Binde, Fritz - Welche Not kann kein Mensch stillen?

Binde, Fritz - Welche Not kann kein Mensch stillen?

“Führe meine Seele aus der Not.“
Psalm 143,11

Die Not des menschlichen Lebens ist trotz der Kultur so ziemlich die gleiche geblieben. Immer noch kommen die Menschen in schwere Not durch sogenannte Naturereignisse. Erdbeben, Wassernot, Dürre oder Überschwemmungen, Not durch Hitze oder Kälte, Sturm oder Schnee und Eis, Feuersnot, infolge natürlicher oder menschlicher Ursachen, Schiffs- und Grubenunglücke, teils natürlich, teils technisch verursacht, haben noch nicht aufgehört. Aber alle diese Nöte bilden nicht insgesamt die Not, die kein Mensch stillen kann. Wie viel rettende und notstillende Hilfeleistung setzt ein bei den eben genannten Nöten und wie viel technische Abhilfe bemüht sich um ihre Verminderung und Verhinderung! – Trotz alles Kulturreichtums kommen die Menschen ja auch noch immer in materielle Nöte. Geldnot, Wohnungsnot, Arbeitsmangel, Nahrungsmangel, Kohlennot, Fleischnot, ja Hungersnot plagen noch immer den Kulturmenschen. Aber alle diese Nöte bilden nicht insgesamt die Not, die kein Mensch stillen kann. Denn was geschieht nicht alltäglich, um auf die materielle Not hinzuweisen und ihr entgegenzuarbeiten!

Und wie viele von den eben genannten Nöten werden nicht tagtäglich tatsächlich von barmherziger Einzelhilfe oder sozialer Gesamthilfe gemildert oder gestillt! – Trotz alles Reichtums an Bildung herrscht noch große sittliche Not. Kriminalverbrechen, Trunksucht, Unzucht, Prostitution, Ehebrüche und Ehescheidungen nehmen nicht ab, sondern zu und bedeuten ein Heer von Einzelnöten. Dennoch bilden sie nicht insgesamt die Not, der Menschen nicht mildernd, ja stillend begegnen könnten. Wie viele Vereine zur Hebung der Sittlichkeit sind tätig, wie viel Blau- und Weißkreuzarbeit geschieht! Was wird nicht alles geleistet an Fürsorge in der Erziehung der Jugend, an Fürsorge für gefallene Mädchen, an Fürsorge für Gefangene und entlassene Sträflinge! Und wie viele Ursachen der Unsittlichkeit werden da aufzuheben, wie viele Folgen derselben zu mildern und zu stillen gesucht und auch gestillt! Auch werden Kirchennot und Predigermangel gehoben. – Ferner leiden wir trotz fortschreitender Wissenschaft noch unter Krankheitsnöten. Wer zählt hier die Namen der Übel, Leiden und Gebrechen? Wer überschaut die Nöte in Privat- und Krankenhäusern? Aber auch alle diese Leidensnöte bilden nicht insgesamt die Not, die kein Mensch mildern, ja stillen könnte. Wir wissen, wie sich die Menschen zwecks Vorbeugung und Heilung von Krankheiten und Pflege und Genesung der Kranken bemühen. Wie viel wird doch da an täglicher Not gestillt oder mindestens gemildert! – Ja sogar die Sterbensnot ist nicht die Not, die kein Mensch mildern oder stillen könnte. Man kann die Kissen rücken, die Lippen feuchten, Schmerzen mindern, ja stillen und dankbar angenommene Liebes- und Trostworte spenden! Und wie selbst die entsetzliche Kriegsnot durch Menschenmund und Menschenhand gelindert, gemildert und immerhin auch gestillt werden kann, erleben wir bebend und doch dankbar mit. – Nein, alle diese Nöte bilden nicht die eine Not, die kein Mensch stillen kann.

Und doch gibt es eine solche von Menschen nicht zu stillende Not, vor deren Eigenart alles menschliche Tun und Reden versagt. Nur die diese Not bereits erlebt haben, kennen sie und wissen, was ich meine. Es ist die Sündennot.

Wenn's weiter nichts ist! werden da jetzt manche innerlich ausrufen, dann hat's bei mir noch keine Not; denn meine Sünden haben mir noch nie Not gemacht! – Das glaube ich dir gerne. Es gab auch in meinem Leben eine Zeit, wo ich so redete. Und nahezu die meisten Menschen reden so. Sünde ist gewöhnlich das Allerletzte, worüber der Mensch nachdenkt. Es kann einer schon in jede Art von Not geraten sein, aber die Sündennot im entferntesten gestreift haben. Der Mensch hat eine merkwürdige Fertigkeit, dieser Not aus dem Wege zu gehen. Am liebsten geht er schon der bloßen Rede von Sünde aus dem Wege. Von Fehlern, Schwächen und Unvollkommenheiten zu reden, läßt er sich gerne gefallen; ja sogar das Wort „Verbrechen“ läßt er im Sinne des „Verbrechens an der Menschheit“ oder im juristischen Sinne gelten. Aber nenne nur nicht menschliche Fehler „Sünde“ vor seinen Ohren! Sünde, das Wort klingt ihm zu pfäffisch, zu kapuzinerhaft, zu frömmelnd streng, zu bibeltönig, zu gottgläubig.

Aber, bitte, heißt es, Sie werden solch eine Kleinigkeit doch nicht gleich Sünde nennen wollen! Wer wird denn alles gleich Sünde nennen! Das tun ja nur die – Mucker! – Auf diese Art macht man es sich ungemein leicht, an der Sünde und damit an der Sündennot vorbeizukommen. Nur Sünde „nicht tragisch“ nehmen! Wer von Sünde redet, steht in Gefahr, als „krankhaft“ verschrieen zu werden. Eigentümlich: ich habe gefunden, je gebildeter jemand sein will, desto mehr sucht er das Wort Sünde zu umgehen. Der vermeintliche Reichtum seines logischen, ursächlichen, psychologischen und geschichtlichen Begreifens will das unerbittliche Wort Sünde nicht recht zulassen. Man findet es zu klotzig, zu plump, zu ungebildet. Höchstens im bedingten Sinne will man es gelten lassen; aber nur keine durchgängige, nur keine wirkliche Bedeutung darf es haben. Ja, das ist Menschenart, die man nie deutlicher erkennt, als wenn es sich um die Bedeutung der Sünde handelt.

Immer bleibt es mir merkwürdig, wie einmal ein Student nach Schluß eines Vortrages, überlegen lächelnd an mich herantrat und etwa so begann: „Sie scheinen ja eine merkwürdige Auffassung von Sünde zu haben. Sie tun ja gerade, als wenn Sünde das Allerbestimmteste und Unveränderlichste wäre. Was Sünde ist, das entscheidet sich doch nur von Jahrhundert zu Jahrhundert, und da noch von Volk zu Volk, und da noch von Stand zu Stand und Fall zu Fall. Sünde ist doch eigentlich etwas sehr Unbestimmtes. Ich begreife nicht, wie man ein so großes Gerede von der Sünde machen kann!“ – „Wissen Sie das so genau?“ fragte ich. – „Aber sicher!“ betonte er. – „Nun, dann wollen wir einmal sehen“, fuhr ich fort. „Wissen Sie sich einer Tat aus Ihrer Kindheit zu entsinnen, von der Sie heute wünschen, daß sie doch nie geschehen wäre?“ „Nach kurzem Besinnen antwortete er bestimmt: „Ja.“ – „Dürfen wir diese Tat Sünde nennen?“ „Meinetwegen!“ – „Gut, wissen Sie sich einer ähnlichen Tat aus Ihrer Knabenzeit zu entsinnen?“ – Ohne Bedenken nickte er. – „Dürfen wir die auch Sünde nennen?“ – Er zuckte mit den Achseln und sagte wieder: „Meinetwegen.“ – „Und aus Ihrer gegenwärtigen Lebenszeit? Nicht wahr, da haben Sie auch einiges Unvergeßliche, von dem Sie wünschen: Ach, wäre es nie geschehen!“ – „Jawohl, mehreres!“ gestand er ehrlich. – „Und sollen wir auch das Sünde nennen?“ Er zog den Hals schief und die Lippen hoch und sagte zum dritten Male: „Meinetwegen!“ – „Gut“, forschte ich weiter, „was meinen Sie wohl, werden diese Dinge, von denen Sie wünschen, sie wären nie geschehen und die Sie Sünde nennen ließen, sich etwa in zwanzig Jahren derart an sich und in Ihrer Auffassung verändert haben, daß Sie sie weniger oder gar nicht mehr ungeschehen wünschen und in keiner Weise mehr Sünde nennen lassen möchten?“ – „Das glaube ich nicht!“ gab er nach einigem Nachdenken zu. – „Und in weiteren zwanzig Jahren?“ „Ich denke, es wird ebenso sein.“ – „Und auf Ihrem Sterbebette …?“ – Nachdenklich hob er die Schultern und schwieg. – „Sehen Sie,“ konnte ich nun sagen, „es gibt nichts, das sich so furchtbar selber gleich bleibt wie die Sünde! Meine Auffassung von der Sünde, die Sie vorhin merkwürdig fanden, ist die uralte der Bibel, und Sie haben eben gesehen, Ihr Gedächtnis und Gewissen decken sich mit dieser uralten Auffassung. Sie wußten es nur nicht.“ – „Ich gestehe“, erklärte er, „daß ich in dieser fatal persönlichen Weise noch nicht über Sünde nachgedacht habe.“

Ja, so ist es: Mangelndes Nachdenken ist die gewöhnlichste Ursache der mangelnden Sündenerkenntnis der Menschen. Pascal, der französische scharfsinnige Mathematiker und Christ, hat es einmal so ausgedrückt: Der Mensch sucht nichts so sehr als sich selbst und flieht nichts so sehr als sich selbst. Das, was der Mensch Zerstreuung nennt, braucht er hauptsächlich, um die Sammlung seiner Gedanken zur Erkenntnis eben der Dinge zu verhindern, von denen er wünscht, daß sie nie geschehen wären. Instinktiv fühlt er, daß ihn ein ernsteres Nachsinnen nach dieser Richtung hin in eine gefährliche Not brächte, nämlich in eine Not, die er nicht mehr zu stillen vermöchte; und so hütet er sich schon vor den Anfängen solchen Nachdenkens. Er schlägt die Sache in den Wind oder sucht sonst tausend Künste, um ihrem zwingenden Ernst zu entgehen. Zu diesen Künsten des Selbstschutzes vor Sündennot gehört auch folgendes ganz allgemeines Verhalten und Verfahren. In ganz außergewöhnlichem Ernste kommt die Rede auf das furchtbare Gottwidrige der Sünde, so daß der Eindruck peinlich wird. Sofort wird jemand in dieser weltförmigen Gesellschaft sich Luft zu verschaffen suchen durch die bekannte Redensart: „Sünder sind wir ja alle!“ –

Ja, wenn das heißen sollte: wir sind ein Geschlecht von gottentfremdeten Menschen, die mit Schmerzen der Buße die Rückkehr zum Heil suchen müssen, so wäre ein solcher Ausruf ja recht und sogar erfreulich; aber das soll es leider nicht heißen. Sondern es soll besagen: Wir sind eben unvollkommene Menschen; aber es ist ja alles unvollkommen unter der Sonne, so muß man's eben so hinnehmen und nicht viele Worte drüber machen, ist es doch eine Selbstverständlichkeit, die nicht der Rede wert ist! – Auf diese Weise schützt man sich trefflich vor Sündennot. Wenn Sünde nur das bißchen allgemeine und selbstverständliche Unvollkommenheit ist, das die Menschheit schließlich so im Laufe der Jahrhunderttausende durch tätige kulturelle Höherentwicklung verlieren wird, wer wird sich da in Sündennot bringen lassen wollen? Niemand. Andere meinen es schon etwas gottesfürchtiger. Sie beziehen das Wort Sünde immerhin auf ihr Verhältnis zu Gott. Aber sofort verstecken sie sich mit ihrer eben zugestandenen persönlichen Sünde hinter der allgemeinen Sünde, wo sie nun gar nicht mehr als Sünder auffallen; denn: Sünder sind wir ja alle, also macht es nichts aus, daß ich auch einer bin. Ah, diese feige Art des Selbstschutzes vor Sündennot!

Man will sich Gott vom Leibe halten; das ist es. Er soll uns nicht den Kreis unserer Selbstherrlichkeit stören. Um dies zu erreichen, muß man Gottes Dasein entweder zu leugnen oder zu verschleiern suchen, oder man muß sich Gott geradeso denken, wie man selber ist, um sich vor ihm brüsten zu können. Letzteres ist die dritte Art des Selbstschutzes vor Sündennot: man will sich gegen die Sündennot decken durch den Reichtum der eigenen Tugenden. – Ich habe ja gewiß meine Fehler, spricht man, aber ich habe doch auch meine guten Seiten, und wenn ich einmal zusammenzählen wollte, wie viel Gutes ich getan habe, so käme noch viel heraus, was mir Gott lohnen müßte! – Und flugs steht der Herr Pharisäer auf den Zehenspitzen und rechnet Menschen und Gott seine Leistungen vor. Ja, so wandelt man hocherhobenen Hauptes an der Sündennot vorbei. O, das kennen wir alle, nicht wahr? –

Siehe, das ist die dreifache Art des Selbstschutzes vor der Sündennot; ich will sie noch einmal wiederholen, damit sie wie auf einer Warnungstafel vor dir stehen.

  • Erstens: man weist schon das bloße Nachdenken über die Sünde ab;
  • zweitens: man versteckt sich mit der eigenen Sünde hinter der Sünde der Allgemeinheit;
  • drittens: man sucht sich zu decken mit der Aufzählung der eigenen Tugendleistungen.

Und wie nennt die Heilige Schrift diesen dreifachen Versuch des Menschen, in der Ruhe seiner Selbstherrlichkeit zu verbleiben? Sie nennt ihn: Tot sein in Übertretungen und Sünden (Eph. 2,1). Tot in Sünden, welch ein Urteil! Was will das denn besagen? Nun, ein Toter ist unempfindlich, und ein in Sünden Toter ist auch unempfindlich. Höre: Ein in Sünden Toter ist unempfindlich, erstens der Heiligkeit des Wesens Gottes gegenüber, zweitens dem gottwidrigen Wesen der Sünde gegenüber. Unter diesem Urteil stehen alle diejenigen, die sich auf die eben angeführte dreifache Art gegen die Sündennot gewappnet und gepanzert glauben. Bitte, prüfe dich! Täusche dich aber nicht!

Wähne nur ja nicht, daß etwa deine Empfindsamkeit in Dingen der gutbürgerlichen Moral schon ein Aufgewachtsein aus dem eben beschriebenen Tode und ein Stück Sündennot sei. Ich kannte eine Frau aus „besseren“ Kreisen, die, wie sie angab, durch Suggestion zum Ehebruch verleitet worden war, und die sich ins Wasser stürzen wollte, um der schrecklichen inneren Not ein Ende zu machen. Und doch war da keine Spur von wirklicher Sündennot, sondern nur der Verlust ihrer Ehre vor sich und den Leuten – denn der Fall war offenbar worden – quälte sie bis zum Selbstmord. Siehe, da drehte sich die ganze Geschichte nur um die Schande vor den Leuten, aber nicht um die Sünde vor Gott. Eingebüßte Selbstachtung gehört wohl mit zur rechten Sündennot, vollzieht sich aber nicht vor dem eigenen Ehrbegriff, denn der ist auch nur ein Stück menschlicher Selbstherrlichkeit, sondern vor der Heiligkeit Gottes nach dem Worte Gottes. Nur vor sich selber und den Leuten wegen irgendeines „Fehltritts“ in innere Not geraten, ist nichts als „Traurigkeit der Welt“, die keine Reue zum Heil bewirkt, sondern von leichtmütig Veranlagten bald wieder bereut wird oder die Schwermütigen in den Selbstmord treibt. Die wirkliche Sündennot aber ist „Traurigkeit Gott gemäß“, die eine Reue und Buße zum Heil und zur Seligkeit bewirkt, die niemand gereut (2. Kor. 7,10).

Zur wahren Sündennot gehört Sündenerkenntnis, und zur wahren Sündenerkenntnis gehört Gotteserkenntnis, und zur wahren Gotteserkenntnis gehört Gottes Wort, in dem sich Gott offenbart. Ich bin nie einem Menschen begegnet, der in furchtbare Sündennot gekommen, ohne daß er zuvor unmittelbar oder mittelbar mit Gottes Wort in Berührung gekommen. Die menschlichen Tieflotungen zur Ermittlung dessen, was Sünde sei, reichen nicht aus. Sie erreichen immer nur menschlichen, aber keinen göttlichen Grund. Platte Nützlichkeitsmoral, gegründet auf Wahrung irdischer Gegenwartsinteressen, oder sozialethische Kulturschwärmerei als idealistische Zukunftsmusik, tiefer und höher geht es nicht. Dabei kommt man übers alltägliche Paktieren oder gekünstelte Theoretisieren nicht hinaus. Ferne von jeder lebendigen, kernigen, zwingenden Gotteserkenntnis, wo der Alleinweise und Alleinheilige, der unwandelbar Licht ist und im unzugänglichen Lichte wohnt, dem Übertreter seiner Gebote zum verzehrenden Feuer wird, ferne von der Wucht und Zucht solcher Gottesfurcht hat das Menschlein sich seine eigenen Gedanken über Gott und Sünde gemacht, die alle den Ruhm seines eigenen Geschlechts verkünden, weil sie allenthalben nicht Gott, sondern den Menschen zum Mittelpunkt und Maß aller Dinge machen. Wie soll dabei Sündennot herauskommen! So war es schon immer, aber so ist es, scheint's, heute besonders. Vermessener noch als seine Väter hat dieses selbstbewußte Geschlecht von heute die Tafeln des Gottesgesetzes vom Sinai zu Staub verarbeitet, den seine Füße treten.

Kein Gott und Gesetz mehr über uns, nur noch Gott und Gesetz in uns – wir selber unser Gott und Gesetz! Das ist der Klang ihres Ruhmes. Wie soll dieser Klang zum Schrei der Sündennot werden? O nichts, nichts liegt der Menge der modernen Menschen so ferne wie der Schrei der Sündennot! Ja, keine Not scheint die moderne Kultur so gründlich überwunden zu haben wie die Sündennot. Und weil sie die Gesetzestafeln vom Sinai neu zertrümmert haben, so müssen sie auch die Urkunden des Evangeliums zerreißen. Es ist klar: Wer kein Gesetz will, braucht auch kein Evangelium. Wer Übertretung und Strafe leugnet, braucht auch keine Gnade und keinen Freispruch.

Wer selber bestimmt, was Sünde sei, braucht auch keine Vergebung der Sünde. Wer den Sündenfall im ersten Adam verneint und verlacht, braucht keine Erlösung vom Fall durch Christus, den letzten Adam. Wer von der Kulturentwicklung das Kommen des Heils erwartet, dem muß biblische Buße, Bekehrung und persönliche Neugeburt lächerlicher Kram werden. Wer sich im Reichtum des modernen Geistes sonnt, dem muß die Armut des Geistes in der Sündennot vor dem Gott der Heiligen Schrift eine jämmerliche Dummheit scheinen. Und doch bringt der lebendige Gott auch heute noch – ja, und gerade heute, denn die Gegensätze rufen einander – Menschen zur Sündenerkenntnis und damit in die eine Not hinein, die kein Mensch stillen kann, nämlich in die Sündennot. Ja er, der den Menschen durch Not aller Art den Weg zu verzäunen und in die Sackgasse zu führen weiß, hat auch allezeit offene Wege in die eine Not hinein, die der Mensch wie keine andere fürchtet, weil er ahnt, daß er in ihr sein Eigenleben verlieren müsse. Und immer führt Gott auf drei Stufen hinab zur Sündennot.

Er kann in einer Minute, ja Sekunde – wie beim Blitzen, wenn's einschlägt – in die Tiefe dieser Not hinabwerfen; er kann auch in drei Stunden oder Tagen oder Jahren, ja Jahrzehnten, da hinabführen. Aber immer geht der Weg über die drei Stufen.

Die erste Stufe sieht gar nicht wie eine Stufe in die Sündennot hinab aus. Sie ist gekennzeichnet als ein Zeitabschnitt der allgemeinen Unzufriedenheit. Wir wissen ja, daß der Mensch, solange es irgend geht, mit sich selbst zufrieden zu sein sucht; denn davon hängt sein natürliches Behagen ab. Nur ausgesprochene Selbstbejahung gibt ihm den Mut zu sich selbst, der dem Kulturmenschen die notwendigste Tugend scheint. Ja, bis in die scheinbar heldenhafteste Selbstverneinung hinein lebt der natürliche Mensch noch in der Selbstbejahung; er kann gar nicht anders, das Gegenteil wäre ihm viel schlimmer als der natürliche Tod. Nichts scheint ihm verhängnisvoller als die Entzweiung mit sich selbst. Und diese gefürchtete Entzweiung hebt tatsächlich auf der ersten Stufe hinab zur Sündennot an. Zuerst beinahe harmlos. Man ist eben unzufrieden, ohne daß man recht sagen könnte, warum. Die Genußfähigkeit ist heruntergestimmt. Was dich einst lockte, zieht jetzt nicht mehr. Was dich einst brennend machte, läßt dich nun kalt. Was dir voller Wonne schien, kommt dir schal und leer vor, abgeschmackt, wie du sagst. Was dich sonst freute, macht dich jetzt eher traurig. Vielleicht meinst du in diesem Zustande, du müßtest dir neue Kreise der Lebensfreude erobern. Du wechselst den Küchenzettel, die Zeitung, den Stammtisch, die Spazierwege, die Vergnügungsorte, die Farbe deiner Kleider, Krawatten und Hüte, die Wohnung. Am liebsten möchtest du jetzt schon dein ganzes Leben wechseln; denn es kommt dir dies Leben zuweilen so sinn- und zwecklos vor, daß du morgens nicht recht einsehen kannst, warum du aus dem Bett und wieder in ein Tagwerk hinein sollst. Ganz im Stillen wirst du zum Philosophen und wechselst nun auch die sogenannte Weltanschauung. Du meinst, daß die Welt nicht recht eingerichtet sei und wirst Sozialdemokrat. Oder du meinst, du habest es an den Nerven, müßtest mehr für deinen Leib tun, und fängst an, allerlei neuen Heilbewegungen und Reformbestrebungen nachzulaufen. Oder du wechselst sogar deinen Beruf, weil du meinst, eine andere Beschäftigung tue dir not. Für eine Zeitlang fesseln dich neue Reize und beschäftigen den Rest deiner Kräfte. Aber nichts befriedigt dich dauernd. Das bringt dich immer deutlicher mit dir selbst auseinander, macht dich ganz krank, müde und immer spürbarer – hilfsbedürftig. So entdeckst du nach und nach in dir ein religiöses Bedürfnis. Du hörst vom Frieden der Frommen, vom Halt an Gott. Wenn es das wirklich gäbe! Willst doch einmal in der Bibel nachsehen. Ach, was stehen da unverständliche Dinge drin! Nein, da könntest du ganz verrückt werden; denn halb bist du's schon, das steht dir fest. Und doch, könntest du irgendwo eine gute Predigt oder auch einen klar anpackenden religiösen Vortrag hören, vielleicht hülfe das. Da – und nun sitzest du heute abend hier! Und hörst diese Worte! Und denkst: Der meint mich. Wer mag ihm nur von mir erzählt haben? Sicher meine Frau, die schon so lange für mich gebetet hat. Na, warte! –

Nein, mein lieber Hörer! Niemand hat mir von dir erzählt als die Bibel, dieses einzig zuverlässige Lehrbuch der menschlichen Seelenkunde, das alle und jeden kennt, weil da unser Schöpfer redet. Und nun fragt es sich gleich: Wirst du der biblischen Wahrheit standhalten oder wirst du vor ihr fliehen? Wirst du standhalten und weiter zuhören, so wird sie dich auf kürzestem Wege hinab zur zweiten Stufe der Sündennot und damit dem Ende dieser Not entgegenführen. Wirst du zu fliehen suchen, so wirst du jenem Manne gleichen, von dem ich jetzt erzählen will.

Er saß rechts von mir gleich vorne unter den Zuhörern, gut erkennbar an seinem weißen Spitzbart. Jeden Abend saß er da, denn die Menschen sind auch darin konservativ, daß sie sich Abend um Abend gerne wieder auf denselben Platz setzen, das erspart Mühe und ist ein beliebtes Stück Ichbehauptung. Aber eines Abends fehlte mein Mann, und an den weiteren Abenden auch. Ich dachte: Wo ist denn mein weißer Spitzbart geblieben? Ist er unpäßlich geworden? Hat er sich die Influenza geholt? Oder …? Da, an einem Nachmittag, biege ich um eine Straßenecke und – wir prallen beinahe aufeinander, mein Spitzbart und ich. Eben wende ich mich noch nach ihm um und frage: „Entschuldigen Sie, Sie sind doch der Herr, der in den Vorträgen da und da immer vorne links gesessen. Ich habe Sie aber jetzt schon seit einigen Abenden nicht mehr gesehen. Darf ich Sie einladen, doch noch einmal wiederzukommen ?“ – O weh, noch während ich redete, sah er mich an, wie der Landstreicher den Wachtmeister, und ehe ich endigte, lief er eiligst mit den Worten davon: „Ich werde mich hüten, da geht's einem an den Kragen!“ – Sehen Sie, das war einer, der hatte gemerkt, wo es hingeht, wenn man mit der Bibelwahrheit zusammengerät, nämlich in die Sündennot hinein. Und da hat er schon auf der ersten Stufe schleunigst Reißaus genommen, um sein altes bißchen Leben vor dem Bankrott zu retten. – Wirst du es nun auch so machen? Es fragt sich aber, ob es dir gelingt; denn wo die Sündennot nur ein bißchen angefaßt hat, wirkt sie auch weiter und führt unerbittlich zur zweiten Stufe hinab.

Wie sieht es da aus? O, das ist die Stufe, wo sich die allgemeine Unzufriedenheit zur ganz bestimmten Einzelunzufriedenheit verdichtet. Es ist dies der Zeitabschnitt der Sündenerkenntnis im einzelnen Freund, diesen Zustand auf der zweiten Stufe wirst du nicht verstehen, wenn du nicht auf der ersten Stufe die Unzufriedenheit mit dir selbst bereits erlebt hast. Höre! – man kann jahrzehntelang Gottes Wort hören, ja sogar unter Bibelsprüchen wohnen, und dabei noch nicht ein einziges Mal zur Selbsterkenntnis gekommen sein. Man ist geblieben, was man schon immer war, nämlich ein dumm- und dickköpfig in sich selbst verliebter Pharisäer, dem nichts über sich und seine eingebildete regelrechte Frömmigkeit geht, die er steif und stolz vielleicht in ererbter Gewohnheit ausübt. Nie hat man sich durch den Glauben an Christus zum Zweifel an sich selbst und zur Entzweiung mit sich selbst hinleiten lassen. Nein, rund und satt thront man auf dem Stuhl der Selbstgefälligkeit, um eifrig Ehre bei Menschen zu suchen und schmunzelnd in Empfang zu nehmen. Man lebt vom Sein und Gelten und schwatzt von Kreuz und Gnade. Nie hat man vor der engen Pforte gestanden, noch viel weniger ist man durch sie hindurchgedrungen. Wahre wirkliche Sündennot kennt man noch nicht einmal von ferne; aber man singt von ihr aus Gesangbüchern und hört von ihr aus Predigten, und jedesmal denkt man, das liege doch wahrlich weit hinter und unter einem, und dankt Gott, daß man nie so schlecht gewesen. Man kommt sich vor wie jemand, der in der Kindheit glücklich an Scharlach und Masern vorbeigekommen ist und nun seine roten Backen und runden Arme bewundert: Gottlob, ich bin gesund geblieben! Ja, wehe deiner vermeintlichen Gesundheit! O, daß deine glatte Kraft einmal bersten, dein satter Dünkel einmal zur blassen Not werden und dein geölter Mund einmal aufschreien möchte im Weh über dich selbst! – Oder aber auch das: Man erzählt mit frömmelndem Behagen seine bewegte Bekehrungsgeschichte, rühmt sich der schaurigen Tiefe der einst durchlebten Sündennot und des erlangten Wissens von der eigenen Schlechtigkeit und – dennoch schwatzt nur die eitle Selbstverliebtheit! – O Menschenherz, du unerschöpfliche Vorratskammer des Truges und Verderbens!

Nur wirklich mit sich selbst uneins gewordene Leute, denen sich die Binde vor den Augen bereits gelockert und denen der Boden unter den Füßen bereits geschwankt hat, werden auf der zweiten Stufe hinab zur Sündennot zu finden sein, wo sie der Heilige Geist zu überführen vermag von Einzelsünden. Allmählich oder plötzlich sehen sie da ihre Taten und was sie vor Gott wert sind. Denn auf der zweiten Stufe geht es bereits hinein in die heilige Gegenwart Gottes. Die ist etwas anderes als feierlicher Stimmungszauber und sogenannter heiliger Schauer an frommen Orten oder in rührseligen Augenblicken. Es gibt nichts Ernüchternderes als die Gegenwart Gottes.

Es gibt nichts Unerbittlicheres als die Schwertschneide des Gotteswortes, die uns in die Gegenwart Gottes hineinzwingen will. Wie ein unvergleichlich streng Verhafteter werden wir da vor den einen Richter geführt, vor dem uns das Komödienspiel vergeht. Plötzlich stehen wir da in einem unbestechlichen Lichte und sehen zum ersten Mal alles, wie es ist. Die Binde ist uns von den Augen gefallen, wir schlagen in wirklichem Entsetzen die Hände vor das schamvoll entblößte, weh geblendete Angesicht und möchten vergehen. Ich weiß, man kann es jedem Menschen ansehen, ob er schon einmal so in der Gegenwart Gottes gestanden hat: Das getroffene Holz seines Stolzes trägt dann dauernd die Spuren jenes Blitzschlages. Nie wieder kann ein solcher Mensch sein Bild lieben wie ehedem. Nie wieder wagt er an seine frühere Größe zu glauben. Nie wieder gelingt es ihm, zu sich selbst aufzuschauen. Die üppige Kraft seiner Augenlider ist durch jenen Blitzschlag für immer gelähmt; er ist ein Mensch erniedrigter Augen geworden. Und doch hat er nie höher geschaut als jetzt, nie klarer und tiefer – er sah Gott und die eigene Sünde.

Da malt die Klarheit das Einzelne. Jenen Vorgang aus deiner Jugend und jenen danach. Du seufzest auf in Scham. Wie zeigt dir das unbestechliche Licht die Örtlichkeit so deutlich. Noch deutlicher zeigt es dir deine Schmach. Früher schon haßtest du diese Erinnerung um deiner selbst und der beteiligten Menschen willen. Deine bedrängte Selbstachtung bäumte sich auf, und deine Selbstliebe wollte immer entschuldigen. Nun aber siehst du, wie unentschuldbar du vor Gott gesündigt hast, und gibst jene Tat zum erstenmal als wirkliche Sünde preis. – Und Worte hörst du wieder, ja ganze Sätze. Lieblose, böse, giftige oder unwahre Worte und unreine. Ah, sieh, sie reden noch immer! Aber nie schlug ihr Klang dir so ins Gesicht wie jetzt.

Nie schämtest du dich ihrer so. Das macht sie klingen in Gottes Gegenwart wieder. Nun werden sie erst zur furchtbaren Sünde. –

Sogar Gedanken stehen wider dich auf. Deine eigenen vor langer Zeit oder erst gestern gedachten Gedanken. Böse Gedanken des Hasses und der Rachsucht, des Neides oder der Unreinheit. Wie leicht nahmst du früher derartige Kräuselungen in der Tätigkeit deines Bewußtseins. Jetzt siehst in ihnen das innerliche Rankwerk deines gottwidrigen natürlichen Wesens, aufgeschossen aus dem urverdorbenen Boden deines verlodderten, verlogenen Herzens, vor dem dir in der Gegenwart des Herzens Gottes wie nie zuvor zu grauen beginnt. – Und Gesichter siehst du, Menschengesichter, die du manchmal gegen deinen Willen wiedersahst, schreckhaft in der Nacht oder jäh am lichten Tage. Immer klagten sie dich an. Aber du verjagtest sie mit Stöhnen, Schwatzen, Pfeifen, Singen, Lachen oder Fluchen. Jetzt wagst du nicht den Mund gegen sie zu spitzen, denn sie erscheinen und reden jetzt in der Gegenwart Gottes und erzählen da deine Sünde. Nun weißt du, wie du zu ihnen stehst. – Auch Geld siehst du und mancherlei andere Dinge. Ganz genau weißt du die Höhe des entwendeten oder veruntreuten Betrages, ja du entsinnst dich sogar der Münzsorten. Wie oft, wie oft hat eine unsichtbare Hand auf jene Summen hingewiesen, gequält und geärgert wehrtest du dich. Nun liegt alles so genau hingelegt und hingezählt da in der Gegenwart Gottes; aber diesmal ärgert dich die Hand, die da zeigt, nicht mehr. Aber die Qual ist zur nimmer zu löschenden Flamme geworden. Es ist dir, als wüchsen deine Sünden vor deinen gesenkten Augen zusehends ins Unermeßliche, je länger das Licht der Gegenwart Gottes sie beleuchtet. Du möchtest vor ihrer erdrückenden Größe die Augen schließen – es nützt nichts –, deine Sünde ist immer vor dir. Du möchtest ihr den Rücken kehren, ihr entlaufen – es geht nicht – , deine Sünde ist immer vor dir. Du möchtest dich einen Narren schelten und die Bilder des Lichts Schatten des Wahnsinns nennen, die dein Stirnrunzeln wegschnellen will – hilft nichts –, deine Sünde ist immer vor dir. Was du auch versuchst und anfängst, du siehst und hörst immer ein Dreifaches: das verzehrende Feuer Gottes, aus dem die wehe Richterstimme in dich hineindringt, die Menge deiner Sünden, von denen jede einzelne dich dumpf anklagend zu Gott schreit, und dich selbst, den verklagten und gerichteten Sünder. Siehe, das ist bittere, wahre Sündennot!

Alsbald bemühst du dich um jeden Preis diese entsetzliche Not zu stillen. Da dir deine Sünden als Tatsachen feststehen, vor denen kein Wegblicken, Weglaufen und Wegleugnen möglich ist, so hoffst du vielleicht, die Zeit mildere den Schrecken und die Qual deiner Not. Du trägst das erlebte Gottesgericht noch stunden-, tage-, monatelang mit dir herum und wartest darauf, sein Feuer möge herunterbrennen, seine klaren Bilder möchten verblassen; ja, du hoffst vielleicht sogar, du könntest das qualvoll Erlebte vergessen. O Selbsttäuschung! – Schon ehe du in die Gegenwart Gottes kamst, ja, schon ehe dich jene, das erlebte Gericht einleitende allgemeine Unzufriedenheit erfaßte, ja, so lange du überhaupt denken kannst, konntest du deine Sünden nicht vergessen. Die unangenehme Erinnerung war ja immer da; du weißt es! Wie die Leichen der Ertrunkenen immer wieder an die Oberfläche des Wassers treiben, mag man sie auch mit Stangen hinunterstoßen, so kamen deine Sünden immer wieder an die Oberfläche deines Bewußtseins bei Tag und Nacht, wenn auch lange nicht alle emportrieben, aber da waren sie dennoch alle, das wußtest du immer. Hat schon dein Gewissen so treulich gearbeitet, wie viel weniger wirst du vergessen können, was dir der Heilige Geist im Lichte der Gegenwart Gottes gezeigt! – O, niemand kann seine Sünden vergessen! Ich wollte, ich könnte diese Wahrheit so laut ausrufen, daß die Fensterscheiben platzten und es über die ganze Stadt hintönte: Niemand kann seine Sünden vergessen! Und eben vorhin, als ich von Einzelsünden redete, und eben jetzt, wo ich vom Nichtvergessenkönnen der Sünde spreche, weiß ich, was in dir vorgeht und daß du aus deinem eigensten Erleben heraus eben das siehst und hörst und ganz genau verstehst, wovon ich rede. Also im Strome der Vergessenheit erwachte Sündennot versenken wollen, das geht nicht, das stillt nicht.

Da treibt dich die Not auf eine andere Idee. Du versuchst dich vor deinem eigenen Bewußtsein mit deiner erkannten Sündhaftigkeit abzufinden. Erst kürzlich las ich in einem moralphilosophischen Artikel: „Früher oder später aber wird diesen Kämpfenden und Suchenden Resignation (Verzichtleistung) beschert, das ist: ein Abfinden mit der eigenen Unzulänglichkeit.“ Wie harmlos, nicht wahr? Man findet sich einfach mit der vorgefundenen Sünde ab. Das können nur Menschen schwatzen, die nie die Gegenwart Gottes aufgrund des Wortes Gottes erlebt haben, sondern sich über Sünde und Erlösung von Sünde nur ihre eigenen billigen Gedanken machen. Du willst dich mit deinen Sünden abfinden? Ja, wenn sich Gott mit deinen Sünden abfände! Aber eben, das tut er ja nicht; das haben dir ja seine heilige Gegenwart und die Schwertschärfe seines Wortes und die Not in deiner Brust bewiesen. Also auch die Verzichtleistung auf Befreiung von Sündennot stillt diese Not nicht. Denn zu aller Tatsächlichkeit der Sünde tritt immer quälender noch eins hinzu – die Tatsächlichkeit der Schuld. Sünde und Schuld sind Zwillingsschwestern. Sie werden miteinander geboren und wachsen miteinander auf. Sie sind unzertrennlich miteinander vereint. – Auf einer alten Sonnenuhr in Italien fand man die Inschrift: „L'ora passa, ci resta il debito.“ Das heißt: die Stunde vergeht, die Schuld bleibt. Ja, die Stunde, in welcher die Sünde geboren wurde, geht dahin, aber die Schuld bleibt, weil die Sünde als Sünde bleibt, untilgbar, unausrottbar durch Menschenhand, unheimlich bleibt. Und merkwürdig – währenddem die Sünde immer starrer, fast möchte ich sagen, immer stummer zu Gott um Tilgung schreit, redet ihre Zwillingsschwester, die Schuld, immer beredter und anspruchsvoller zum Sünder, zu dir. Niemand, niemand kann sich ihrer Stimme entziehen. Niemand kann das Gewicht ihrer Ansprüche mindern. Niemand kann die Höhe ihrer Ansprüche verringern, niemand ihre Ansprüche stillen. Die Schuld, diese furchtbar bevollmächtigte Zwillingsschwester der Sünde, ist unerbittlich gleichwie der Tod, den ihre Schwester, wenn sie vollendet ist, gebiert. Und darum gewinnt sie das Übergewicht bei der Sündennot, und der Übel größtes ist tatsächlich die Schuld. So ist deine Sünde immer vor dir, aber deine Schuld ist immer auf dir.

Diese verdoppelte Not treibt dich zum Äußersten. Sünde hinter, in und vor dir, Schuld auf dir, Qual in dir, Gericht über dir – entsetzlich! das hältst du nicht mehr aus. Was tust du? Du läufst zum „Seelsorger“ und klagst ihm deine Sündennot. Gut, denn dafür ist der Seelsorger da, so wie der Leibesarzt für den Leib da ist. Aber wehe dir, wenn du an einen Seelenarzt gerätst, der selbst nie die eine Not, die kein Mensch stillen kann, erlebt hat. Der wird dich verwundert und ungeduldig anhören und dann zu dir sagen: Liebe Frau, Sie sind krank, gewissenskrank. Sie haben doch keine Ursache, sich so wegen Ihrer Sünde anzustellen. Wer hat Ihnen denn so die Hölle heiß gemacht. Es scheint, Sie haben zu viel in der Bibel gelesen. Ja, ja, das ungelehrte Bibellesen, das hat schon mancher den Kopf verdreht. Das hören Sie nur einmal zuerst auf. Und dann denken Sie doch nur einmal ruhig über alles nach. Sehen Sie, Sie sind doch eine ganz anständige und nette Frau. Wer kann Ihnen denn etwas Besonderes nachsagen? Ja, wenn Sie wer weiß was getan hätten; aber Sie haben ja gar nichts Schlimmes getan, so wenig wie ich! Sie haben sich zur Kirche gehalten, Sie sind kirchlich getraut. Ihre Kinderchen sind richtig getauft. Ich weiß wirklich nicht, was Sie wollen. Und für was haben wir denn den lieben Gott im Himmel und Kirche und Gnade auf Erden. Vertrauen Sie der Vatergüte Gottes und gehen Sie jetzt ruhig heim. Gott befohlen!

Ja, sieh, der Mann meint es gut. Es kann eben keiner mehr geben, als er selber hat. Aber deine Sündennot nimmst du wieder mit nach Haus; die konnte er dir nicht stillen. Und doch will sie gestillt sein. Da in deiner Not unternimmst du es vielleicht noch einmal, den alten immer wieder neu verlockenden Weg der Selbsthilfe, Selbstverbesserung und Selbsterlösung zu beschreiten. Du willst anders werden. Gute Vorsätze werden mit gekrampften Fäusten und aufeinandergebissenen Zähnen erneuert. Programme der Selbstzucht werden entworfen. Moralregeln werden aufgestellt, Bündnisse mit allem Guten und Edlen geschlossen. In allerlei Hilfs- und Wohltätigkeit stürzest du dich. Regelmäßig hörst du Predigten, besuchst Bibelstunden, beteiligst dich nunmehr vielleicht sogar am Sonntagsschulunterricht.

Durch alles dies willst du Sünden vermeiden und Schuld büßen. Ei, wie plagst du dich! In wie vielen nützlichen und frommen Vereinen bist du schon! Wie viele Seiten in der Bibel und wie viele christliche Blättchen und Schriften hast du nun schon gelesen! Ja, seit wie langer Zeit betest du schon regelmäßig und - wieviel Tränen hast du schon in deiner Not geweint! – Ach, längst hast du ja gehört von der Vergebung der Sünden im Blute Christi, aber du konntest das nie fassen; du sahst immer nur die Größe deiner Sünde und Schuld und den richtenden Gott und dich, den getroffenen Sünder. Dabei ist deine Not immer nur größer geworden. Nun aber wird sie riesengroß. Du siehst ein, dein Kämpfen und Ringen befreit dich nicht. Es gelingt dir nicht, so gut zu werden, wie du sein sollst. Im Gegenteil, du kommst dir immer schrecklicher vor. Die bisherigen Sünden konntest du nicht ungeschehen machen, und neue konntest du nicht vermeiden. Die alte Schuld konntest du nicht verringern, und neue kam hinzu. Du hast dein ehrlichstes Wollen eingesetzt, aber zu einem Vollbringen hat es nirgends gereicht. Besonders deine Lieblingssünde besiegst du nicht. Auf Tritt und Schritt begleitet dich das Bewußtsein deines sittlichen Unvermögens. Deine Gesichtszüge erschlaffen; deine Gestalt verfällt. Du willst die innere Not verbergen; es gelingt dir nicht. Deine Lieben fragen dich, was dir fehle; das macht dich noch unseliger. Laßt mich! sagst du, ihr versteht mich doch nicht! Ihr könnt mir doch nicht helfen! - Du wirst aufgeregt, heftig, ungerecht, böse. – Ach, alles ist nur die Folge deiner sich immer qualvoller steigernden Unzufriedenheit mit dir selbst! Nun macht dich dein ungerechtes Aufgeregtsein gegen andere noch unglücklicher. Die Entzweiung mit dir selbst wird immer entsetzlicher. Du murrest gegen Gott. Ah, welche Pein bringt das hinterher! Du hassest zeitweise die Frommen, schmähest ihren Wandel, ihren Frieden. Ah, wie das deine Qual vermehrt! Beten und Bibellesen werden dir immer öfter zur Folter, scheinen dir Heuchelei. Ah, wenn es doch keine Bibel, wenn es doch keinen Gott gäbe! – Du denkst an Selbstmord. – Selbstmord: deine letzte Selbsthilfe? – O Jammer! – Siehe, das ist Sündennot auf der zweiten Stufe! Siehe, das ist etwas von der Not, die kein Mensch stillen kann, kein Ehegatte, keine Ehegattin, nicht Bräutigam, nicht Braut, nicht Eltern, nicht Kinder, keine Freundschaft, keine Wissenschaft, weder Kunst noch Gunst noch Geld, weder Arzt noch Medizin, weder Arbeit noch Ruhe, ja weder Bibel- noch Predigtwort. –

Und doch ist das erst die zweite Stufe dieser einzigartigen Not. Aber nun die Frage: Hat dir die eben gehörte Schilderung das Bild deines eigenen Inneren gemalt? Bist du der Mensch, den der Blitzstrahl aus dem verzehrenden Feuer Gottes also getroffen und also gezeichnet? Bist du es, in dem der Pfeil des Allmächtigen steckt? Bist du es, der vergeblich gegen den Stachel ausschlägt? Bist du es, den die Schwertschneide des Gotteswortes also quälend verwundet hat? Bist du es, den der Hammer der göttlichen Wahrheit also zerschlagen? Bist du es, dem das heilige Gottesgesetz die Sünde so überaus sündig gemacht, also daß du nichts mehr siehst und dir nichts mehr gelingt und gerät, als Sünde, Sünde, Sünde? Bist du es, auf dem die Hand Gottes so schwer liegt? Bist du es, der hinabgeführt wird in die Höllenqual der Selbstentzweiung? Bist du es, der so die Not erlebt, die kein Mensch stillen kann?

O geliebter Mensch, glückselig bist du, wenn du es bist! Wie, glückselig? Ja, du Unseliger! Ja, du Verwundeter und Zerschlagener! Ja, du Gebeugter und Geängstigter! Ja, du Verarmter und Vereinsamter! Glückselig bist du; denn die Hand deines Gottes führt dich zu ewigem Heil! Komm, komm nur! Noch ist dein Herz nicht ganz durchbohrt; aber das Schwert wartet auf dich, das Schwert, dessen Arbeit dem Frieden vorausgeht, komm! Du weißt, ein Zurück gibt es nicht mehr! Also durch! Komm, setze den Fuß - nein, laß dich fallen, du Schwacher, du immer Fallender, lasse dich fallen, hinunter auf die dritte Stufe der Not, die kein Mensch stillen kann!

Wie sieht es da unten aus? Höre, die dritte Stufe der Sündennot ist gekennzeichnet als ein Zustand der Verzweiflung an dir selbst. Auf der ersten Stufe ward dir die Sinnenwelt verleidet, auf der zweiten Stufe wurde dir die Sündenwelt verleidet, und auf der dritten Stufe wird dir die Ichwelt verleidet. Oder auch so: auf der ersten Stufe kamst du zur Selbsterkenntnis, auf der zweiten Stufe gelangtest du zur Selbstbeschämung, und auf der dritten Stufe kommst du zur Selbstverwerfung. – Siehe, genau denselben Tiefgang der Sündennot erlebte der „Verlorene Sohn“; den uns Jesus im Gleichnis (Lukas 15) zeichnet. Als er an der Sättigung durch die ihn umgebende Welt verzweifelte, kam er zu sich selbst, und in dieser Selbsterkenntnis zu solcher Entzweiung mit dieser unergiebigen Welt, daß er sprach: Ich will mich aufmachen usw., nämlich, ich will die Stätte Darbens verlassen. Das war Not. Aber entzweit mit der Welt, sah er sich nun auch entzweit mit seinem eigenen Leben in dieser Welt. Aus dem allgemeinen Mangel und der allgemeinen Unzufriedenheit ward die Unzufriedenheit mit sich selbst. Das führte ihn zur Selbstbeschämung. So mußte er sagen: Ich habe gesündigt … Nun wollte er nicht mehr nur von der unergiebigen Welt, sondern von seinem eigenen unergiebigen Leben weggehen. Das brachte ihn schließlich zur Entzweiung mit seinem eigenen Ich, als dem Veranlasser seines Sündenlebens, und so mußte seine Selbstbeschämung zur Selbstverwerfung führen, also daß er sprechen mußte: Ich bin nicht wert …! – Siehe, so geht's in jeder ehrlichen Sündennot und bei jedem rechten Bußgang! Immer führt wahre Selbsterkenntnis – die man aber nie durch die Weltweisheit, sondern nur durch die Gottesweisheit des Gotteswortes und immer nur im Gegensatz zur Weltweisheit und Weltart, nämlich in der Entzweiung mit ihr erlebt – immer führt diese wahre Selbsterkenntnis auch zur Entzweiung mit unserem eigenen Leben, nämlich zur Selbstbeschämung, die weiß: Ich habe gesündigt. Und immer wird wahre Selbstbeschämung als Frucht wahrer Selbsterkenntnis zur schließlichen Selbstverwerfung führen, die er bekennt: Ich bin nicht wert. Das lernen wir schmerzlich auf der dritten Stufe der Not, die kein Mensch stillen kann. Da gibt der Mensch nicht mehr nur sein Leben als Sünde preis, nein, da gibt er sein persönliches Wesen preis. Da gibt er nichts Geringeres als sich selber auf; denn da macht er Bankrott, das heißt, da findet er nichts Wertvolles mehr an und in sich und hält sich für so arm, daß er nichts mehr kann und nichts mehr hat. Bis dahin hatte er doch noch immer den Glauben an sich selbst. Wohl gab er seine einzelnen Sünden zu und ließ sie fahren; aber an seiner Kraft zur Selbstverbesserung hielt er fest. Wohl erdrückte ihn beinahe die Not seiner Sündenschuld, aber an der Notwendigkeit und Möglichkeit, sich selbst zu seinem besseren Selbst emporarbeiten zu müssen und zu können, hatte er nicht zu zweifeln gewagt.

Wohl wußte er sich behangen und befleckt, belastet und gehindert mit Unzulänglichkeit und Erbärmlichkeit rundum, aber von dem sogenannten einen guten Haar, an dem er sich aus dem Sumpf herauszuziehen gedachte, hatte er sich nicht trennen lassen. Jetzt aber sinkt die angeborene Selbstbehauptung und Selbstgefälligkeit des Menschen auf den Nullpunkt. Jetzt erkennt er das Wesen seiner ihm angeborenen sündigen Natur. Mit dem Apostel Paulus weiß er nun: Ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt (Römer 7,18). Aufs Tiefste, Qualvollste und Endgültigste mit sich selbst entzweit, verzweifelt er endlich an sich selbst, sagt sich von sich selbst los, läßt sich los, gibt sich preis, gibt sich verloren, verwirft sich! Ah, das ist der grause Tiefpunkt der Not, die kein Mensch stillen kann! Ah, ehe ein Mensch dahin kommt! Ah, ehe er dies vernichtende Wissen erlernt: In mir, in meinem angeborenen Wesen ist nichts Gutes! Höre: Nichts Gutes in dir! Nichts, aber auch nichts! Da steht der Mensch nicht mehr nur vor seiner Sünde, nein, da steht er einfach vor seinem Nichts! Nein, das ist nicht genug gesagt – er steht nicht nur vor seinem Nichts, höre: Er liegt da als Nichts! Zerbrochen – zerschlagen – völlig verarmt – bankrott – verloren! Mit ureinzigem Entsetzen ermißt der bis zum Tod geängstigte Geist seinen Tiefstand gegenüber Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit. Die Entfernung und Trennung von Gott scheint grenzenlos und unüberbrückbar, der Fehlbetrag, für immer unwiederbringlich. Schauerliche undurchdringliche Nacht umfängt die wie im Tode bebende Seele. Es ist ihr, als reiße jetzt das allerletzte, dünnste und gedehnteste Fädchen, das sie noch mit Gott, ihrem Ursprung, verbindet, und dann falle sie hinab in die äußerste Finsternis. Da, in dieser grundstürzenden Erschütterung deiner Seele schreist du auf: Ich elender Mensch, wer rettet mich …?

Und – wunderbar! – nie glaubtest du dich Gott ferner als jetzt in dieser tiefsten Tiefe deiner Sündennot, und nie war er, dein Gott, dir näher als eben jetzt. Er, der in denen wohnen will, die zerschlagenen Herzens und geängstigten und gedemütigten Geistes sind, er, der Hohe und Erhabene, der ewiglich wohnet und des Name heilig ist (Jes. 57,15), der hat dich nun, wo er dich haben will; denn sein Heiliger Geist hat dich hinabgeleitet in diese schauerliche Tiefe der Sündennot, die kein Mensch stillen kann, sondern nur er, der sie gewirkt. Er, dein Erbarmer, steht nun bei dir. Du fällst, ja du fällst, denn deine Hände haben keinen Halt, deine Füße keinen Boden mehr; du stürzest, ja du stürzest – aber plötzlich fühlst du dich ergriffen, gefaßt, gehalten; du öffnest die wie geblendeten Augen und findest dich in den Händen Jesu, deines Erbarmers und Erretters.

Siehe da, dein gottgesandter Nothelfer und Notstiller! So wie du ihn nun aus der tiefsten Tiefe deiner Sündennot heraus erschauest, so hast du ihn nie zuvor gesehen. Unmittelbar erkennst du ihn jetzt als den notwendigen – hörst du? – notwendigen! – Mittler zwischen dem hohen heiligen Gott und dir, dem versinkenden armen, elenden Sünder. Ohne daß es dir einer groß und breit auseinanderzusetzen und logisch und theologisch klarzumachen braucht, schauest du ihn jetzt als deinen einzigen Helfer. Ein Blick aus der Verzweiflungstiefe deiner Sündennot in sein dir zugewandtes Retterangesicht hinein, und du weißt auch, daß er dir jetzt nicht helfen will mit bloßen Worten moralischer Gottesweisheit, sondern daß er dir helfen muß und wird mit dem Einen, was dir in deiner Not allein nottut, nämlich mit der Abnahme deiner Sündennot und Schuldlast, als Vergebung deiner Sünden, und mit der Entlastung von dir selbst, als Bringer neuen ewigen Lebens in der Kraft aus der Höhe.

Ja, nur so kann er deine Not stillen, und so hat er sie schon gestillt! Sieh und höre! – Er entblößt sein Herz vor dir und zeigt da auf eine immer noch rote Wunde. Und die zeigende Hand und auch die andere tragen immer noch dieselbe rote Wunde. Und auch die Füße. So zeigend spricht er zu dir: Siehe, da floß mein Blut, vergossen zur Vergebung auch deiner Sünden. Siehe, darum kam ich in die Blutsnot von Gethsemane und Golgatha, daß ich dir aus der einen Not heraushülfe, aus der du dir nicht selbst und kein Mensch dir heraushelfen kann. Siehe, darum ließ ich euer aller Sünde auf mich werfen und trug sie auf meinem Leibe hinauf ans Fluchholz des Kreuzes, damit ich euch allen und auch dir abnähme die Last, die niemand sonst abnehmen kann. Siehe, darum ließ ich mich als der Sündlose für euch alle und auch für dich von Gott und Menschen zur Sünde machen, damit ihr alle und auch du rein und gerecht würdet um den Preis des Lösegeldes meines Blutes und Lebens. Siehe, darum erlitt ich für euch alle und auch für dich den Tod als der Sünde Sold unterm heiligen Gerichte Gottes, damit auch du vom Tod in Sünden und vom kommenden Gerichte befreit würdest und Gnade und ewiges Leben aus dem Himmel empfingest. Siehe, darum mußtest du nun in die Sündennot kommen, damit du zu mir, dem Sünderheiland kämest und an meinem Herzen all deine Not gestillt würde. Siehe, darum habe ich mich für dich dahingegeben, damit du dich nun mir hingäbest. Willst du, so komm! – Ach, da liegst du ihm zu Füßen und wirst gehoben zu seinem Herzen, und bekennst mit dem letzten Schrei der Not und dem ersten Jubellaut der Errettung:

All‘ Sünd‘ hast du getragen,
Sonst müßte ich verzagen;
Erbarm dich meiner, Herr Jesu!

Nun gehörst du nicht mehr dir selbst, nun gehörst du ihm, deinem Erretter und Herrn. In der Tiefe deiner Sündennot mit dir selbst immer qualvoller uneins geworden, ließest du dich endlich fahren, verwarfst dich und warfst dich ihm ans Herz – nun wirst du nie mehr mit dir eins, aber bist auf ewig eins mit ihm; wirst nie mehr mit dir zufrieden, aber auf ewig ist er nun dein Friede. Das ist Rettung aus Sündennot! Das ist Erlösung, nämlich Entlastung von uns selbst! Das ist Freude und Seligkeit, nämlich Gewinn göttlichen ewigen Lebens!

Magst du nun hoch oder niedrig im Leben stehen, gebildet oder ungebildet sein, größeren Adel gibt es für dich fürderhin keinen mehr, als den, – Christi bluterkauftes Eigentum zu sein; größere Weisheit kann dir nimmer werden, als die, – Christus starb für mich. Magst du nun sterben auf seidenen Kissen oder elenden Lappen, dein irdisch Leben aushauchen im Frieden deiner Arbeit oder im Lärm des Krieges, er, dein treuer Notstiller ist bei dir, und wie ein kleines Kind betest du das alte Verslein:

Christi Blut und Gerechtigkeit,
Das ist mein Schmuck und Ehrenkleid,
Damit will ich vor Gott bestehn,
Wenn ich zum Himmel werd‘ eingehn.

Deine Not, die einzige, die kein Mensch stillen konnte, die ist gestillt. – Oder, – oder willst du zweifeln? – Freund, man zweifelt nur so lang, bis man an sich selbst verzweifelt. Willst du an der Macht seiner Retterliebe zweifeln? – Willst du mit Kain, dem ersten Mörder sprechen: Meine Sünde ist zu groß, als daß sie mir vergeben werden könnte!? – Oder willst du mit den damaligen und heutigen Pharisäern sprechen: Meine Sünde ist zu klein, als daß sie solcher Not und Vergebung bedürfte!? – Oder willst du zu den ichsicheren modernen Bildungspharisäern gehören, die durch ihre große Zweifelsbrille die menschliche Sünde und den göttlichen Sünderheiland mit dreister „Sachlichkeit“ – „untersuchen“ und ihre Fündlein ins Notizbuch ihrer Gelehrsamkeit eintragen, um sich und anderen klarzumachen, daß es weder Sünde in unbedingtem Sinne gibt noch eines Sünderheilandes im Sinne des blutigen Opfers bedarf, sondern jeder sich selber zu erlösen habe, wenn überhaupt Erlösung nötig!? –

O Freund, mag einer von diesen gelehrten Ungläubigen erst einmal das Gleichgewicht der Selbstgerechtigkeit und Selbstweisheit verlieren und in die Tiefe der Sündennot durch Gottes Erbarmung hinabpurzeln, – dann weiß er als armer Sünder, wer Jesus Christus und er selber ist; eher lernt er es nie! – Das gilt auch den ehrlichen Zweiflern für ihre Zweifelsnot. Niemand durchlebt die Sündennot, ohne daß er mit ihr auch befreit wird von der Zweifelsnot. Lerne nur verzweifeln an dir, und du wirst verzweifeln an allen deinen Zweifeln!

Nur wer aufhört an sich zu glauben, fängt wahrhaft an, an Christus zu glauben. Nur wer im Durchleben der Sündennot, beim Hinabstieg in die Schmerzen und Wehen der Selbsterkenntnis, – Selbstbeschämung – und Selbstverwerfung reif zu der grundstürzenden Selbstverneinung geworden ist, von der Jesus Christus im Evangelium redet, und vor dem himmlischen Notstiller sein Leben hassen und lassen gelernt hat, wird weise zur Jesusbejahung und Jesusnachfolge. Nur um der Preisgabe deiner eigenen Gerechtigkeit und Herrlichkeit willen kannst du Gottes Gerechtigkeit und Herrlichkeit im Liebesopfer Jesu Christi empfangen. Das ist die einzig wahre Jesusnachfolge. Alles andere ist selbstsicheres, selbstgefälliges religiöses Gaukelspiel, von dem die satanisch betrogene, im Argen liegende Welt voll ist. Wer aber durch die enge Pforte der Sündennot hindurchgedrungen ist und sein Leben hingegeben hat, der wird es wiederempfangen als Christi Leben, frei von Sündenherrschaft und Sündennot. Freund, magst du die eine Not, die kein Mensch stillen kann, in drei Minuten oder in dreißig Jahren durchleben, – darauf kommt es nicht an, – aber erleben mußt du sie! Warte nicht, bis du zum Erleben unfähig geworden bist! Warte nicht, bis das Erleben der Sündennot selber unfruchtbar für dich wird, weil du sie zu spät, vielleicht erst auf dem Sterbebett erlebst, und dann, – obwohl wie ein Brand aus dem Feuer gerettet, – keine Zeit mehr hast zur Jesusnachfolge! Erkenne und verwirf dich heute! Wirf dich deinem Heiland zu Füßen, ehe du in die ewige Not kommst, die dann auch Gott nicht mehr stillen kann!

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