Bezzel, Hermann - Von der Barmherzigkeit
Schriftgrund
Text: Luk. 6, 36-42- Von der Stellung zum Nächsten
Luk. 6:36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Luk. 6:37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.
Luk. 6:38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.
Luk. 6:39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?
Luk. 6:40 Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister.
Luk. 6:41 Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?
Luk. 6:42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!
Rückblick auf die vorangegangenen Hinweise Jesu
Ihr seid meine Freunde, so ihr tut, was ich euch gebiete. Knechte hören von Befehl des Herrn nur das, was ihnen gefällt, und tun soviel, als sie mögen. Aber Freunde versenken sich in das Wort ihres Freundes und lassen dieses Wort ihnen am Herzen und im Gewissen sein, leben, weil von Ihm, auch nach Ihm und erweisen darin ihre Freundschaft, dass sie das Wort des Freundes ganz zu dem ihrigen machen.
Unser Herr hat in den Evangelien der letzten Sonntage drei große Freundesgrüße uns geboten. Er hat uns gezeigt, wie Erbarmen den Lazarus in der Heimat tröstet, also dass jedes Erdenleid bei ihm und von ihm vergessen sein darf, hat uns darauf hingewiesen, mit welchem Erbarmen das große Abendmahl zugerüstet ist, das nicht eingenommen wird, es hätten denn alle verfügbaren Plätze ihre Gäste gefunden. Und dann hat Er vor acht Tagen in die wunderbare Tiefe Seines Erbarmens blicken heißen, wie er sich frühe aufmacht und hernach lange sucht, bis er triumphieren kann, und wie Er die Kirche antreibt, dass sie das Haus kehre, bis der verlorene Groschen gefunden wird, und hat uns einen Einblick in Geheimnisse der Ewigkeit tun lassen, in der nichts anderes Gegenstand der Freude sein wird, als Heimkehr des Verlorenen und Entdecken des Vermissten.
Seid barmherzig!
Heute, nachdem der Herr Seinen Freundeswillen gegen uns in Erbarmen kund getan hat, wendet Er sich an uns alle: Freunde, tut, was ich euch gebiete! Er gebietet ganz einfach: darum seid barmherzig!
Wir aber sprechen ebenso schlicht von der Barmherzigkeit
- Art,
- Ort
- Lohn.
Du aber, o Jesu, erbarme Dich unser.
I. Die Art der Barmherzigkeit
Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist, der nach Seiner wunderbaren Weisheit Menschen Ihm zum Bilde schuf, damit man an ihrer Art die Seine erkenne und von ihrem Wesen auf das Seine schließen könne. In jedem Menschenherzen ein Zug von Gott und zu Gott; in jeder Menschenart ein Hinweis, sei es auf den verlorenen, sei es auf den gefundenen Herrn. Immer wieder leuchtet aus Menschenart die Gottesebenbildlichkeit, aus Menschenwesen das Gotteswesen hervor. Der Vater, der barmherzig ist über alles, Seine Sonne über Böse und Gute hat aufgehen lassen und in der Fülle der Zeiten die Fülle Seiner Gnade über eine arme und schattenreiche Welt aufsteigen ließ; der Gott aller Gnade, der männiglich zu dieser Gnade und diesem Genuss einlädt, der hat auch dich mit einem Reichtum von Erbarmen überschüttet, mit der Großtat der Liebe heimgesucht.
Mein Vater ist barmherzig
Denke nur an die vergangene Woche! Wie hat er dich äußerlich behütet und innerlich begnadigt! Er ist an deinem Hause mit der Strafe vorbeigegangen, nicht mit der Treue. Er hat Dir manchen Sonnenstrahl gegönnt, denn Er ist barmherzig. Wenn nun auch manche Seele unter dieser Barmherzigkeit gleichgültig dahingegangen sein wird, dem Eindruck wird sie sich nicht entziehen, das auch die vergangene Woche ein großes Zeugnis unverdienten Erbarmens gebracht hat. Noch darf ich leben, noch kann ich arbeiten, noch liegt die Zeit vor mir als Kapital, mit dem ich wirken darf, noch ist die Kraft mir gegönnt, aus der ich Zinsen bringen kann. Mein Vater ist barmherzig!
Weil es aber dem Menschen nicht gelingen will, zur göttlichen Höhe irgendwie emporzusteigen, er vielmehr seine Unzulänglichkeit täglich und reichlich erkennen muss und das umso mehr, je mehr er sich anstrengt, hat der Heiland drei Merkzeichen gegeben, an denen jeder erkennen kann, ob er barmherzig nach der Art des Vaters ist.
Prüfe deine Rede
Er fragt dich zuerst nach deinem Wort. Richtet nicht, verdammt nicht! Sieh, du fährst so schnell mit deiner Rede einher, ohne dass du die geheimen Lebensgänge dessen kennst, den du verurteilt hast. Weißt Du aus wieviel schlaflosen Nächten seine Verfehlung geboren war; kannst du ahnen, welche bitteren Kämpfe vorangegangen sind, ehe er fiel? Ist es dir bewusst geworden, in welchen schweren, nächtigen Stunden er sich gemüht hat, dass er den Segen empfinge; aber er ist dennoch ausgeglitten! Und du verurteilst mit schnellem Wort, gleich als wolltest du nicht nur jede Gemeinschaft mit ihm aufkünden, sondern als wolltest du, dass du auch versucht werdest, in Abrede nehmen.
Du eilst über deinen Bruder den Stab zu brechen, weißt du nicht, dass der Richter auch vor deiner Türe steht? Kehre zum Besten, was sich noch entschuldigen lässt, suche nach Gründen, wo noch ein mildernder Grund vermutet werden kann. Lass dich´s nicht dauern, bei deinem Bruder viel Lindigkeit anzuwenden, er ist wohl gerechter, denn du es bist! Und der Heiland, der da weiß, dass wer in keinem Worte fehlet, ein vollkommener Mann ist, der die Ehebrecherin barmherzig freisprach und der Sünderin die Annäherung des Dankes an Ihn gestattet, der Herr, der so gnädig über den Sünder urteilt, damit Er desto schärfer die Sünde verdamme, weist dich weiter hin auf die Barmherzigkeit.
Prüfe deines Herzens Haltung
Sage an, o Seele, Christenmensch, frage dich, wie steht es mit deinem Herzen? Vergebt! Du hast vielleicht edle Vorsicht, die man auch durch menschliche Klugheit lernen kann, in ernster Erfahrung erworben, und bist in deinem Wort maßvoll geworden. Aber dein Herz hat noch die alte scharfe Art und in deinem Inwendigen verdammst du nach Lust deines Herzens. Dein Antlitz zwar ist ruhiger geworden; aber das ist nur Selbstbeherrschung, nicht Selbstverleugnung, nur Vorsicht, nicht heilige Einsicht. In deinem Herzen wohnen die schwarzen und schweren Gedanken gegen den Nächsten, über die du nicht hinauskommen kannst, weil du nicht hinauskommen willst. Du hast so viel Bitterkeit in dir und begießest die bittere Wurzel mit viel Mutmaßungen und bist befriedigt, wenn deine Vermutungen Wahrheit und Wirklichkeit werden. Es tut deinem scharfen Sinn wohl, wenn aus Vorurteilen rechte Werturteile entstehen. Ach vergebt! Reißt mit der Wurzel die Verstimmung heraus; tut von Grund eurer Seele den Argwohn weg; verbrennt das Gestrüpp, das edle Regungen in eurer Seele erstickt; nehmt es ernst mit der Vergebung. Wir tragen an uns eine große Last umher und wissen es nicht; wir schleppen bis an das Grab die schwere Bürde und ahnen es nicht. Die Last heißt nicht Arbeit und die Bürde nicht Mühe, denn diese Last ist leicht und diese Bürde süß, sondern die selbstgebildeten Meinungen, die Verstimmungen in ihrer Berechtigung, in ihren Launen, dass ist die Last, unter der das Leben erliegt. Willst Du sie nicht wegtun? Vergib!
Prüfe dein Handeln
Und von Wort und Herz wendet Sich der Heiland an die Hand. Gebt! spricht er. Wer nicht aburteilt und wer vergeben kann, der kann auch geben. Gib, lieber Christ, deine Zeit her; im Grabe hast du ja noch genug. Lass dem Armen die Minute und dem, der dich fragt, die Stunde! Sage nicht, ich habe keine Zeit; es möchte sonst ihr Mangel in der Ewigkeit nur allzu reichlich aufgewogen werden. Nimm nie den morgigen Tag, sondern was heute erbeten wird, das erfülle heute, morgen sind andere Aufgaben am Markte. Gib deine Kraft her, lieber Christ, schone ihrer nicht so uneinfältig, dein himmlischer Vater ersetzt sie dir reichlich. Opfere, spende, lass dein Leben hinströmen; seine Kraft gib willig her, du hast ja nichts weiter als das Leben. Es besteht bei uns so viel Verschlossenheit, die Grenzen im Geben werden so eng. Wir bemessen so ängstlich Leistung nach Gegenleistung und Gabe nach Dank! Der seine Sonne wahllos scheinen lässt und Seinen Sohn mit schrankenlosem Erbarmen ausgerüstet hat, der mahnt dich: Gib, so lange du kannst, und wenn du nichts mehr hast, so gib dich selbst! Gib alles, dann bist du barmherzig. Ich frage nicht, liebe Gemeinde, haben wir diese Art der Barmherzigkeit? Ich sage vielmehr: ach, dass wir sie so wenig haben! Mit euch gehe ich vor den Herrn, den schweigsamen, den tiefbetrübten Zeugen vieler unbarmherziger Urteile in der vergangenen Woche, und der mit angesehen hat, wie Mund und Herz so geschäftig waren, dem Nächsten zu segnen, und wir beten in Scham und Reue: Vergib und gib uns Gnade! Lass die Art in unserem Herzen neu werden, damit an unserm Wesen Dein Wesen erschaut und aus unserer Erbarmung auf deine Milde geschlossen werden möge. Aber der Herr Jesus zeigt uns in unserer Verzagtheit, die wir aus eigener Kraft die Art nicht los werden, unter der wir erliegen, die uns begräbt, den Quellort aller Barmherzigkeit.
II. Der Quellort der Barmherzigkeit
Bei den Pharisäern ist er nicht zu finden. Er sagt zu den Jüngern ein Gleichnis: Blinde Lehrer haben blinde Schüler. Nie hat ein blinder Lehrer einen andern die Kunst des Sehens lehren mögen. Pharisäer, Schriftgelehrte – ihre Gerechtigkeit ist blind! Die Jünger hätten von ihnen nichts anderes lernen mögen, als sie selbst hatten. Nie wird der Jünger über seinen Meister gehen; er lernt, was der Meister weiß, und dann hat er ausgelernt; das ist ihm genug, er hat sein Ideal erreicht. Wer bei den Pharisäern in die Schule geht, der ist und bleibt ein Pharisäer und kann über diese Art nicht hinauskommen. Darum zeigt dir und mir der Herr Jesus ein andere Schule, in der man die rechte Barmherzigkeit lernen kann, und die Schule heißt zuerst Sündennot.
Ist mein Erbarmen Heuchelei?
Es haben die Jünger auch in ihrer Weise Barmherzigkeit geübt. Wenn sie beim Nächsten den Splitter gewahrten, liefen sie in unangenehmer und unangebrachter Barmherzigkeit hinzu, damit sie ihn herauszögen, nicht ohne geheime Freude, den Anstoß gefunden zu haben. Das war heuchlerische Erbarmung. Sie sahen die Fehler und wollten sie wenden, um als solche geschätzt zu werden, die Fehler bemerken. Sie zeigten heuchlerische Rücksichtnahme, in Wahrheit war es Freude über solchen Fund. Jetzt geht der Heiland mit ihnen unter vier Augen zu Gericht und sagt ihnen, wie es in dem eigenen Auge stehe und wie denn das eigne Wesen beschaffen sei. Nachdem der Jünger unter der Anleitung des barmherzigen Lehrers seine Verkehrtheit gesehen hat, wie sie im Herzen als Torheit ruht, im Munde als Bosheit sich verlautbart, im Werk als Unrecht sich offenbart, faltet er die Hände und spricht: Habe Geduld mit mir, erbarme dich mein!
Im Zerbruch wird Erbarmen erfahren
Nachdem der Blinde von dem Allsehenden seiner Schmach und Schande überführt ist, spricht er: Herr, dass ich sehend werde! So lernt man Erbarmung. Die Hand, die mir mein Alles nahm, die gab mir das Größte. Der Ernst, der meine Heiligkeit zerwarf, gab mir die seine. Der große, unbeugsame Wahrheitsheld, der mich vor mir selbst erröten ließ, heiligt auch mich in Seiner Wahrheit. Mir ist Erbarmung widerfahren, als ich verworfen war, und Treue geschehen, als ich verurteilt wurde, und ist Liebe geschenkt worden, als Er mir in meinem Auge die furchtbaren Schäden aufzeigte. Denn als ich in einer Stunde alles verlor, daran mein Herz sich hing und meine Augen sich erquickten, da ist Er, mein Heil gekommen und hat mich frohgemacht. So macht es der Ackersmann rechter Art. Er stößt den Pflug tief in die Erde, zerbricht die Schollen, verwirft das Steinige, reißt alle Ranken und böses Unkraut aus, damit aus der Tiefe das Wachstum erfolge, in die Erde der Quell von oben eindringe und alles des Wachstums froh werde.
Das weiche Herz
So hat´s der Herr gemacht. Zuerst macht er das Herz weich; er macht es weich, wenn es die eigene Schuld erkennt. In der Stunde, in der ich merke, was Er und Menschen an mir getragen haben, kann ich mich nicht mehr fassen in Dank über alles empfangene und empfundene Erbarmen. Da möchte ich Flügel haben, über die Erde eilen und jedem sagen, was Er Nachsicht und Güte mir erzeigt hat. Da möchte ich mich über das Erdenleben emporheben, dass ich Dem von ganzem Herzen danke, der solche Gnade an mir getan hat. Zum weichen Herzen, dass der Ernst der Buße durchpflügt und der Quell der Erbarmung durchfeuchtet hat, schenke Er das warme Herz.
Das warme Herz
Wer selbst einmal erfuhr, wie ihn Gott an die Grenze der Schande führte und dann errette; erlebt hat, wie nur eine Stunde von schmachvoller Ausführung die schmachvollen Gedanken trennte, und innegeworden ist, wie im entscheidenden Momente Barmherzigkeit vor jähem Fall ihn bewahrte, der bekommt ein warmes Herz für alle Not des Lebens. Dieser Mensch ist ja nicht so behütet worden, hat nicht soviel aufhaltende Gewalten in seinem Leben gehabt, ist einsam gegangen, wenn der Feind ihn drängte – und nun verschließt man ihm Leben und Liebe: - Siehe, ich habe solche Versuchungen auch erfahren und wäre ihnen zum Opfer geworden, wenn Er nicht selbst gewacht und alles gut gemacht hätte. So wird man warmen Herzens, und lässt es den Sündern wohl bei sich werden. Man verlangt nicht eingehende Schilderungen, man sucht nicht die Erläuterungen und Erzählungen, man lässt es lieber die Armen fühlen, dass man selber arm war. Zum weichen und warmen Herzen kommt dann das weite Herz.
Das weite Herz
Erbarmen, das grenzenlos ist, hat er geübt. Er hat nirgend eine Sünde von diesem Erbarmen ausgeschlossen und ist vor keinem Unrecht zurückgewichen. Er hat mit weitem Herzen Lahme, Blinde und Krüppel, die Verlorenen, die Heimatlosen, die in der Wüste Verstörten eingeladen. Lieber Christ, von diesem Ort und Quell des wahren Erbarmens lass dir das weite Herz schenken. Man hat, wenn man einmal Erbarmen erfuhr, Erbarmen erlitt – denn solche Kohlen brennen durchs Lebens hindurch feurig, - nur noch die Sorge, dass man niemand das Herz verschließe. Man hat nur noch das Bedürfnis, dass man für jeden Armen – Reiche, Sichere, Satte brauchen kein Erbarmen – für jeden Armen ein Herz habe. So habe ich versucht euch den Ort des Erbarmens zu zeigen. Es ist der Ernst seiner Gerichte und die Gütigkeit seiner Vergebung; wie eben euer Vater im Himmel barmherzig ist: tiefgründig, weit sich erstreckend, ohne Zahl und Ziel, erst dann zu Ende, wenn nichts mehr der Erbarmung bedarf. So sehen wir auf das Letzte:
III. Der Lohn der Barmherzigkeit
Wo nichts mehr der Erbarmung bedarf, nichts mehr Erbarmen empfängt. Unser Herr spricht von der Barmherzigkeit Lohn. Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet! Es wird ein Tag kommen, da ich noch einmal mich selbst erlebe. Der erste Gedanke des armen Kindes, der letzte Gedanke des zum schwachen Kinde gewordenen Sterbenden stehen in einer Flucht vor dem Herrn: wenn ich verzage, so zeigt Er mir der Schuld Bezahlung und der Sünde Vergebung. Ich komme nicht in das Gericht, sondern bin vom Tode in das Leben hindurch gedrungen. Man wird nicht verdammt. Die Verkläger stehen vor dem Tor und niemand lässt sie ein, unsere Widersacher erheben vergebens ihre Stimme, vom Himmel hör ich Gnade künden, des Sohnes Blut erlangt Gehör. Ich bin, obgleich ich auf Verdammnis gefasst war, in wunderbarer Weise überrascht, dass ich schamrot werde und meinen Mund nicht auftue, weil ich sehe, dass Er alle Sünden vergeben hat. Es wird mir in einer Weise vergeben, der ich trauen kann. Ich brauche nie mehr den Augenblick zu befürchten, in dem Er mich doch noch an mich selbst erinnert, nie mehr den Tag heraufgrauen sehen, der mir mein verkehrtes Leben in furchtbarer Beleuchtung zeige.
Überfließende Gnade
Sünden sind zerronnen wie der Nebel, Missetaten dahingezogen wie die ferne Sonne, die in das Meer sank. So ist alles vergeben, erlassen, vergessen und der Herr spricht in seiner wunderbaren Huld: Rede mir nicht mehr davon! Dann wird gegeben werden: ein volles, ein fest gedrücktes, ein überfließend Maß. Aus dieser Fülle nehmen wir Gnade um Gnade; das Herz ist zu klein, um alle die Gaben zu bergen, der Verstand zu arm, um alle Güte zu ermessen, die Ewigkeit scheint nicht hinzureichen, um für alle beschämende Guttat nach Würdigkeit zu danken. Ein überströmendes Maß von Gnädigkeit und Huld lässt alles Bittere vergessen sein. Ich weiß nicht, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, mit armen Worten auszudrücken, wenn dem Herrn selbst das Wort versagt, dass Er sich überbietend spricht: Ein voll gedrückt, gerüttelt und geschüttelt Maß wird man in euren Schoß geben! Man will es dir einprägen und es überschäumt alles; man will es in dich eingründen und es überströmt alles; man will es in die Haften lassen und es sprengt alles. Das ist die Gabe der ewigen Erbarmung.
Mit dem Maß ihr messt, wir man euch messen
Aber freilich, ein Wort hat der Herr auch noch gesagt, sein Knecht darf es nicht verschweigen: Es kann auch eine Ewigkeit geben, über der das harte Wort steht: Mit welchem Maß ihr messt, wird man euch wieder messen. Wer karg gab, empfängt karg, wer sich nicht gab, der muss sich behalten, und wer an sich Gefallen hatte, der soll an sich bis an das Ende Gefallen tragen. Seid barmherzig in Wort, Sinn und Wesen, auf dass nicht der Jämmerlichkeit des Pharisäertums die Furchtbarkeit der unermesslichen Gottesferne folge. Seid barmherzig, damit aus Zöllnern und Zöllnerdank die Freude erwachen dürfe, die niemand von uns nehmen, jeder Augenblick der Ewigkeit aber erhöhen wird. Gott helfe uns allen, dass wir Erbarmung üben, weil wir sie empfangen haben, nicht müde werden, weil sie nicht müde wird, und zu Seiner Zeit ohne Aufhören ernten mögen.
Amen