Binde, Fritz - Die größte Revolution

Binde, Fritz - Die größte Revolution

Ungeheure Umwälzungen haben das Leben einer Reihe von Völkern bewegt und bewegen es noch. Tatsächlich ist das Oberste nach unten und das Unterste nach oben gekehrt worden. Gekrönte Machthaber sind gestürzt, getötet oder verjagt worden. Machtlüsterne sind mehr oder weniger gewalttätig nach oben gekommen und wollen nach ganz neuen Ordnungen den Völkern Heil und Gedeihen bringen. Eine neue Zeit sei angebrochen, heißt es, ein neuer Weltenmärz habe begonnen. Der Sinn des Weltkrieges sei die Offenbarwerdung alles Veralteten, Verrotteten und Unhaltbaren gewesen, dessen Zusammensturz habe erfolgen müssen. Mit der überlebten Machtstellung und Gewaltherrschaft bevorrechtet gewesener einzelner Häupter oder der oberen Zehntausend sei es nun vorbei. Durch die ungeheure Kraftaufrüttelung im Weltenkrieg sei das Volk unter schmerzlichen Opfern klug und reif geworden zur Selbstregierung. Nun nehme es sein Geschick endlich frei, sicher und bewußt in die eigenen Hände. An Stelle der persönlichen Willkürherrschaft trete nun die allein gerechte Volksherrschaft, an Stelle der unheilvollen Machtpolitik die heilsame Friedenspolitik. Und nun breche auch das Zeitalter der sozialen Gerechtigkeit endlich an. Der grelle Flammenbrand des Krieges habe den Arbeiter sehend gemacht. Die privatkapitalistische Wirtschaftsordnung sei als die Ursache des Völkermordens erkannt worden. Deshalb müsse der Demokratisierung der Politik die Sozialisierung der wirtschaftlichen Produktion und Konsumtion 1) folgen. Nur in der sozialen Demokratie liege das Heil der Zukunft. Aber während die einen eine allmähliche Vergesellschaftung der Gütererzeugung und des Güterverbrauches, sowie aller Arbeit anstreben, wollen die anderen den gewaltsamen Abbruch jeder Privatwirtschaft und die sofortige Gültigkeit einer kommunistischen Wirtschaftsweise. So brennt das Völkerleben gegenwärtig im Feuer einer tatsächlich nie dagewesenen Umwandlung. Nichts scheint mehr fest zu stehen, alles scheint sich neu gestalten zu wollen. Wahrlich, wir leben in einer Zeit großer Umwälzungen!

Aber trotz ihrer erlangten Gewalt und Größe sagen uns diese Umwälzungen eigentlich nichts Neues. Sie sind nur die über Nacht reifgewordene Wirklichkeitsernte einer jahrzehntelangen wohlbekannten Gedankenaussaat. Längst hielt man die monarchische Regierungsform für veraltet und betrachtete ihren Zusammenbruch nur noch als eine Frage der Zeit, obgleich ihr Ende jetzt unerwartet schnell kam. Und längst erwartete man bis hoch ins Bürgertum hinauf eine vermehrte Teilnahme des Volkes an der Gesetzgebung und den politischen Regierungsgeschäften, obgleich man sich die Verwirklichung dieser Erwartung ganz anders gedacht hatte. Ebenso hatte man sich angesichts des Wachstums der sozialdemokratischen Partei ja längst mit dem kommenden Umsturz vertraut gemacht, obgleich ihn niemand in so schnellreifer Plötzlichkeit und in so unheimlich glattem Verlauf erwartet hatte. Also bedeuten die ein- getretenen großen Umwälzungen eigentlich nur die überraschend schnell gekommene Verwirklichung längst bekannter Gedankengänge und längst gehegter Erwartungen, die durch die Gluthitze des unseligen Krieges zur jähen Tatreife gebracht worden sind. Man erntet jetzt geschichtlich, was man seit Jahrzehnten in Leichtfertigkeit oder Trotz gedanklich gesät hat.

Und mit der begonnenen Verwirklichung der großen Umwälzungen zeigt sich dem nüchternen Beobachter bereits die durchaus begrenzte Wirkung der Revolution.

Welch ein Zauber war doch von dem Schlagwort „Demokratisierung“ ausgegangen! Der verheißungsvolle Inhalt dieses Wortes wurde als der beglückende Lohn des Krieges und Sieges angesehen. Und doch hat nichts den Siegeswillen des deutschen Volkes so gelähmt und seine einheitliche Kraft so zerspalten und zerrissen wie der blendende, ablenkende Zauber dieses zu so verkehrter Zeit den Massen zugerufenen Schlagwortes. Sonst pflegte man sich im Krieg durch Kriegslist zu besiegen; das deutsche Volk aber ist durch Wilsons Friedenslist besiegt worden. Und eben der glänzende Köder, mit dessen Hilfe diese Friedenslist gelang, war der blendende Zauber des Schlagwortes „Demokratie“! Verjagt euren Kaiser, verschafft euch eine demokratische Regierung, und ihr bekommt schnellstens den schönsten demokratischen „Gerechtigkeitsfrieden“ und die freundlichste Aufnahme in den nach den saubersten Grundsätzen der Demokratie ausgedachten „Völkerbund“! Nun hat das deutsche Volk die „Demokratie“ samt der Niederlage, den „Gewaltfrieden“ samt Ausschluß vom „Völkerbund“ und dazu den Wirtschaftskrieg samt Brudermord im Inneren! Welch eine schmählich begrenzte Wirkung der politischen Revolution!

Aber auch vom Geschick Deutschlands abgesehen lohnt sich die Betrachtung der Frage: Reicht eine politische Revolution aus, einem Volke oder Völkern wirkliches Heil zu bringen?

Was geschieht denn bei einer politischen Umwälzung? Eine neue Regierungsform kommt obenauf. Neue Männer treten an die Spitze eines Volkes und versprechen mit einem neuen Regierungsprogramm dem Volke ein ganz neues Glück. Heißt die neue Regierungsform Demokratie, so werden ihre führenden Vertreter alle vorgefundenen Schäden und Unzulänglichkeiten im Befinden des Volkes einfach dem abgetanen monarchischen Regiment zuschreiben und sich um so mehr als die vollberechtigten, zuverlässigeren Volksbeglücker empfehlen. Nun endlich habe die Gerechtigkeit über die Ungerechtigkeit, die Freiheit über die Knechtschaft gesiegt. Nun endlich gelte nicht mehr die Willkür bevorrechtigter Einzelner, sondern der Gesamtwille des Volkes, der allein Gewähr für das Wohlbefinden aller biete. Freie Bahn sei nun da für jeden Tüchtigen. Gedankenfreiheit, Pressefreiheit, Lehrfreiheit seien nun erobert. Jedem Traum von Volksfreiheit wird prompt Verwirklichung zugesichert, jeder materiellen Not soll schleunigst abgeholfen werden. Die Gefängnisse werden geöffnet, die Opfer der früheren Regierungsgewalt sind befreit. Militär- und Polizeigewalt stehen nun, heißt es, nur noch im Dienste des Volkes, das sich fortan selbst regiere und nur noch das Gesamtwohl im Auge habe.

Jedoch bald folgt die Enttäuschung. Auch die neue Regierung erweist sich nicht als eine wirkliche Volksregierung. Sie stellt auch nur eine Machtgruppe dar, die sich als solche wehren und behaupten muß. Dazu braucht sie Gewalt, die ihrem Interesse dienen muß; also kann sie keine wirkliche Vertreterin des Gesamtinteresses sein. Es ist ihr ganz unmöglich, ihre Versprechungen von Freiheit einzulösen. Sie muß vor allen Dingen auf die Erhaltung ihrer Macht bedacht sein. Zu dem Zweck macht sie wohl Zugeständnisse, aber zu demselben Zweck übt sie auch Unterdrückung. Eben das heißt regieren. Unmöglich kann sie es allen recht machen, ja, sie darf es nicht allen recht machen; das wäre ihre Selbstauflösung. Also wird man ihr Regiment wohl oder übel ungerecht finden. Die große Befriedigung bei ihrem Antritt ist längst in allerlei Unzufriedenheit umgeschlagen. Alte Feinde widerstehen zuversichtlicher, neue, vielleicht aus verwandtem Parteilager, treten gefahrdrohend auf. Der Kampf um die Macht wogt, schwankt; eben das ist Politik. Steigert er sich zur Anwendung äußerer Gewalt, so ist die blutige Gegenrevolution da. Es werden wieder Menschen getötet, die Gefängnisse füllen sich wieder, und Zwang und Gewalt werden rücksichtsloser in Anwendung gebracht als zuvor. Was hat sich denn geändert? Was ist denn besser geworden? Im Grunde nichts. Wohl gilt eine neue Regierungsform, aber die Menschen sind die alten geblieben! Und deshalb ist auch das Anrecht samt Unzufriedenheit und Unheil trotz des Regierungswechsels wesentlich dasselbe geblieben. Die politische Revolution hat sich als nicht groß, nicht gründlich und weittragend genug erwiesen.

Und deshalb muß auch der Glaube an die Demokratie, als ob die Wohlfahrt der Menschheit durch „Volksherrschaft“ erreicht und gesichert werden könnte, nur zu immer größeren Enttäuschungen führen.

Im besten Falle sollte die Demokratie der breiteste Weg zur Aristokratie, das heißt zur leichtmöglichsten Herrschaft der Besten und Tüchtigsten im Volke sein. Leider bleibt dieser Fall immer nur Theorie. In Wirklichkeit herrschen auch in der Demokratie nur die Herrschsüchtigen, die Ehrgeizigen, die schlauen Demagogen, eben die politischen Köpfe. Ihnen ist auch die Demokratie nur ein Mittel, um obenauf zu kommen. Und ihre klügste Regierungskunst besteht darin, dem Volke die Meinung zu erhalten, es regiere sich selbst, währenddem doch in Wirklichkeit sie die Politik machen. Es kann aber auch gar nicht anders sein. Nie kann ein Volk als Volk regieren. Jede Regierung ist nur möglich als repräsentative Vertretung. Das Volk kann sich also höchstens seine Regierung wählen. Aber bereits bei der Wahl folgt es der Führung einzelner weniger. Eigentlich beruht der Glaube an die Demokratie ja auf der ganz unbewiesenen Meinung, daß zwölfe gescheiter und gerechter seien als einer. In Wahrheit sind von zwölf Menschen gewöhnlich elf führungsbedürftig, und der zwölfte taugt kaum als Führer. Und dieses Verhältnis wird trotz aller gerühmten „Aufklärung“ auch fernerhin gelten; denn es entspricht dem Stande der unveränderlichen menschlichen Natur. Man mag jeden Einzelmenschen noch so feierlich als vollwertig und vollberechtigt erklären, dennoch wird die ideale Demokratie immer an der Natur der Masse scheitern, und die reale Demokratie wird auch nur Herrschaft über die Masse sein können, also immerdar mit Willkür, Ungerechtigkeit, Unheil und Unzufriedenheit, Zwang und Auflehnung verbunden bleiben. Eine Selbstregierung eines Volkes hat es nie gegeben und wird es nie geben. Noch unmöglicher ist die Verwirklichung einer „Weltdemokratie“; sie würde nur auf die nahezu allmächtige, tatsächlich „weltweite“ Herrschaft einiger eiserner Imperialisten hinauslaufen, die die Menschheit eben mit dem Trugwort „Demokratie“ zu narren verständen, wie es bereits zum Teil geschehen ist und leider noch mehr geschehen wird.

So wird der Glaube, der sein Heil von der Demokratie erwartet, zuschanden werden an der unzulänglichen Natur der Masse und an der zweifelhaften Natur ihrer Führer.

Aber vielleicht ist von der wirtschaftlichen und sozialen Revolution mehr zu erwarten. Das Wort „Sozialismus“ gilt ja längst als Hauptwort, das dem Wort „Demokratie“ erst den rechten Klang und Inhalt geben soll. Die politische Revolution will ja nur durch Erlangung der Regierungsgewalt die Klinke der Gesetzgebung in die Hand bekommen, um das Recht des Besitzes und damit die gesellschaftliche Ordnung und Wirtschaftsweise plötzlich oder allmählich zu ändern. Erstrebt die Demokratie die Überführung der politischen Macht in die Hände der Gesamtheit, so erstrebt der Sozialismus die Überführung des wirtschaftlichen Besitzes in dieselben Hände der Gesamtheit. Der politische Kampf um die Macht und der wirtschaftliche Kampf um den Besitz sind heute nicht mehr voneinander zu trennen. Durch Macht zum Besitz, durch Besitz zur Macht.

Die soziale Revolution will also eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftsform obenauf bringen. Wie die private Regierungsherrschaft des Monarchen, so soll die private Geldherrschaft des Kapitalisten verschwinden. Nicht mehr soll die Arbeit vieler nur einen einzelnen reich machen, sondern der Ertrag der Arbeit aller soll allen zugute kommen. Zu diesem Zweck sollen die Erzeugung und die Verteilung der Kulturgüter und Naturprodukte vergesellschaftet, das heißt die Privatwirtschaft soll in eine Sozialwirtschaft umgewandelt werden. Gleiche Arbeitspflicht und gleicher Arbeitsgewinn für alle. Die Volksgesellschaft der eine Arbeitgeber, jeder Volksgenosse ein vollbelohnter Arbeitnehmer. Auf diese Weise soll die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen endlich ihr Ende finden. Überfluß und Mangel sollen verschwinden, die Verbrechen von selbst aufhören, die Verantwortlichkeit aller für alle soll als sittlich soziales Lebensgesetz gelten und eine ganz neue höhere Gerechtigkeit zum Heile der Menschheit verwirklicht werden.

Welch eine große Umwälzung! Und doch wie einfach, wie einleuchtend, wie notwendig, wie verlockend, ja bezaubernd! Und wie man sich bei der politischen Revolution mit einem Schlage der Fürstenherrschaft erledigt hat, so möchte man auch am liebsten mit einem Schlage die Kapitalherrschaft stürzen. Indes ist es ungleich leichter, einen Fürsten zu verjagen und eine Regierungsform zu annullieren, als ein tief eingewurzeltes und schier endlos verzweigtes Wirtschaftssystem auszurotten. Und noch ungleich schwieriger ist es, ein Menschenherz vom Privatbetrieb und Privatbesitz zu lösen.

Da ist es naturgemäß die Arbeiterklasse, die das größte Interesse an der sozialen Revolution hat. Aber wie die ersehnte Umwälzung verwirklichen? Da muß zunächst alles dienen, was irgendwie die privatkapitalistische Wirtschaftsweise hemmen, beeinträchtigen und zertrümmern hilft. Dazu braucht es eine geschlossene Macht: also gewerkschaftlicher Zusammenschluß aller Lohnarbeiter, zwecks Preissteigerung der Arbeitskraft, das heißt Lohnerhöhung, und zugleich zwecks Schonung der Arbeitskraft, das heißt Verminderung der Arbeitszeit, nötigenfalls Verweigerung der Arbeitskraft, das heißt Streik. Da aber die kapitalistischen Arbeitgeber sich ebenfalls zusammenschließen und den durch erhöhte Lohnzahlungen erlittenen Verlust an Gewinn durch Preissteigerung des Produktes wett zu machen suchen, so ist der errungene Vorteil der Arbeiterklasse immer ein zweifelhafter und drängt zu immer erbitterteren Lohnkämpfen und zu immer ausgedehnteren Arbeitseinstellungen. Zweifellos steigert sich aber die wirtschaftspolitische Macht der Arbeiter- klasse in diesen Kämpfen immer mehr und die Beunruhigung der kapitalistischen Welt wird entscheidungsschwerer. Der Klassenkampf wird immer erbitterter, nimmt immer revolutionärere Formen an, und die umstürzlerische Herrschaft der Arbeiterklasse scheint nur noch eine Frage der Zeit.

Aber auch bei dieser gewaltigen wirtschaftlichen Revolutionierung ist es so: Je näher sie zu ihrem Ziele zu kommen scheint, desto deutlicher zeigt sich dem nüchternen Beobachter bereits ihre Begrenztheit und Unzulänglichkeit. Das Zauberwort „Sozialismus“, mit dem man heute eine neue Welt zu erschließen hofft, wird ebenso wie das Trugwort „Demokratie“ in demselben Maße seinen Glanz verlieren, als man versuchen wird, ihm einen Wirklichkeitsinhalt zu geben.

Auch der Sieg der sozialen Revolution wird nur Enttäuschungen bringen. Denn auch hier kann es sich höchstens um einen äußeren Formenwechsel handeln. Eine andere Wirtschaftsweise soll zur Geltung gebracht werden. Wodurch? Durch die siegende Gewaltmacht der Arbeiterklasse, welche sich als Heilbringerin für alle gebärdet. Worauf stützt sich ihre Zuversicht? Auf den schiefen Lehrsatz, der Mensch sei das Produkt seiner äußeren Verhältnisse; man müsse den heutigen Menschen nur aus den erdrückenden Fesseln der privatkapitalistischen Wirtschaftsweise lösen, und er werde frei und heil. So komme die Zertrümmerung der kapitalistischen Welt selbst den Gegnern der Revolution zugute, denn auch sie fänden dabei nur Befreiung. Daher die grundsätzliche Unersättlichkeit in Lohnforderungen und die Rücksichtslosigkeit des Streiks; beides soll ja nur der Auflösung des gegenwärtigen Wirtschaftssystems dienen. Daher auch die Putsche und Aufstände, diese meist blutigen Einübungen auf den Tag der vollen „Diktatur des Proletariats“. Was liegt an den Menschenopfern? Die kommende Freiheit wiegt sie weit auf. Also Umsturz des Bestehenden um jeden Preis.

Wie aber soll aus dieser heillosen Zertrümmerungssucht künftiges Heil erwachsen? Hat der Haß je eine bessere Welt geboren? Kann aus der Zwangsherrschaft der Arbeiterklasse die Freiheit erblühen? Wie sollen bessere Verhältnisse kommen, wenn das Verhalten der Revolutionäre das gleiche wie das ihrer „reaktionären“ Gegner ist? Hier wie dort Machttrotz, Gewalttat, Zwangsherrschaft, schreiende Ungerechtigkeit. Denn hier wie dort herrschen dieselben Beweggründe, nämlich Ehrsucht, Habsucht, Genußsucht mit allen Äußerungen des Neides, der Nörgelei, der Verbitterung, Verblendung, Verrohung. Zu keiner Zeit ist so viel von „Gerechtigkeit“ geredet und geschrieben worden wie heute, und zu keiner Zeit hat die Ungerechtigkeit so überhand genommen wie in unseren Tagen. Zu keiner Zeit hat man so die „Freiheit“ verkündigt, und nie hat es so viel Zwang für den Einzelmenschen gegeben wie heute. Zu keiner Zeit hat man so den „Frieden“ betont, und niemals waren die Menschen so in jeder Art von Krieg widereinander wie eben jetzt. Zu keiner Zeit hat es so viel „Zusammenschlüsse“, „Vereinigungen“ und „Bündnisse“ gegeben, und nie klaffte in Wirklichkeit so alles auseinander wie in unserer zerrissenen Zeit. Zu keiner Zeit hat man so viel zu erziehen gesucht, und gab es wohl jemals so viel Unerzogenheit und gewissenlose Zuchtlosigkeit in allen Kreisen? Zu keiner Zeit hat man so ruhmredig der „Aufklärung“ und „Bildung“ vertraut, und nie haben beide so elend bankrott gemacht wie heute. Nie wurde so viel gelogen, nie so viel versprochen und so wenig gehalten, nie gab es so viel Untreue, Unwahrheit und Unheil auf Erden wie heute.

So sind die vielen revolutionären Erschütterungen unserer Tage durchaus kein Zeichen einer begonnenen Genesung zum Besseren, sondern nur ein Beweis für die zunehmende Verirrung und Verwirrung unseres Geschlechts. Denn auch der sogenannte Arbeitssozialismus, der die Revolution durch die Evolution verhindern, also die Zeitübel durch entwicklungsgemäße Reformarbeit heilen möchte, kommt über eine strittige Programmacherei nicht viel hinaus, wie man es denn heute im Schreiben von Wunschzetteln, Aufstellen von Forderungen, Entwerfen von Riesenzukunftsplänen zu einer nie dagewesenen Höhe gebracht hat; das ist aber auch alles. Die Wirklichkeit bleibt die gleiche unerquickliche, ja unerträgliche, und die stete Programmacherei ist nur der Ausdruck einer allgemein gewordenen, krankhaft gesteigerten Unzufriedenheit, für die man kein eigentliches Heilmittel mehr weiß. Ja, man kann sagen: gebt dem kulturvernarrten Gegenwartsmenschen alles, was er selbstbewußt fordernd beansprucht, und als Ergebnis wird sich herausstellen: er wird mindestens siebenmal so unzufrieden und unselig sein, als er schon vorher war.

Da muß man sich doch fragen: Woher kommt das? Und ist unser Geschlecht nicht auf einem unheimlichen und schauerlich verderblichen Irrwege? Die Antwort kann nur lauten: Das kommt von der unersättlich gewordenen Selbstsucht eines jeden einzelnen, die in den letzten Jahrzehnten leichtfertig oder trotzig zu ihrer jetzigen verwegenen Höhe emporgezüchtet worden ist. Unter dem Einfluß der modernen Weltanschauung hat sich das Ich mehr und mehr zum Mittelpunkt und Selbstzweck innerhalb der Lebensgeschehnisse gemacht. Die Selbstbewertung der freien Persönlichkeit galt als Maßstab für Kulturhöhe und Geistesmacht. So ist die Selbstherrlichkeit ringsum derart ins Kraut geschossen, daß bald jeder und jede meint, nicht mehr dienen, nicht mehr irgendwie sich unter- und einordnen zu brauchen, nicht mehr sich beraten und genügen lassen zu müssen, sondern ohne weiteres zu jeder Selbstweisheit befähigt und zu jedem Anspruch berechtigt zu sein. So lebte man in allen Volksklassen immer eigenwilliger der Ehrsucht, der Habsucht und Genußsucht, und glaubte man sich darin beeinträchtigt, so stampfte man auf den Boden und brüllte: Mein Recht! Krieg und Revolution sind die ganz selbstverständliche Folge dieser modern rücksichtslos gewordenen Selbstsucht der einzelnen, der Familien, der Klassen, der Rassen, der Völker.

Nun, da so ziemlich alle menschlichen Bande in Fetzen gerissen sind, nun soll der Sozialismus als Heiland und der Völkerbund als Friedensreich erscheinen. Nun, da die Selbstsucht allenthalben unerträglich geworden ist, nun sollen Verträge, Programme, Paragraphen oder weiterhin – Maschinengewehre helfen. Nun, da der letzte Schatten von Gerechtigkeit durch die entfesselte Selbstsucht aller wider alle zum Gespött geworden ist, nun verkündigt man selbstgefällig einer in ihrem Blut schier ertrunkenen und in ihrer Wut schier erstickten Welt den Anbruch einer funkelnagelneuen Gerechtigkeit, die bereits – – – auf dem Papier steht. Und zu gleicher Zeit schickt sich die Arbeiterklasse aller Länder mit mörderischer Sicherheit an, die „Weltrevolution“ zu verwirklichen … Wer oder was wird siegen? Niemand und nichts von alledem. Alle diese Reformen und Revolutionen werden sich als nicht gründlich, nicht weittragend, nicht groß genug erweisen; denn sie alle wagen nicht die Wurzel alles Übels in der Welt anzutasten; sie wagen nicht die allezeit selbstsüchtige, immerdar selbstherrliche eitle Ich-Größe entthronen zu lassen. Diese Entthronung aber bedeutet

die größte Revolution.

Zu jeder Revolution gehört Mut, aber zur größten Revolution gehört der größte Mut. Es gehört entschlossener Wagemut dazu, eine Regierung zu stürzen, es gehört zäh bohrender Mut dazu, die privatkapitalistische Wirtschaftsordnung zu unterminieren und zum Einsturz zu bringen, aber den Zusammenbruch der eitlen, persönlichen Selbstherrlichkeit zu wollen und zu erleben, dazu gehört ein bei Menschen ganz unerfindlicher Mut. Und doch bleiben die entschlossensten und erfolgreichsten äußerlichen Revolutionen unzulänglich, ohne diese größte innerliche Revolution. Verjagt den Monarchen, enteignet den Kapitalisten, laßt aber das selbstsüchtige Ich als König auf dem Thron, und alle eure großen Revolutionen sind vergeblich gewesen! Denn wenn nicht die Selbstsucht im Menschen zerstört wird, nützt es wenig, die Werke der menschlichen Selbstsucht in Gestalt von Regierungs- und Wirtschaftsformen zu zerstören. Gar sehr bald wird die unausgerottete Selbstsucht der einzelnen und der vielen die Herrschaft der Ungerechtigkeit entweder in der alten Form wieder beleben oder in neuer Form zum Ausdruck bringen; denn die Selbstsucht kommt immer wieder obenauf. Aber eben für diese größte aller Revolutionen, für die Entthronung der selbstsüchtigen Ich-Herrschaft, sind die Menschen zu feig, eben – zu selbstsüchtig.

Denn die Selbstsucht ist nicht nur törichte Beschränktheit, weil sie stets vom Mangel an Selbsterkenntnis begleitet ist, sondern sie ist auch elende Feigheit, weil sie immer nur um sich, aber niemals in sich schlägt. Ach, wie billig ist es doch, alle Welt der Ungerechtigkeit anzuklagen und sich selbst als fortgeschrittenster Weltverbesserer aufzuspielen! Ach, wie leicht ist es doch, den Umsturz alles Bestehenden, ja die „Weltrevolution“ zu predigen, wenn nur das eigene Ich seine Rolle dabei weiter spielen kann! Wie selbstbetrügerisch ist es doch, von außen her die Welt erneuern und von jeder Zwangsherrschaft befreien zu wollen, und dabei innerlich der alte, ichsüchtige, herrschsüchtige, selbstgefällige, selbstherrliche Mensch bleiben zu wollen! Welche kindische Spielerei ist es doch, durch Beschlüsse, Programme und Bündnisse der Welt das zukünftige Heil bringen und sichern zu wollen, und dabei in der heillosen Selbstsucht nach dem Programm des Eigenwillens weiter zu wirtschaften!

Und doch spielt sich innerhalb des Zauberkreises dieser Ich-Verblendung der gesamte Revolutionsspektakel ab. Es ist das wiederum die besondere Folge der modernen Weltanschauung. Berauscht von dem Wort „Entwicklung“ hat man die äußerlich untersuchende Naturbetrachtung auch auf die menschliche Geschichte und Gesellschaft übertragen und glaubt nun, Gesellschaftsformen und Menschenarten durch versuchsweise Veränderung der äußeren Lebensbedingungen wie Naturformen erzielen zu können. Alles verlangt und schreit nach Revolutionierung der Verhältnisse, damit der Mensch besser gedeihen könne, aber von einer radikalen Revolution des menschlichen Herzens hört man nichts. Alles lärmt und schimpft über Ungerechtigkeit, aber von der eigenen will man nichts hören. Alles schwatzt klug und überlegen von der „gemeinen Selbstsucht“ der andern, die allein an den „miserablen Zuständen“ schuld seien, aber für die eigene Schuld erträgt man kein Wort. Alles beschäftigt sich mit „Aufklärung“ im Sinne zeitgemäßer Kulturforderungen, aber der allein heilsamen Aufklärung über die gänzliche Unzulänglichkeit des eigenen Wesens geht man aus dem Wege. Alles bemüht sich großrednerisch um die Schaffung einer „besseren Zukunft“, und jeder einzelne lebt in ganz selbstverständlicher Ich-Herrlichkeit seinem Anspruch an Ehre, Besitz und Genuß; denn auch in der scheinbar selbstlosesten Hingabe an den Dienst für die „gute Sache“ oder gar für die „Menschheit“ steckt noch die eigenliebige Ich-Entfaltung, solange man die größte Revolution nicht erlebt hat.

Die größte Revolution übertrifft und überragt an Wucht, Bedeutung, Tragweite und Ergebnis alle anderen Revolutionen. Sie bemüht sich nicht um die Umwälzung von Regierungs- und Wirtschaftsformen. Sie beschäftigt sich auch nicht mit der sogenannten Revolutionierung der Köpfe, um ihnen etwa die neueste wissenschaftliche und soziale Weltanschauung einzuhämmern. Nein, beides wäre ihr viel zu wenig. Die größte Revolution packt gründlicher an. Sie will den ganzen Menschen auf den Kopf stellen. Die größte Revolution ist die Herzens- und Wesenserneuerung eines Menschen durch und für Gott. Bekehrung, Buße und Wiedergeburt, das ist der Inhalt der größten Revolution, die ein Mensch zu erleben vermag.

Keine größere Umwälzung ist denkbar, als die Bekehrung eines Menschen zu Gott.

Die politische Revolution kann wohl Fürsten oder sonstige Regierungsherrschaft etwa zugunsten der Volksherrschaft beseitigen, aber die Menschen bleiben die alten. Und die soziale Revolution kann höchstens die privatkapitalistische Wirtschaftsherrschaft zugunsten der kommunistischen Wirtschaftsherrschaft beseitigen, aber auch dadurch wird das Wesen der Menschen nicht im geringsten geändert. Die größte Revolution aber beseitigt die Ich-Herrschaft zugunsten der Gottesherrschaft, und dadurch wird der ganze Mensch erneuert. Eine politische Revolution stürzt vielleicht eine Fürstengröße vom Thron, um anderen zweifelhaften Menschlein den Herrschersitz zu sichern, aber die größte Revolution stürzt allemal eine eitle Ich-Größe vom Thron, um die alleinige Größe des lebendigen Gottes wieder zur Geltung zu bringen. Dort mag ein Herrscherhaupt seine äußerliche Krone einbüßen, hier legt ein bußfertiger Mensch die Krone seiner eitlen Selbstherrlichkeit seinem Gott zu Füßen. Eine soziale Revolution mag die Kapitalisten äußerlich enteignen, aber durch die größte Revolution wird jedes mal ein Mensch in sich selbst enteignet und seinem Gott als ewiges Eigentum zurückgegeben. Was ist mehr?

Und vor allen Dingen: Die größte Revolution hält, was sie verspricht. Sie bringt tatsächlich neues Leben; denn sie bringt Leben aus Gott. Sie bringt die allerbeste Herrschaft; denn sie bringt den Menschen unter die Herrschaft Gottes. Sie ist die allergründlichste Aufhebung der bösen Privatwirtschaft; denn sie beugt den ich-trotzigen Eigenwillen unter den heilsamen Willen Gottes. Sie ist die allerrücksichtsloseste Enteignung von jeder Art von Privateigentum; denn sie nimmt dem Menschen alles, was er hat und ist: seine Selbstweisheit, Selbstgerechtigkeit, Selbsterlösungsfähigkeit, Selbständigkeit; sie beschlagnahmt seinen Geist, seine Seele, seinen Leib, sein Hab und Gut und all seine Zeit für Gott. Sie ist auch die einzige Gewähr für den einzig möglichen Kommunismus; denn sie bringt in Gemeinschaft mit Gott und Jesus Christus, durch den sich Gott in Liebe und Gnade offenbart hat, und schenkt die Teilhaberschaft am Wesen Gottes in der Gesinnung Christi, wodurch sie zu glaubenstätiger, wahrhaft selbstloser Liebe zu allen Menschen, ja selbst zu den gehässigsten Feinden befähigt. Darum verbürgt sie allein auch die allersicherste Wohlfahrt; denn sie bringt den Zufluß des unausforschlichen Reichtums der geistlichen himmlischen Segnungen, die allein unsere Seele zu sättigen vermögen, und gewährleistet auch unsere irdische leibliche Versorgung durch die Güte und Treue des Vaters, der weiß, was wir bedürfen. Sie, die größte Revolution allein, bewirkt auch Gerechtigkeit auf Erden, eine Gerechtigkeit, die besser ist, als die aller sonstigen Revolutionen und Revolutionäre; denn sie erlöst uns vom herrschsüchtigen Hochmut, durch den alle Ungerechtigkeit kommt, und schenkt uns die Gerechtigkeit Gottes um Jesu Christi, des einzig Gerechten willen, der für uns durch und durch Ungerechte zur Tilgung unserer Sündenschuld und Ungerechtigkeit starb. Deshalb vermag auch nur allein die größte Revolution wahren Frieden zu bringen; denn ihr folgt unmittelbar die Bekanntgabe des unvergleichlich großen göttlichen Gnadenerlasses von der Vergebung jeglicher Sünde und Schuld für alle die, welche sich der Regierung Gottes unterworfen und damit aufgehört haben, in selbstsüchtiger, gottfeindlicher Ich-Liebe wider Gott zu streiten, wodurch ja aller Unfriede auf Erden entstand und immer neu entsteht. So bringt allein die größte Revolution auch die wahre Freiheit; denn sie allein erlöst von jeder Knechtschaft der selbstsüchtigen, eitlen Begierden und sündigen, verderblichen Lüste, in denen der eigenwillige, verblendete Mensch als ein Sklave seiner verderbten Natur und der Menschen und Satans gefangen liegt, woher alle Unfreiheit und Ausbeutung stammt, von der uns nur die Christusherrschaft befreit. Und so vermittelt allein die größte Revolution auch die lichtvollste Aufklärung und höchste Bildung; denn indem sie den Lichtstrahl der göttlichen Heilsbotschaft in des Menschen Herz blitzen läßt, klärt sie die Seele auf über die Nacht und Macht der Sünde, über die Torheit aller eingebildeten Menschenweisheit, und bewirkt den Empfang der Weisheit Gottes durch das Wort Gottes und des Menschen wahre Bildung nach dem Bilde Christi.

Wahrlich, gegenüber solcher tiefsten Gründlichkeit und höchsten Tragweite der größten Revolution erscheinen alle anderen äußerlich so groß und geräuschvoll auftretenden Revolutionen nur als polternde Kindereien, wie sie der Torheit einer verblendeten Menschheit entsprechen.

Ach, wie weit glauben beide, bürgerlich Reaktionäre und proletarisch Revolutionäre, dem biblischen Christentum enteilt zu sein! Es kommt für ihre Lebensrechnung nicht mehr in Betracht. Beide berufen sich auf die Vernunft. Beide wollen durch sie die Erde zu ihrem Himmel machen; die einen durch das rote Gold, die anderen durch die rote Revolution. Beide haben Gott und seinen Christus verworfen und sind Anbeter der menschlichen Macht geworden. Beide ringen miteinander auf dem Boden der Selbstbehauptung. Beider Gott ist das Ich mit seinem selbstsüchtigen Anspruch auf irdischen Besitz, auf Grund der sogenannten natürlichen Menschenrechte. Und beide haben die Rechte Gottes an den Menschen und den Sohn Gottes mit Füßen getreten.

Aber noch immer ist Jesus Christus als der von Gott auf Erden gelegte Grund- und Eckstein der einzig solide Baugrund hienieden. Alles, was nicht auf dem Felsengrund des Wesens und Wortes Christi steht, wird einen „großen Fall“ tun, es seien Personen oder Institutionen, Ordnungen oder Revolutionen. Jesus Christus ist der allgewaltige Erschütterer aller menschlichen Selbstherrlichkeit. Es gibt nichts Umstürzlerischeres auf Erden als ihn, den immerwährenden Tempelfeger. Es gibt keinen flammenderen Protest gegen jeden Ich-Dünkel, gegen allen Klassendünkel und gegen die gesamte gottfeindliche Selbstbehauptung dieses Menschengeschlechts als das Gotteslamm am Galgen auf Golgatha. Es gibt nichts radikal-revolutionäreres als die Gotteskraft des Wortes vom Kreuz, die jeden Menschenwitz und jede Menschenmacht abtut. Und das ist es, was sich jedesmal als Inhalt der größten Revolution erweist.

Wer diese größte aller Revolutionen nicht erlebt hat, kennt Christus und das Christentum nicht. Wer nie in ichstürzender Buße vor ihm, dem unentthronbaren König aller Könige, den Zusammenbruch des Reiches der eitlen, eigenliebigen Selbstherrlichkeit erlebt hat, der ist nie durch die enge Pforte in Christi und Gottes Reich eingegangen. Wer nie von Jesus Christus, dem heilig Unerträglichen, ergriffen und überwältigt worden ist, sondern es immer weltklug verstanden hat, den unerbittlichen Erschütterer der Selbstsicherheit in erträglicher Weite sich vom Leibe zu halten, der nenne sich doch Antichrist, aber nicht Christ!

Ja, wehe den Gewaltigen, Mächtigen, Großen, Reichen und Satten, die nie die größte Revolution an ihren Stuhl und Geldsack haben herankommen lassen, um so mehr aber sich bereits als die beglaubigten Vertreter einer „christlichen Staats- und Weltordnung“ fühlen, die der „liebe Gott“ gegen den „bösen Umsturz“ zu schützen habe! Ja, wehe diesen ich- und standesherrlichen glatten Namenchristen; denn um ihrer unbekehrten, unbeschnittenen Herzen willen ist die biblische Heilsbotschaft bei den Unterdrückten und Armen stinkend gemacht worden. Gott wird sie dahingeben in die Hände ihrer Widersacher, und auch kein Bajonett und kein Maschinengewehr werden sie schützen!

Ebenso wehe den lehrmäßigen Vertretern eines vernunft-, welt- und ichförmig gemachten „Christentums“, die ihren Stand auf Kathedern und Kanzeln dazu benutzt haben, sich und ihre Hörer an dem Ärgernis der größten Revolution vorbeizuschwatzen! Indem sie dem notwendigen, gottgewollten, heilsamen Umsturz im Inneren des Menschen vernunftgerecht vorbeugten, haben sie den gott- und heillosen äußeren Umsturz mit herbeiführen helfen, der auch immer mehr ihr eigener Sturz werden wird. Hätten sie statt dessen biblische Bekehrung und Buße gelehrt und gelebt, wieviel hätten sie zur Bewahrung des Friedens und zur Vermeidung des Krieges und der Revolution beitragen können!

Aber auch wehe den Gläubigen und Frommen, die die größte Revolution erlebt haben mögen, aber ihrem entthronten Ich bereits wieder die Rechte der Ehr-, Besitz- und Genußliebe zugestanden haben und damit wieder in die Selbstsucht zurückgefallen sind! Ein weltförmiger Frommer macht tausend Kinder des Verderbens. Ein selbstsüchtiger Christ macht tausend gottlose Umstürzler. Ein finster gewordenes Licht macht tausend Irrgänger. Ein kraftlos gewordenes Körnlein Salz fördert tausendfach die Fäulnis.

Gegen die großen Revolutionen hilft nur die größte Revolution, das heißt: Wer diese wirklich erlebt hat, kann sich an jenen nicht beteiligen. Wer durch die größte Revolution unter die Herrschaft Christi gekommen und ein Untertan und Sklave des Herrn aller Herren geworden ist, muß wissen, daß auch allen Menschen nichts anderes hilft als die Herrschaft Christi. Diese kommt aber weder durch Monarchie noch durch Demokratie, auch nicht durch Sozialdemokratie oder gar Anarchie; sein Reich kommt mit keiner äußerlichen politischen oder sozialen Gebärde. Es kommt zunächst überhaupt nur als Einzelherrschaft, eben dadurch, daß eine Seele die größte Revolution erlebt. Wo Menschen als Untertanen Jesu Christi den Willen Gottes tun, da ist Reich Gottes und Christi Herrschaft, die sich beide nie anders erweitern können, als eben durch das erweiterte Umsichgreifen der größten Revolution, das heißt durch Bekehrung und Buße der einzelnen Seelen. Darum kann nie und nimmer eine andere Revolution dem Kommen des Reiches Gottes dienen, als eben nur die größte Revolution. Alle anderen Revolutionen sind zu klein, und müssen deshalb von Christen abgelehnt werden. Wo dies nicht mehr geschieht, ist das Salz bereits dumm und das Licht Finsternis geworden. Christen sind erstlich und letztlich weder Monarchisten noch Demokraten, auch nicht Sozialdemokraten noch Anarchisten: Christen sind und bleiben immer nur Theokraten und Christokraten. Ihr Ziel ist Gottes- und Christusherrschaft, und der einzige Weg zu diesem einzigen Ziel ist und bleibt die größte Revolution. O wehe den zahllosen, bereits vom Revolutionsgeist dieser Welt betörten „Gläubigen“ unserer Tage, die sich das biblische Ziel verrücken ließen und um der großen Revolutionen willen die größte Revolution preisgegeben haben!

Untertanen Christi haben auch heute nur eine Aufgabe, nämlich die: Als Licht, das die Finsternis, und als Salz, das die Fäulnis dieser durch ihre gottlose Selbstsucht im Argen liegenden Welt straft, im Zeichen des Kreuzes (Gal. 6,14) zu protestieren gegen all und jedes, was auf dieser Erde ohne Christus geschieht. Sie, die allein wahren „Protestanten“ und allein „radikalen Umstürzler“, lehnen jede Ziel-, Weg- und Arbeitsgemeinschaft, also jeden „Kompromiß“, mit denen, die durch Vernunft, Selbstweisheit, Selbstgerechtigkeit, Selbstherrlichkeit Feinde Christi und seines Kreuzes und Reiches sind, ab. So allein vermögen sie zu bezeugen, daß sie „nicht von dieser Welt“ sind, und so allein verkörpern sie ihre flehentliche Bitte: „Dein Reich komme!“ So allein bauen sie auf dem Baustein, den die ich- und kulturseligen Bauleute verworfen haben. Und so allein werden sie gehaßt um ihres verworfenen Königs Namen willen und werden teilhaftig der Leiden des gekreuzigten Gotteslammes, damit sie auch seiner Herrlichkeit teilhaftig werden. Und, o wie bald werden es dann diese „Fremdlinge auf Erden“ zu spüren bekommen, daß man sie als die „schlimmsten Reaktionäre“ und zugleich als die „gefährlichsten Revolutionäre“ dieser Zeit herausgefühlt hat, die jede Reform und jede Revolution als ungenügend „benörgeln“, also tatsächlich mit nichts mehr in dieser Welt zufrieden sind, und gegen die man deshalb gemeinsam Front machen wird. Schon sagte ein roter Umstürzler mit Recht: „Unsere größten Feinde sind nicht die Kapitalisten, denn die liefern uns das Wasser auf die Mühle; sondern unsere verhaßtesten Gegner sind die Frommen, denn die graben uns das Wasser ab!“ Jeder weltliche Kapitalist wird aber in umgekehrter Beziehung dasselbe sagen. Darum muß und wird es wahr werden:

„Bald reichen alle Weltverbände
Sich gegen Gottes Volk die Hände.“

Und dann freue dich, du wahre Christenheit! Denn dann ist deine eine große Aufgabe auf Erden vollendet. Und dann wird dein König kommen, auf den allein du alle deine Hoffnung setztest, dessen Wort der Geduld du bewahrtest, und der nun auf den Trümmern aller Weltreiche als der allgewaltige Umstürzler alles Gottwidrigen sein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens unter allen Völkern aufrichten wird.

Im Hinblick auf diese allergrößte Revolution, welche Gericht und Sieg des wiederkommenden Christus begleiten wird, geziemt sich noch ein besonderes Wort an die Gläubigen des Sozialismus unserer Tage.

Wie dünkt ihr euch doch so erhaben über die rückständigen dummen Frommen, denen nach eurer Meinung Verstand und Tatkraft fehlen, die Ungerechtigkeit und Unzulänglichkeit ringsum zu erkennen, um sie, zusammengeschlossen mit euch, zielbewußt zu bekämpfen! Wie haltet ihr die Gläubigen doch meist für schlappe Narren, die sich vom Pfaffen das Gehirn verkleistern, vom Kapitalisten das Mark aus den Knochen saugen lassen, dabei geduldig aufs bessere Jenseits warten und indes ihrer pharisäisch selbstsüchtigen Frömmelei leben. Oder aber, ihr haltet sie für durchtriebene Heuchler, die unter dem Vorwand der Gottseligkeit die besten Geldgeschäfte zu machen verstehen. Mag sein, daß euch einige so vorgekommen sind. Aber ach, wie erkenntnislos seid ihr gegenüber dem Wirken des lebendigen Gottes in einem Menschenherzen! Wie pharisäisch blind seid ihr gegenüber Christus, dem Licht der Welt, das eure Finsternis erleuchten möchte! Und wie ohnmächtig seid ihr doch, ihr eifrigen Weltverbesserer, die ihr weder euch noch die Welt ändern werdet, weil euch das Geheimnis der größten Revolution und damit die Erlangung wahrer Gerechtigkeit und der Empfang wirklichen Friedens verborgen bleiben!

So gerne fordert ihr die Gläubigen auf, die Ernsthaftigkeit ihres Christentums als Protest gegen die Ungerechtigkeit in der Welt durch den Eintritt in eure Kampfesreihen zu beweisen, aber sie können sich euch nicht anschließen, weil ihnen die Umwälzung, die ihr erstrebt, zu geringfügig erscheint. Ach, sie wissen ja durch die Heilige Schrift, daß die Quelle alles Unrechts die menschliche Selbstbehauptung Gott und seinem Christus gegenüber ist; und solange ihr diese böse Quelle noch in euch sprudeln laßt, vermehrt auch ihr nur die Ungerechtigkeit in dieser irren und wirren Welt, und Kinder Gottes können nicht mit euch an einem Joche ziehen.

Aber nun seid einmal ihr, ihr empörten Weltverbesserer, aufgefordert, die Ernsthaftigkeit eures revolutionären Mutes darin zu erweisen, daß ihr die größte Revolution aufrichtig kennen und erleben zu lernen sucht. Ihr wollt die kapitalistische Welt in Trümmer schlagen? Auf, lernt erst einmal den Büßerschlag gegen die eigene Brust führen! Ihr wollt zielbewußt gegen die Ungerechtigkeit in der Welt streiten? Auf, wendet euch erst einmal gegen jede Ungerechtigkeit, die in euch wohnt! Ihr wollt die Selbstsucht, die Gewissenlosigkeit, die Habsucht, die Gewalttat eurer Gegner rächen? Auf, laßt euch durch das Licht des Wortes Gottes erst einmal euer eigenes Herz beleuchten! Ihr wollt eine verkommene Welt erneuern? Auf, laßt euch erst einmal selbst erneuern durch den, der alles neu machen kann und wird, Christus Jesus, euren gottgesandten Erlöser! Ihr weist gerne hin auf die Opfer der Sünden der kapitalistischen Gesellschaft. Auf, seht am Kreuz auf Golgatha das Opfer für die Sünden der ganzen Welt, auch für eure Sünden! Ihr wollt die Herren der Welt enteignen? Gut, dann laßt aber auch euch selbst enteignen von dem, der allein der Herr ist und bleibt, Jesus Christus!

Das sind nicht Worte des Hohns, sondern Worte der Liebe Christi, die allein welterrettende, welterneuernde Kraft hat. Nie kann es auf Erden einen Sozialismus ohne den Sieg dieser Liebe geben. Und nie gibt es in einem Menschenherzen diese Liebe, ohne daß dies Herz die größte Revolution erlebt hat, nämlich durch die Liebesherrschaft Christi sich von der selbstsüchtigen Eigenliebe hat entleeren lassen. So ist die größte Revolution schließlich nichts anderes als das grundstürzende und danach grundlegende Liebes- und Gnadenwerk Gottes in Christus Jesus durch den Heiligen Geist in jedem zur Buße und Bekehrung aufrichtig willig gewordenen Menschenherzen. Und wer diesen inneren Einsturz und dann aber auch den inneren Neubau und Aufbau erlebt hat und noch immer weiter erlebt, trägt die lichte Einprägung des Wortes Jesu in sich: „Wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden.“ Und dessen Leben wird auch eine Bezeugung des Pauluswortes sein: „Wer in Christus ist, ist eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, es ist ein Neues geworden!“

Mangelt dir noch dies „Neue“, ohne welches alle Revolutionen eitel bleiben, so fragt es sich eben jetzt, ob du nicht zu feige sein wirst, die größte Revolution zu erleben.

Dein Lehensherr wartet auf Antwort.

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