehr vergessen konnte, sich neben den ermüdeten Gast ruhig und sorgenlos hinzusetzen, und die Zubereitung seiner guten Bewirtung so ganz außer Acht zu lassen. Es sollte Ihm vorher im Haufe recht wohl werden, war ihr Sinn; Er sollte vorher ausruhen, und mit Speise und Trank erquickt werden, ehe man Ihn mit allerlei Zumutungen belästige, und mit Lehren bemühe. So dachte Martha, und meinte es dabei redlich; wiewohl sie die Denkart des HErrn noch nicht recht verstand und durch ihre übertriebene zudringliche Geschäftigkeit Seiner nicht so froh ward, wie ihre Schwester. Der Heiland wusste es wohl, dass ihrer geschäftigen Unruhe Liebe zum Grund lag; darum hatte sie das Glück, unter seine Freundinnen gezählt zu werden. Indes konnte Er nicht umhin, bei jener Gelegenheit ihr eine Bemerkung ans Herz zu legen, die sie auf die Hauptsache seines Besuchs aufmerksam machen sollte. „Martha, Martha, sprach Er, du hast viel Sorge und Mühe. Eins ist Not!“
Maria, vermutlich die jüngere Schwester, war von ganz anderer Gemütsart. Alles an ihr war tiefe Empfindung. Reine, unschuldsvolle Jungfräulichkeit, und starke, in sich selbst verschlossene, feinsinnige Liebe machten die schönen Hauptbestandteile ihres innern Menschen aus. Ihr ganzes Herz war voll der heiligsten Gefühle und Bedürfnisse, die Niemand anders als Jesus auszufüllen vermochte. Sie war ein Johannes an Feinsinn und Liebe, und eben dadurch dem Herzen Jesu am nächsten. Wenn sie Ihn sah, Ihn hörte, sah und hörte sie nichts anderes mehr. Ihr innerer reger Wahrheits- und Liebessinn fand sich bei Ihm so befriedigt, dass sie Ihn, so lange sie Ihn genießen durfte, nicht aus den Augen lassen konnte. O wie lange mochte jedes Mal ihr bedürfnisreiches Herz schmachten, bis wieder so eine selige Stunde kam, wo es ihr gelang, zu den Füßen ihres göttlichen Meisters voll heiliger Lern-Begierde niederzusitzen, und mit ihrem horchenden, verschlingenden Blick an seinem Mund zu hangen. Sein kurzer Aufenthalt in ihrem Hause - ihr kam Er am seltensten, weil sie am meisten Seiner bedurfte - war ihrem Herzen zu kostbar, als dass sie durch Entfernung von Ihm nur einen Augenblick verlieren mochte. Die flüchtigen Stunden eilten ihr ohnehin zu schnell, die ihr in seinem Segen überströmenden Umgang zu Teil wurden. Alles, alles, was sie besaß, hätte sie mit Ihm geteilt; das Kostbarste im Hause war ihr für Ihn zu geringe; aber sie wusste, dass es Ihm mit kostbarer Aufwartung nicht gedient war; und dass es Ihm bei seinen Besuchen mehr um das Geben als um das Nehmen, mehr um die Mitteilung himmlischer Gaben, als um körperliche Nahrung zu tun war. Ihm Etwas geben zu können, dazu hielt sie sich zu geringe. Gerne hätte sie Ihm vieles, Alles gesagt, was ihr Herz bei seinen Besuchen empfand; allein sie fand keine Worte für ihre Empfindung. Der Allwissende sollte es in ihrem Herzen lesen, und in den stillen Tränen, die von ihren Wangen auf seine Füße herabrollten. O der unvergesslich seligen Stunde, da sie als demütige Schülerin voll Heißhunger nach göttlicher Wahrheit vor Ihm niedersitzen, und Ihn ungestört nach Herzenslust genießen durfte. Dieses innige Wohlsein, das nur sie in ihrer vollen Stärke empfand, hätte sie um der ganzen Weltgüter nicht weggegeben. Ihr Alles war gänzlich in Jesum versenkt; und selbst die Anklage ihrer Schwester konnte sie darin nicht irre machen. Eben sie war es auch, die einige Tage später voll heiliger Scham und Ehrfurcht die köstlichste Salbe, vermischt mit wonnevollen Wehmutstränen, über Jesu Haupt und Füße ergoss, und mit den Haaren ihres Hauptes abtrocknete. Diese Liebestat war zu schön, als dass auf den Befehl Jesu das Andenken derselben nicht der unsterblichen Erinnerung würdig gewesen wäre.
So war die fromme Familie in Bethanien, die Jesus liebte, und von der Er wieder geliebt ward. So sehr sich die Glieder derselben durch ihre Gemütsarten von einander unterschieden, so vortrefflich passte Eines zu dem Andern. Häusliche Freuden und häusliche Leiden konnte Jedes auf seine eigentümliche Weise mit den Andern teilen. Den Leiden konnten sie in einer Welt, wie diese ist, nicht entfliehen; aber sie konnten sich bei denselben einander gegenseitig unterstützen, wie es in keiner Familie möglich ist, in welcher nicht derselbe Sinn und Geist herrscht. Lange hatten sie vielleicht in ungestörter Ruhe ihre Tage in stiller Verborgenheit vergnügt verlebt; auf einmal stieg eine trübe Wolke über ihnen auf, die sie eine Zeitlang in bittere Verlegenheit und Unruhe versetzte; aber am Ende dazu dienen musste, das Band ihrer Geschwisterliebe noch enger zu knüpfen, und ihren verehrten Hausfreund von einer Seite kennen zu lernen, welche die heilsamsten und bleibendsten Eindrücke in ihren Herzen zurücklassen musste.
Väter, Mütter, Brüder, Schwestern! Findet ihr in diesen drei Geschwistern nichts, das eurer Nachahmung würdig wäre? Ist ihr Sinn euer Sinn- o dann wohl Euch - ihr seid glückliche Familien-Glieder, und macht Andere durch euern Sinn und eure Handlungsweise eben so glücklich! Gerne werdet ihr die Erzählung dieser Familie in Bethanien weiter hören, und an ihren traurigen und frohen Schicksalen die Wahrheit der Worte lernen:
„Die Wege des HErrn sind eitel Güte und Wahrheit denen, die seinen Bund und Zeugnis halten.“