Beste, Wilhelm - Wegweiser zum inneren Frieden - 50. Hätte ich der Liebe nicht, so wäre ich Nichts.
„Hätte ich der Liebe nicht, so wäre ich Nichts.“1) Ich wäre Anderen Nichts. Meine Brüder würden von meinen Worten berührt werden wie von dem tönenden Erz und von der klingenden Schelle. Hierbei denke ich nicht an das Instrument, in dessen Tönen der seelenvolle Meister sein ganzes Innere ausklingen lässt. Wie könnte ich das? Ein solches Instrument ist ja vom Geist gerührt und durchbebt von den Anschauungen der ewigen Schönheit, welche die ewige Güte der Seele des Künstlers vergönnt. Es redet eine mehr als irdische Sprache, eine Sprache der Liebe, welche das Herz mit unaussprechlichen Ahnungen eines besseren Seins erquickt. Solches Instrument ist das Abbild von den Worten einer Seele voll Liebe. Sie weiß wie jenes den Seelen wohlzutun in ihren Offenbarungen. Nur der Herzenston vermag das Herz zu treffen. Aber wirkungslos für die tiefere Seele oder gar verletzend, wie die schreiende Zimbel, welche der grobsinnige Musikant schlägt oder der Musik-Laie, ist das Wort aus liebeleerer Seele, selbst wenn es noch so gewählt, noch so vorzüglich, ja überirdisch, englisch wäre. Habe Liebe, und deine Worte werden von Herzen zu Herzen gehen. Ohne Liebe kannst du Anderen Nichts sein. Du kannst ihnen Nichts sein, selbst wenn du das Wissen hättest und den Glauben. Denn, „wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, also, dass ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich Nichts.“2) Aber gibt es denn einen Glauben, der ohne Liebe ist? Allerdings, denn es gibt drei Arten des Glaubens. Glauben heißt erstens: Übersinnliche Dinge für so wahr halten, als ob man sie sähe. Glauben heißt zweitens: Sich Christo anschließen und einverleiben. Das ist der seligmachende Glaube, der ohne Liebe nicht sein kann. Glauben heißt drittens die Zuversicht auf das Gelingen der Unternehmung. Diese Bedeutung ist hier gemeint.
Die Erfahrung lehrt, wie Großes der Mensch mit dieser Art des Glaubens wirken kann. Der Glaubensmut kann in der Tat Berge versetzen.3) Aber Berge versetzen und Segen verbreiten ist nicht dasselbe. Der Glaubensmut, der immer im Bunde ist mit Unternehmungsgeist, Kraft und weitgreifendem Einfluss, gereicht zum Heile der Brüder nur im Bunde mit der Liebe. Ohne sie wird der Mensch alle Gaben seines Geistes, also auch die Glaubenskraft, zu seinem Nutzen ausbeuten, vom Throne seiner Selbstsucht die Brüder tyrannisieren und, wenn's ihm förderlich scheint, ihr Wohl zertreten.
So bin ich ohne die Liebe Anderen Nichts, aber auch mir selber Nichts; denn wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen und hätte der Liebe nicht, so wäre mir's Nichts nütze.“4) Nicht ein brennender Leib, sondern ein brennendes Herz ist der Herd und das Pfand der Liebe. Und nur der Mensch mit brennendem Herzen, nur der Mensch voll Liebe kann sich selber Etwas sein. Denn alle Tugenden sind nur Eigenschaften der Liebe. Genau genommen haben wir nicht zu sprechen von Liebe, Gerechtigkeit, Heiligkeit, Treue usw., sondern von gerechter, heiliger, treuer Liebe. Die Liebe ist der Träger aller Tugenden, wie der Baum die Zweige trägt. Ja, die Liebe einigt in sich alle Tugenden als das Band der Vollkommenheit. Drum, wenn du ohne Liebe bist, so hast du in dir nichts Ganzes, Einiges. Deine Gaben, Kräfte und Eigenschaften sind lauter Trümmern und Bruchstücke, die unverbunden im Ozean deines Innern schwimmen und je länger je mehr der Auflösung verfallen. Die Liebe aber nährt und konserviert alle jene Vorzüge an und aus sich selber, mit ihrem eigenen Herzblut.
Darum, was von der Liebe in dir schwindet, das schwindet in dir vom Leben und bereitet dir Sterbensschmerz. Mangel an Liebe ist Tod und mehr als das, Mangel an Liebe ist Qual. Betrachte die Eigenschaften, die der Apostel Paulus in seinem Hohenliede der Liebe5) ihr beilegt, und du wirst inne werden, dass du in demselben Grade innerlich gequält bist, in welchem sie dir fehlen. Die ersten drei mögen genügen. „Die Liebe ist langmütig und freundlich; die Liebe eifert nicht.“ Mit der Langmut reißt eine Saite des Friedens in deinem Innern, dir zum Schmerz. Freundlichkeit ist der eigenen Seele Licht, und wenn sie sich trübt, so hast du deine eigene Nacht. Eiferst du aber, d. i. bist du neidisch, so strafst du dich selbst durch höllische Gesinnung, die dich verzehrt. Und könntest du je ein Wohlgefallen daran finden, Mutwillen zu treiben, dich aufzublähen, nach Schaden zu trachten und der Ungerechtigkeit dich zu freuen, bedenke: Du genießest Satans Freude, und ein Satan willst du doch nicht sein. Solche Freude müsste, wenn's Licht in dir wird, mit unaussprechlichen Gewissensqualen dich foltern. Nein, ohne Liebe kannst du dir Nichts sein, wenigstens nichts Wahres, Echtes, Göttliches, und das ist doch allein Etwas.
Endlich aber will ich hinausblicken über die Grenzen des Diesseits, um die Einsicht zu vollenden, dass ich ohne Liebe mir Nichts sein kann. Nur von der Liebe heißt es: „Sie hört nimmer auf.“6) Das Weissagen hört auf in der Erfüllung. Alles Wissen auf Erden ist nur ein Abbild von dem Bilde der Wahrheit, das droben strahlt, ein dunkler Schattenabriss von dem illuminierten7) Bilde der himmlischen Weisheit. Hienieden bleibt zwar Glaube, Hoffnung Liebe. Aber dort wird der Glaube zum Schauen, und die Hoffnung stirbt in der Befriedigung. Nur die Liebe bleibt ewig, ganz und wesentlich wie sie ist. Denn Gott, der Unvergängliche, ist die Liebe, und die Liebe ist wesentlich von Gott, aus Gott. In Gott ist nicht Glaube und Hoffnung, sondern die Liebe. Man kann nicht sagen: Gott glaubt, genau genommen auch nicht: Gott hofft. Aber Gott liebt. In der Liebe bin ich teilhaftig der göttlichen Natur; in der Liebe, aber durch den Glauben. Die Liebe ist Seligkeit, der Glaube erlangt Seligkeit. O Herr, ich bitte dich um Glauben, durch den der Mensch selig wird und zu der Liebe gelangt, in der er selig ist.